Wenigstens | Januar – März 2022
17. Januar
Gespräche über den Aufmarsch der russischen Armee an der ukrainischen Grenze. Keiner erwartet einen Angriff oder ähnliches. Aber die hunderttausend Soldaten stehen dennoch dort, wozu, wenn nicht?
24. Januar
Ein Marinegeneral, der erklärt, dass Russland die Ukraine nicht angreifen werde und man Putin Respekt erweisen solle, tritt ab. Dabei spricht er mit seiner Aussage die offizielle Sprache; die Ukraine nicht zu unterstützen.
9. Februar
Putins Yacht, die seit September in einer Hamburger Werft überholt wurde, hat, so wird es geschrieben, überstürzt den Hafen verlassen und soll Kurs auf Kaliningrad genommen haben. Ein Hinweis?
12. Februar
Die Diskussion über einen möglichen Angriff Russlands auf die Ukraine ähnelt nun der Diskussion über Coronamaßnahmen, was Intensität der Diskussion angeht, auch Absolutheit der Meinungen. Die Krise in Osteuropa erhält einen eigenen Newsticker, so, wie es ihn für die Pandemie seit zwei Jahren gibt.
15. Februar
Die USA kündigte an, dass Putin gestern habe angreifen wollen. Er greift nicht an. Eine selbstzerstörende Prognose?
19. Februar
Weiterhin unwirklich, am Vorabend eines Krieges zu sein: Menschen werden evakuiert, Botschaften verlegt, Fluglinien setzen Flüge aus, Gefechte »flammen auf«. In der Summe eine eindeutige Dynamik, die Hoffnung, ein Irrtum.
22. Februar
Putin lässt seine Soldaten in die Ostukraine einmarschieren, wie eine vulgäre Tat aus einem anderen Jahrhundert. Und doch geschieht es. Niedergeschlagenheit, weil der Krieg unabwendbar schien und scheint. Die Puzzlestücke aus den letzten Monaten fallen zusammen. Dennoch fällt es schwer, das Unvermeidliche auszusprechen, das Schlimmste anzunehmen, weil es unvorstellbar scheint, Krieg in der Ukraine. Livegetickerter Determinismus, das Wegrutschen der Gegenwart in Echtzeit, die eigene Ohnmacht alle fünf Sekunden aktualisiert. Nun die Soldaten, die beschossenen Kraftwerke, ukrainische Mütter, die ihren Kindern Zettel auf die Kleidung heften, auf denen die Blutgruppe geschrieben steht.
24. Februar
Invasion der Ukraine. Panzer, Raketen, Landetrupps. Putin, der in einer Rede sagt: »Wer auch immer versucht, uns zu hindern … sollte wissen, dass Russlands Reaktion schnell sein und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie gesehen haben.« Polen öffnet die Grenzen für die erwarteten flüchtenden Menschen, Ungarn schließt sie. Trump nennt Putin ein Genie. Bis Mittag Radio hören. Dann abschalten. Wieder einschalten, hören, schauen, klicken. Irreal ist ein Wort, das ich oft verwende, irre, unwirklich. Große Traurigkeit, weil klar ist, wie viel Leid aus diesem Tag entstehen wird. Noch eine Realität, die sich auftut, ein Abgrund.
25. Februar
Was für unzureichende Worte kann ich finden angesichts der Nachrichten aus der Ukraine – Häuserkampf in Kiew, selbstgebastelte Molotowcocktails gegen russische Panzer, Väter, die sich weinend von ihren Kindern verabschieden, 20.000 Maschinengewehre, die Zivilisten ausgehändigt werden, erhöhte Strahlungswerte im eroberten Tschernobyl, Metrostationen, in denen Menschen Zuflucht suchen, Raketensperrfeuer, Deutschland, das 5.000 Helme Richtung Osten schickt.
26. Februar
Nach dem Aufstehen zuerst prüfen, ob Kiew noch in den Händen der Ukraine ist. In einem Video fährt ein Ukrainer an einem liegengebliebenen russischen Panzer vorbei, ruft: Kann ich euch zurück nach Russland mitnehmen? Die russischen Soldaten lachen. Ähnliche Videos kursieren, ukrainische Traktoren, die russische Panzer abschleppen. Humor im Krieg, irritierend, auch tröstlich.
