Narrative


1. Dezember | Narrative

Gerade wieder Zeit der Narrative. Ein Begriff wie ein Zaubertrank in jedem Strategie-Meeting, Füll-, Über-, Summwort. Dabei ist es gar nicht so unwichtig, dass Narrativ. Auch wenn ich beginne, Geschichten zu schreiben, ist eine der ersten, vielleicht die schwierigste Frage nicht die, was passiert, sondern: Wer erzählt denn mit welchem Blick darüber? Auch die Frage: Was weiß meine Erzählerin nicht von der Geschichte und soll die Leserin wissen, was sie nicht weiß? Das Narrativ als Entscheidung über die Perspektive, die ja maßgeblich die Wahrnehmung bestimmt, damit mein Fühlen, Denken, Reaktion, Aktion.

Auch in der Politik das Narrativ. Über das Scheitern der Ampel ließen sich verschiedene Narrative finden; Leitmotive, anhand derer sich alle Ereignisse der vergangenen drei Jahre erzählen (und erklären) ließen. Die Weltlage Zeitenwende hat so und so viel Druck ausgeübt, deshalb das Scheitern. Der Kanzler vom Typ her nicht für eine Führungsrolle geeignet. Um erneut an der Macht bleiben zu können, hat die SPD ihre sozialen Werte verraten. Die FDP war von Anfang an auf Disruption aus. Die Grünen sind eine Partei von inkompetenten / staatsgefährdenden / lachhaften Politiker*innen. Demokratie an sich ist zum Scheitern verurteilt etc. (Medien, weltweiter Rechtsruck, Schuldenbremse…) Lauter Perspektiven, die sich einnehmen lassen, die eingenommen wurden und mal mehr qualitativ, mal mehr quantitativ verbreitet und inhaliert wurden.

Eine, wenn nicht die Stärke beim Erzählen von Geschichten ist es, dadurch mit anderen Augen auf die Welt schauen zu können. Figuren erzählt zu bekommen, an deren Leben, Gedanken, Fühlen teilzunehmen, deshalb beginnen zu verstehen, weshalb Figuren wie denken, fühlen, reagieren, möglicherweise auch Verständnis entwickeln, Empathie.

Wie wäre das im politischen Bereich? Dem Leben Christian Lindners in einem Kurzgeschichtenzyklus beizuwohnen und deshalb verstehen, weshalb er als Politiker agiert, wie er agiert? Olaf Scholzs JuSo-Jahre in tausend Seiten Autofiktion wie Karl Ove Knausgård und ihm darum als Kanzler nahe zu sein? Sich dabei fragen: Wo verlaufen die Trennlinien zwischen beruflich und privat? Wie soll das möglich sein? Auch noch in Echtzeit? Die Merkel-Biografie wirft sich erst drei Jahren nach ihrem Austritt aus der Gegenwart auf uns und versucht auf 700 Seiten eine Figur zu erzählen, so dass ich das Handeln der Figur verstehe. Aber verstehe ich? Komme ich näher?

Eine weitere Möglichkeit des Erzählens ist es, mehrere Figuren nebeneinanderzustellen.  Verschiedene Perspektiven und damit Narrative zu montieren, sie zu verknüpfen, übereinanderlaufen zu lassen, auch gegensätzlich zu gruppieren, so Widersprüche zu zeigen, ohne diese lösen zu wollen. Einfach zeigen: Ein Handlungsstrang, mehrere Beteiligte, mehrere Positionen.

Wenn in einer PowerPoint steht, dass man ein Narrativ setzen möchte, dann bedeutet das letztlich nichts anderes als: Deutungshoheit über diesen Strang. Narrativ = Kontrolle.

2. Dezember | *Record Scratch* *Freeze Frame*

Gerade wieder die Zeit, in der ich politische Talkshows als dysfunktional und kontraproduktiv empfinde. Gedacht, was wohl wäre, wenn man die Gesprächsrunde um den Mittag herum aufzeichnet. Anschließend prüft die bestens vorbereitete Redaktion einige Stunden lang jede in der Diskussion getroffene Aussage und versieht vage oder falsche Aussagen mit Anmerkungen, welche in der abends ausgestrahlten Sendung eingefügt werden.