27. Februar
Auf dem Spielplatz spricht ein Vater am Smartphone lautstark über die Ukraine. Ich bin unangenehm berührt. Er sagt sein Wissen auf, ein ähnliches Wissen, wie das, über das ich verfüge, ein Mutmaßen, ein Nacherzählen von TikTok-Videos. Was der Vater sagt, sagt er mit Überzeugung. Dabei wissen wir alle nichts. Wir kennen Meldungen. Eine Meldung, dass Putin seine Atomwaffen in Bereitschaft versetzt haben soll. Am Nachmittag eine Rede des Kanzlers eines Landes, das bis vor kurzen Waffen an Putin verkauft hat. 100 Mrd. für die Bundeswehr, nicht Geld allein, vor allem Symbol. Am späten Abend ein langes Telefonat, in dem wir die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges erörtern. Vollkommen irreal. Die letzten Tage haben einen wahnsinnigen Möglichkeitsraum eröffnet. Danach in der Arte-Mediathek die Serie Diener des Volkes sehen, in der Wolodymyr Selenskyj als Geschichtslehrer zum ukrainischen Präsidenten gewählt wird.
28. Februar
Lese in einem Text von Yuval Noah Harari: Gorbatschow habe die Russen und Ukrainer zu Geschwistern gemacht, Putin mache sie zu Feinden. Außerdem: Eine Nation werde nicht mit Panzern gebaut, sondern mit Geschichten. Welche Geschichten dringen durch zu mir? Geschichten vom ukrainischen Präsidenten mit Smartphone, Menschen, die sich Panzern in den Weg stellen, die »Russian warship, go fuck yourself«-Soldaten vor der Schlangeninsel. In deutschen Fernsehstudios moderiertes Sprechen über den Krieg. Als könnte man über Krieg sprechen.
1. März
Raketen auf den Freiheitsplatz in Charkiw, Selenskyj erklärt, dass später einmal alle Plätze in der Ukraine so heißen werden. In Kiew wird der Fernsehturm beschossen, Raketen fallen auf Babyn Jar, eine Holocaust-Gedenkstätte. Ein 60km langer russischer Militärkonvoi unterwegs Richtung Kiew. Ein russischer Dirigent mit engen Verbindungen zu Putin wird in München entlassen. Ein Restaurant verbietet Menschen mit russischem Pass den Zutritt. Ich schreibe nicht russischer Krieg, sondern Putins Krieg. Um die Bindung des Schrecklichen an ein Volk zu vermeiden. Doch wo beginnt Schuld? Was ist mit denen, die Putin gewählt haben? Die jetzt nicht auf die Straße gehen? Wie leicht ist das für mich zu sagen, wie wenig weiß ich über all das Bescheid?
Gespräche über die Friedensbewegung und die Wahrnehmung einer atomaren Bedrohung. Auch im Unterschied zu meiner Wahrnehmung, der ich bewusst als erstes politisches Ereignis den Mauerfall erlebte, eine Entspannung anstatt einer Zuspitzung. Ebenfalls Gespräche über die besondere Beziehung der DDR zur Sowjetunion und wie diese Zeit bei vielen bis heute den Blick auf Russland lenkt, wie schwer es sein kann, angesichts des von Russland begonnenen Krieges eine neue Bewertung vorzunehmen, die Erinnerungen, die Reisen, das Erlebte mit der Aggression, dem Krieg, dem Leid in Einklang zu bringen.
2. März
Videos von Ukrainerinnen, die die einzige Straße zu einem Atomkraftwerk vor russischen Panzern schützen. Das eingekesselte Mariupol. Das Video von dem sehr jungen russischen Soldaten, den Ukrainerinnen Tee geben und das Smartphone halten, damit er mit seiner Mutter sprechen kann. In Weimar wird der Sowjetische Friedhof für verstorbene Angehörige der Roten Armee mit den Farben der ukrainischen Fahne besprayt. Der unmittelbare Schock des Kriegsbeginns ist vorbei. Eine Art Gewöhnung tritt ein, Gewöhnung an die zerschossenen Häuser. Das Schreckliche ist geschehen, geschieht weiterhin, nun braucht es besonders Schreckliches, um aus dem Strom der Kriegsinformationen aufzuschrecken. Die Diskussionen, die hier geführt werden, haben weniger mit dem Krieg zu tun als mit den Folgen für »uns«. Die Takes sind: Jetzt kommen die guten Flüchtlinge. Wehrpflicht, pro/kontra. Nach sieben Tagen schon dieser Zustand.
3. März
Heute weniger Berichte von der Front (wie irreal weiterhin, von einer Front zu schreiben). Dafür Bilder von Geflüchteten; auf den Bahnhöfen stehen die Einheimischen mit Schildern, auf denen sie die Ankommenden einladen, ihnen ein Dach anbieten. Ebenfalls eine entgegengesetzte Bewegung. Männer, die Richtung Ukraine ziehen. Freiwillige machen sich auf den Weg in den Krieg. Es wird normal, Männer in Uniform zu sehen. Ist das die Zukunft, diese moralisch legitimierte Militarisierung? Den Pazifismus angesichts rollender Panzer notgedrungen und verzweifelt auszusetzen?
Mehr Blicke richten sich auf Russland. Eine Überlebende der Leningrader Blockade protestiert gegen den Krieg, wird festgenommen. Apple setzt den Verkauf seiner Produkte aus, ein Russe zerschlägt daraufhin in einem Video seinen iPad. Das Wort »Krieg« wird verboten, ersetzt werden soll es mit »Militärische Operation«. Militärische Operation und Frieden kursiert als Meme. Wer in Russland gegen den Krieg protestiert, dem drohen fünfzehn Jahre Haft. Macron, Präsident eines Landes, das bis 2020 Waffensysteme an Putin lieferte, spricht mit Putin, sagt hinterher: Das Schlimmste kommt erst noch.
4. März
Russische Soldaten beschießen das größte Atomkraftwerk Europas. Weiterhin das Feuer über Mariupol. Das Foto von 18jährigen ukrainischen Jungs, die nach drei Tagen »Training« in den Kampf geschickt werden, Gewehre über ihren Schultern. In Metrostationen bauen Kinder Pistolen aus LEGO. Bilder von Vätern, die ihre Kinder und Frauen zum Bahnhof bringen und in Zügen Richtung Westen verabschieden. Ein Vater steht mit einem Spielzeugkrankenwagen in der Hand, sein Sohn hat es ihm gegeben, es soll ihn heilen, wenn er verletzt wird. Das alles ist nicht zu ertragen. Ich flüchte in sogenannte geostrategische Betrachtungen des Krieges, versuche zu ergründen, wie Putin »tickt«, irgendwie rational zu sein.
5. März
Russische Kampfflieger, die bei freier Sicht in Wohnhäuser schießen. Putin, der mit Stewardessen spricht und dabei angeblich vor einem Greenscreen sitzen soll. Putin, der angeblich Moskau verlassen haben soll. Russen, die aus Russland fliehen, weil sie die Mobilmachung fürchten. Journalistinnen, die die Berichterstattung aus Russland aufgrund der neuen Gesetze abbrechen. Der ukrainische Präsident, der auf einer Leinwand übertragen vor 100.000 Menschen in Prag und Tiflis spricht. Belgrad, wo Pro-Putin demonstriert wird.
Heute in Weimar eine Demonstration gegen den Krieg, organisiert von Kindern. Viele Menschen auf dem Bahnhofsvorplatz, das Laufen zum DNT. Viel Blau-Gelb, viele Friedenstauben. Es hat etwas Anrührendes und unendlich Trauriges, wenn Kinder Schilder hochhalten, auf denen steht »Frieden« oder »der böse Mann soll aufhören böse zu sein«. Weil es so einfach ist und zugleich nicht, naiv und nicht, hilflos und nicht, wichtig ist es und die Eltern haben die Worte aufgeschrieben und erklärt, es geht darum, unter vielen zu sein, die das Gleiche wollen, Frieden. Frieden wollen, immer, jeder, jede, gerade jetzt, was sonst. Und was noch? Reicht es, Frieden zu wollen? Wie erklärt man Krieg? Den Kindern? Sich selbst?
6. März
Familien erschossen bei der zugesicherten Flucht. Ein Foto, wie Flüchtende unter einer zerstörten Brücke bei Kiew gedrängt stehen, warten, dass sie in einer Feuerpause weiter gewunken werden. In Russland durchsuchen Polizisten Handys von Passanten. Z als russisches Symbol des Krieges, wie ein Hakenkreuz, Schwarzgekleidete mit dem Z, stampfend, wütend, die Gesichter hassverzerrt, krebskranke Kinder vor einem russischen Hospiz, die das Z in einer Menschenkette formen müssen. Was vollkommen untergegangen ist in den letzten Tagen: der verheerende Klimaschutzbericht der UN.
7. März
Ein ukrainisches Mädchen singt in einem Bunker Let it Go. Russische Soldaten beschießen eine Brotfabrik. Russland bietet Fluchtkorridore an, die nach Russland oder Weißrussland führen.
8. März
In Mariupol meldet die Stadtverwaltung, dass ein sechsjähriges Mädchen unter den Trümmern eines zerstörten Hauses verdurstet sei. Ein ukrainisches Blasquartett spielt vor einer Straßenbarrikade Don’t Worry Be Happy. Der Putin Pub in Jerusalem benennt sich um in Zelensky Pub. Der Patriarch der orthodoxen Kirche Russlands sagt, dass die Gay-Pride-Paraden in der Ukraine Grund für die Invasion seien. In Deutschland wird gewarnt, dass Gewalttäter die ankommenden Frauen und Kinder in ihre Wohnungen nehmen könnten.
Gespräch über die verminten Fluchtkorridore. Ist es möglich, dass die Ukrainer die Minen legten, bevor der Weg Fluchtweg wurde, um die Russen zu treffen? Oder die Russen verminten, um Zivilisten zu töten? Was ist geschehen, wie ist es geschehen, was ist Versehen, was Missverständnis, was zielgerichtete Desinformation? Ich lese hauptsächlich von der ukrainischen Seite, sehe dort die Bilder der zerstörten russischen Panzer, die gefeierten Erfolge, die Traktoren, die Armeefahrzeuge abschleppen. Das ist, was ich sehen möchte. Was auch sonst? Wieso sollte mich die russische Seite interessieren? Wieso sollte ich objektiv sein wollen? Objektiv? Wie soll das möglich sein? Objektiv ist: Putin greift die Ukraine an. Alles, was in diesem Krieg geschieht, ist Folge dieser Tat. Das ist der einzig objektive Blick.
9. März
In Mariupol wird ein Krankenhaus angegriffen, eine Schwangere läuft mit blutendem Gesicht aus dem Gebäude, eine andere Schwangere liegt blutend auf einer Trage. Die Stromleitungen bei Tschernobyl zerstört. Das schwarzweiße Bild eines Bahnsteigs in der Ostukraine, vollkommen überfüllt mit Menschen, die Diskussion, ob das Schwarzweiße die Situation unnötig dramatisiert. Ein Mann steht vor seinem zerbombten Haus, sagt, dass unter den Trümmern seine Frau und seine 12jährige Tochter liegen, zerquetscht, die Tochter im Rollstuhl, sie hat es nicht rechtzeitig hinausgeschafft … ich weiß nicht, weshalb ich jeden Tag diese furchtbaren Aufzählungen notiere. Das Leid ist fern, es geschieht nicht mir. So viel Leid zugleich in der Ferne. Wie wähle ich aus, was mich beschäftigt, berührt, entsetzt? Bekannte sagen: Über die verhungernden Kinder in Jemen sprechen wir nicht. Sie haben recht. Dennoch notiere ich über die Ukraine, nicht den Jemen.
Andere Bekannte, die »die andere Seite« hören wollen, nicht nur, was die »Mainstream-Medien« über den Krieg berichten, auf Artikel verweisen, die besagen, dass die russische Armee keine Zivilisten angreife, der Westen Russland in eine Falle gelockt und zu diesem Krieg gedrängt habe und mit seinen Waffenlieferungen aufhören solle, weiter an der »Spirale der Gewalt« zu drehen. In solchen Gesprächen über den Krieg wird der Wunsch nach einer alternativen Berichterstattung deutlich, der Wunsch, Erzählungen zu finden, die den Mehrheitsberichten widersprechen. Ich verwende zu viele Gedanken daran, wie sich gegen ein solches Sprechen ansprechen lässt, vielleicht, weil die Hilflosigkeit, die Wut so irgendwo hinfließen kann. Wenn ein Krieg beginnt, wird üblicherweise zitiert: Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Dabei gibt es immer eine Wahrheit. Und immer ist sie schon vorher gestorben. Besonders in diesem Krieg.
10. März
Die russische Armee erklärt, dass sich im bombardierten Krankenhaus in Mariupol das rechtsextreme Regiment Asow aufgehalten haben soll. Deshalb der Angriff. Auf Instagram wird eine der fotografierten Hochschwangeren – ihr Name ist Marianna – beschimpft. Sie wird Schauspielerin genannt. Russische Berichte, dass die Ukrainer in Laboren biologische und chemische Waffen entwickeln.
11. März
Weiterhin Diskussionen über die Echtheit des Angriffs auf das Krankenhaus in Mariupol. Die russischen Bots bei Twitter explodieren mit der Erzählung eines Fakes. Wie wahrscheinlich, dass die Ukrainer eine solche Täuschung inszenieren? Wie wahrscheinlich, dass die russische Armee bombardiert? Was glaube ich? Muss ich glauben? Muss ich zehn Tage recherchieren, um die Geschichte als wahr oder unwahr zu klären? Was bleibt davon im Kopf? Reicht es zu denken: Im Krieg lügen immer alle und man dürfe nichts glauben? Wem wäre mit dieser Schlussfolgerung geholfen?
12. März
Wie kann es sein, dass Städte, die vor siebzehn Tagen Städte waren, heute Symbole der Zerstörung sind, des Furchtbaren, der Grausamkeit, Charkiw, Mariupol, zwei Wochen liegen dazwischen. In Russland wird eine Frau abgeführt, die ein weißes Blatt Papier hochhält. Ein Antikriegsplakat besteht aus acht Sternen, sie ersetzen нет войны, kein Krieg. Marianna aus Mariupol bringt nach dem Angriff auf das Krankenhaus eine Tochter zur Welt, nennt sie Viktoria, nach der Göttin des Sieges.
13. März
Mittlerweile schaue ich morgens nicht mehr zuerst, ob Kiew noch ukrainisch ist. Das Mädchen, das Let It Go im Bunker gesungen hat, ist in Polen angekommen.
14. März
Die Hochschwangere aus dem bombardierten Krankenhaus in Mariupol, lila Pullover, auf einer Trage zwischen den Trümmern nach draußen gerettet, hält sich ihren Bauch, Blut an ihrem Bauch. Ihr Kind wird in einem anderen Krankenhaus mit Kaiserschnitt auf die Welt gebracht, keine Lebenszeichen. »Tötet mich«, ruft sie den Ärzten zu. Kurz darauf stirbt sie an ihren Verletzungen, den Quetschungen. Ihr Mann, der Vater holt die beiden Leichname. Das Krankenhaus erklärt: Damit seien die beiden wenigstens dem Schicksal vieler anderer Todesopfer entkommen, in einem der Massengräber zu landen. Wenigstens steht dort, wenigstens.
Trypophobia
Am Strand von St. Pete finde ich eine Muschel, deren Gehäuse mit vielen kleinen Muscheln besetzt ist. Wie leere Augen starren sie zurück. Ein Schaudern überkommt mich, wenn ich eine Metapher verwenden wollte, dann die einer Gänsehaut, die sich innen kräuselt, mehr noch ein Gänsehauttier, das mit weichem Flaum langsam meinen Körper entlangwandert und sich in meinem Kopf einnistet und auf jede Nervenzelle eine Hand mit kaltem Pelz legt. Keine Augen sind es, die mich anstarren, ich starre in Löcher, winzige Löcher.
Ich google »Angst von kleinen Löchern« und finde das Wort »Trypophobia«: die Angst vor unregelmäßigen Löchern in natürlichem Gewebe, asymmetrische Cluster, Einzelteilchen, die als ein Ganzes betrachtet werden könnten, Waben, Poren, Schwämme. Ursache des Ekels könnte die Urangst vor giftigen Tieren sein, die durch bunte Farbmuster warnen – der blaugeringelte Kraken – oder die Furcht vor Parasiten und Krankheiten, welche die Haut befallen und sie durchlöchern, pockenartige Objekte, vielleicht das Internet, wenn das Sprechen über die Bilder erst die unangenehmen Assoziationen weckt, eine Art Priming.Am stärksten reagiere ich auf das Bild einer Kapsel mit Lotussamen, eine Erdbeere, deren Kerne grün sprießen, die Suranim Kröte, auch bekannt als Wabenkröte, aus deren Rücken Krötenbabys schlüpfen.
Ich schaue und schaudere, empfinde intensive Abscheu, die mich zwingt, weiter zu starren, weitere Bilder zu suchen, später Videos von Wasserkäfern, Maden aus Löchern kriechend, verkrusteter Schlamm, Bienenwaben, immer wieder Pflanzen mit Lochmustern.Das Unwohlsein ist umfassend und doch genieße ich die schauderhafte Empfindung, flüchte nur widerwillig davor, selbst wenn ich weiß, dass das Fokussieren darauf erst recht die Phobie wachsen lässt und ich bald in allem, was mich umgibt, diese Muster finden werde, in harmloser Raufasertapete, Regentropfen an Fenstern, dem Querschnitt eines Brokkoli, Granatäpfeln, Insektenhotels, wenn ich voll und ganz ein Trypophobiker geworden bin.
Alexander Gauland badet im Heiligen See
Auch wenn es den Klimawandel nur in den Fieberträumen linksversiffter Systemlinge gibt, ist der Tag doch recht mollig, denkt Alexander Gauland und zieht sich aus. Er steht am Ufer des Heiligen Sees. Gleich wird er den Körper in das kühle Nass tauchen und ein paar Runden im Wasser drehen. Das braucht er jetzt. Den Kopf mal freikriegen.
Die letzten Tage waren turbulent. Erst der Vogelschiss-Kommentar. Das lief nicht gut. Eigentlich wollte er ja Fliegenschiss sagen. Im Deutschen nennt man unbedeutende Kleinigkeiten Fliegenschiss. Nicht Vogelschiss. So geht die Metapher nicht auf. Alexander ärgert sich. Dabei gehört das Deutsche doch seinen besonderen Skills.
Er schmunzelt. Egal. Haben dennoch alle verstanden, deutsche Sprache hin und oder. Der Frank hat ihn daraufhin aus der Talkshow verbannt. Den Björn auch. Naja. Auch egal. Frank hat ja was zu den Zugewanderten, also Nichtdeutschen, also Ausländern, also Muslimen als Kriminelle gemacht. Und die Maischberger fragt direkt nach der Houellebecq-Verfilmung, ob wir den Islam tolerieren dürften.
Wieder muss Alexander schmunzeln. Rhetorische Frage natürlich. Geht ja eigentlich um das wir. Wir gegen die Nichtdeutschen. Also den Islam. Wenn die schon so anfangen, da muss er auch nicht mehr zum Frank oder der Sandra. Da kann er auch schwimmen gehen im Heiligen See.
Das Wasser ist angenehm. Kühl, aber nicht kalt. Erfrischend eben. Das tut gut. Er ist schon einige Meter vom Ufer weg, als er sieht, wie sich jemand bei seinen Sachen zu schaffen macht. Ein Fremder greift Hose und Hemd und läuft weg. Alexander begreift, dass er gerade bestohlen wurde. Und begreift, dass er nun wie eine lächerliche Gestalt in einer Heinrich-Zille-Zeichnung aussieht: ein alter Mann, dem beim Baden die Kleidung geklaut wird.
Als er am Grünen Ei, dem schmalen Seezugang zwischen den Potsdamer Villen, wieder an Land steigt, haben die anderen Badegäste schon die Polizei gerufen. Der Dieb hat wohl »Für Nazis ist hier kein Badeplatz!« gerufen. Ein politischer Hintergrund also. Bestimmt die Antifa. Der Staatsschutz wird sich einschalten. Viel gravierender aber: In der gestohlenen Hose war der Hausschlüssel. Die ganze Schließanlage muss er jetzt auswechseln. Der Fraktionschef schüttelt den Kopf. Häme wird er dafür kostenlos kriegen, so hier in den braunkarierten Badeshorts als Pinselheinrichwitzfigur.
Dann schmunzelt er. Naja. Auch egal.
Kadya #4
Sderot Yerushalayim. Im zwölften Stock wohnen wir, der Fahrstuhl hält in jeder zweiten Etage und ist mit einem Ventilator ausgestattet. Die Klimaanlage funktioniert in einem Zimmer allein, was ungünstig ist angesichts einer Hitzewelle, die tagsüber bis zu 36 Grad bringt. Von neun bis dreiundzwanzig Uhr sind wir üblicherweise unterwegs. Der Plan, währenddessen Durchzug durch geöffnete Fenster zu erzeugen, scheitert an den in die Zimmer fliegenden Tauben. Nachts kräht ein Hahn lauter als die Müllabfuhr, von der See kommt ein leichter Wind auf.
Kadya #6
Der Hafen Jaffas, nahe der historischen Altstadt. Viel dieses Viertels wurde von den Briten zerstört, die so Kontrolle über die aufständischen Einheimischen erlangen wollten. Heute wird hier vornehmlich gegessen. Schiffe legen an, auf einem hat ein alternder Playboy ein Sofa platziert und lädt dort sitzend hübsche, junge Frauen an Bord.
Von da aus die Promenade entlang. In der nahen Ferne die Skyline von Tel Aviv, die Hochhäuser, von denen noch die Rede sein wird. Die Brandung tobt, das Mittelmeer ist eine See, sie zieht die Unvorsichtigen mit Kraft zu sich.Wellen also, darauf zeitweise alle paar Meter Surfende. Das Wasser hat die Wärme der letzten Tage gespeichert, viele Quallen spült es in den Sand, oft greifen Hände danach und werfen sie ähnlich einem Spiel zurück in die Gischt.
Wenn es dunkel wird, treten aus dem Himmel die Lichter der auf den Flughafen Ben Gurion hinabsinkenden Flieger, allesamt auf einer Linie reihen sie sich hintereinander ein, das Blinken wie ordentliche Leuchtkäfer. Auf den Rasenstreifen neben der Promenade Plastikstühle, Grille, der Geruch von Fleisch, E-Bikes umkreisen verliebte Schlendernde.Später in der Nacht walzt ein Traktor den Sand entlang, trägt den Müll des Tages fort. Über einem Boot steigt ein Leuchtfeuer hoch, doch ist niemand beunruhigt, hier am Wasser.
Kadya #10
Jerusalem. Der Kadyachor betritt die Altstadt durch das Damaskustor. Dahinter passiert so viel gleichzeitig, unmöglich ist es, mehr als Fetzen wahrzunehmen: Da ein Stand mit Minnie-Maus-Handyhüllen, dort einer mit Kopfbedeckungen, Dutzende mit frischgepressten Säften, Gewürze natürlich, T-Shirtstände, Motive sind Frozen, Spiderman, Arafat, oft das Gebiet Israels mit der Fahne Palästinas bedeckt. Durch die engen, abschüssigen Gassen schieben sich Touristengruppen, Flaneure, Einkäufer, Motorräder, Kinder auf Fahrrädern hupen sich selbstbewusst Wege frei. Wer stehenbleibt, sollte es aus Überzeugung tun.
Je näher wir einer drei heiligen Stätten kommen, desto größer die Dichte von Reliquientrödel. Wir wollen zur al-Aqsa-Moschee, unser Guide hat einen Zutritt organisiert, in unserer Gruppe sind Muslime, Juden, Katholiken, Protestanten, Atheisten. Die Hände der israelischen Mädchen greifen wie selbstverständlich nach Kleidungsstücken, die das Haar bedecken, für die deutschen Mädchen sind es ungewohnte Bewegungen. Als die weiblichen Haare bedeckt sind und die männlichen nicht und wir so vor die Soldaten treten, die die Tür, das Gate, bewachen, werden wir abgewiesen, was vielleicht an uns, dem so offensichtlichen Filmteam liegt, vielleicht an anderen Gründen, ganz klar wird das nicht.
Auch der Zugang zur Klagemauer wird uns verwehrt, die Sicherheitskontrolle dort ähnelt der am Flughafen Ben Gurion. In die Grabeskirche gelangen wir, Gruppen tragen Holzkreuze durch Weihrauchdampf. Vor dem Golgotafelsen werfen sich Menschen auf den Boden, küssen dem Stein, mehrmals, machen Selfies davor, zünden Kerzen an, die ein Verantwortlicher im Gewand alle paar Minuten ausbläst und abräumt.
Der zweite Versuch an der Klagemauer klappt, es hilft, dass eine der arabischen Kadyas ihre traditionelle Kopfbedeckung abgelegt hat. Vor der Mauer ist der größere Teil den Männern vorbehalten, die Frauen werden von ihnen separiert. Eine der deutschen Kadyas weiß nichts von dieser Trennung. Also geht sie auf die Männerseite, niemand bemerkt sie dabei. Dort steht sie, auf dem Platz ohne Schatten. Über KADYA
Von der Abschaffung
Eines der traurigen Bilder des frühen 21. Jahrhunderts ist das von Supermarktkassiererinnen, die Supermarktkunden die Funktionsweise von Selbstbedienungskassen erklären.
Eines der natürlichen Bilder des frühen 21. Jahrhunderts ist das von Männern, die nachts in der Straße Müll oberkörperfrei sortieren: Plastik zu Plastik, Papier zu Papier, Bio zu Bio.
Lavawelt
Wir sind am Feuer und überlegen, ob wir, wenn wir jetzt in Berlin wären, mehr zu beschreiben hätten. Dieser Baum zum Beispiel: Passiert da nicht genauso viel wie gerade am Alexanderplatz? Unter der Rinde die Vorgänge, das Wachsen, die Tiere, das Moos, die Pilze, das Fließen der Säfte, das Knospen der Blätter, die Zweige im Wind? Und erst das Feuer? Alle Lavawelten in einem Areal von ein mal einem Meter. Als wir später, um die Glut zu löschen, Wasser aus Mineralwasserflaschen darüber geben, schält sich ein neues, ein unerwartetes Geräusch aus dem Feuer, fast so, als ob Regen tropft, klingt es nun, ein letztes Räkeln in der Nacht.
Gefahren
In ausgedachten Geschichten so wie dieser kann ich die Gefahr suchen. Im wirklichen Leben besser nicht. Das wirkliche Leben lässt keine nachträgliche Korrektur zu. Was mir alles drohen könnte auf Sommerfrische im Salzkammergut: ein falscher Tritt und daraus folgend ein tödlicher Sturz. Steinschlag von der Felswand. Eine Lawine. Ein Zeckenbiss, der in einem halben Jahr für eine Hirnhautentzündung sorgen könnte, denn das Salzkammergut ist erhöhtes Risikogebiet. Die Salzkammergutbahn könnte mit mir darin entgleisen. Ein Ausflugsboot könnte kentern und ich würde im Mondsee ertrinken, ein Ortsname, der sich poetisch in meiner Traueranzeige machte, aber existenziell unvorteilhaft in der Vita. Höhensonnenbrand mit Spätfolgen. Lebensmittelvergiftung durch zu viel Gulasch. Angriffe durch aggressive Kuhherden, die nachweislich jedes Jahr mehrere Wanderer zu Tode bringen. Einen anaphylaktischen Schock durch einen Hornissenstich. Fuchsbandwurm durch das Verspeisen von Himbeeren am Wegesrand. Herzinfarkt aufgrund der ungewohnten Anstrengung. Hitzeschlag. Die Möglichkeiten, Opfer eines tödlichen Unglücks zu werden, sind auf Sommerfrische nahezu unendlich, größer jedenfalls als in einem Hotelzimmer. Ich bezweifle, dass das Risiko zu Sterben einen möglichen Gewinn durch Erholung aufwiegt.
RAM
Eine Stunde später habe ich schon vergessen, was mich eben noch begeistert hat. Das Wissen flüchtet, es rinnt aus mir heraus. Platz wird geschaffen. Ich bin ein RAM-Speicher und deshalb in der Lage, ständig neu von der Welt um mich herum beschrieben zu werden. Notiere ich nicht, was ich eben für bedeutsam hielt, ist es unwiederbringlich verloren. Nichts wird je den Moment und meinen Standpunkt dazu rekonstruieren können.
Kulisse
Was mir geschah, gefiel mir. Es war beruhigend. Ich wusste nichts von dem, was hinter den Kulissen geschah. Kulisse war alles. Die Häuser. Die Fenster. Die Keller, die Dachböden. Dahinter geschah immer etwas. Es ging mich nichts an. Es interessierte mich dennoch. Wen sollte ich dazu befragen? Wer würde mir antworten? Wer würde mir antworten, wenn er wüsste, dass ich darüber schreiben könnte?
Ranzen
Ich sehe die Kinder mit ihren schweren Ranzen. Manche sind in Gruppen, andere stehen einzeln. Alle Kinder, so jung sie auch sind, kennen diesen Ort besser als ich. Er ist ihre Welt. Sie nehmen an, dass er die Welt wäre. Der Rasen, der Spielplatz, der Beton, die Verbotsschilder, die Wäscheleinen, die Enten, die faul und platt am Morgen auf den Wiesen liegen, das alles ist ihnen selbstverständlich. Sie hinterfragen nicht. Sie nehmen an, was sie umgibt. Für die Widersprüche, das Absurde, das Falsche, das Richtige haben sie noch keine passenden Worte. Aber sie fühlen alles.
Volksfest
Volksfest. Hier findet sich Erlösung nur in fettigen, industriegefertigten Käsespätzle. Am Markt werden sämtliche Altersgruppen eines Rundlaufes ausgezeichnet. Der Ort nimmt gelangweilt bis ergriffen daran Anteil. Auf der Bühne ähnliche Figuren wie überall, nur dass sie mir hier persönlich unbekannt sind. Die Funktionen hingegen sind die gleichen: der hemdsärmlige Bürgermeister, der solide Sparkassenvorstand, der hyperventilierende Moderator, der dynamische Sportvereinsvorsitzende etc. Männer eben. Städtchen eben. Systeme eben. Kindergangs rotten sich vor Zuckerwatteständen zusammen, die Eltern hauen sich Brathendlflügel rein. Alles ist heiß und glüht und ein Toilettengang kostet 50 Cent. Auch mit veganem Eis im Fegefeuer.
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