Wenn also ein Diskutant kopfschüttelnd und empört etwas sagt wie: »Bürgergeld? Die Leute arbeiten nicht!«, dann *Record Scratch* *Freeze Frame* und Einblendung von Zahlen von Aufstockern, Schülern, Geringverdienern etc. Oder ein Diskutant fordert, dass Deutschland »kleines bisschen mehr Milei und Musk wagen« müsse, dann Information über Wahlkampfspenden oder StarLink oder einige ausgesuchte Tweets einblenden, und dazu den Anstieg der Armenquote in Argentinien seit Mileis Amtsantritt.

Und diese Information stehen lassen, so dass die Zuschauenden Gelegenheit haben, sie meditativ auf sich wirken zu lassen und danach erst weiter in der Diskussion. Dazu vielleicht die Neuerung, dass jeder Gesprächspartner und jede Gesprächspartnerin pro Jahr nur zu vier politischen Talkshows eingeladen werden darf, so dass die Alleserklärer abwägen müssten, in welchen vier Momenten sie zu welchem Thema ihre Stimme erheben, mehr nicht.

3. Dezember | Mondlabyrinthe

Über was schreiben? Wie der südkoreanische Oppositionsführer sein Klettern über den Zaun zum Parlament livestreamt, weil der Präsident das Kriegsrecht ausgerufen hat und Soldaten den Zugang zum Gebäude blockieren? Wie Joe Biden mit präsidentialem Recht seinen Sohn begnadigt, was in der Reihe von Trumps Nepotismen nicht weiter auffallen würde, aber dennoch Nepotismus ist? Über die Frau in den USA, die für ein Jahr ins Gefängnis muss, weil sie eine Katze essen wollte, der Vorfall, auf den Donald Trump mit »They eat our cats, they our dogs« Bezug nahm? Über diesen kaum zu ertragenden Text, in dem Ärztinnen und Ärzte aus Gaza berichten, über die Kinder aus Gaza, ihre Infektionen, ihr Blut, die Kugeln, die Minen, die Amputationen, die Quadrokopter, die Herzen, die Maden? Dass im Bautzener Kreistag ein Kreisrat der Freien Sachsen eine Kampf der Nibelungen-Jacke trug, als Beispiel für eine kleine Verschiebung, eine der vielen Normalisierungen? Dito bei der Schlagzeile: »Fremdenfeindliche Senioren schlagen in Zwickau auf Taxifahrer ein: Ausländer dürfen in Deutschland kein Taxi fahren.« Doch nachträgliche Gedanken zum gestrigen Take dysfunktionale Polittalkshows mit Rant gegen Arenen und einem Plädoyer für das Einzelgespräch? Oder den neuen Gedichtband von André Schinkel zitieren, Mondlabyrinth, Fahrt durch den Nebel, Unter den Lichtscherben . Einmal blicken wir auf … in ein Ungebrochenes Licht.

4. Dezember | eine Prise Disruption

Geht gar nicht darum, jeden Tag einen Eintrag zu Freien Demokratischen Partei Christian Lindner Libertären aus dem Meinungsbergwerk hervorzuholen. Aber konfrontiert mit seiner Aussage, mehr Milei zu wagen, antwortet er mit: »eine Prise Disruption … könnten wir schon brauchen.«, ein weiterer Schritt hin zu einer Normalisierung, zur Verschiebung. Und ja, Disruption ist schon ein Begriff, der mich in seinen Bann schlägt. Popkulturell inszeniert durch Edward Norton als disruptives Elon-Musk-Double in Glass Onion, bildlich charakterisiert durch die Kettensäge von Javier Milei. Und ja, in Gesprächen, auch in den Wutgesprächen, immer wieder der Wunsch nach dem Angehen von Grundsätzlichen, wenn man so will utopische Disruptionen oder Disruptionen, die eine Utopie schaffen sollen, in vielen Bereichen: Bildungssystem, Gesundheitswesen, Pflegesystem, Immobilien/Miete, Politik, Soziale Medien, Deutsche Bahn, der Wunsch, da ganz grundlegend auch mal nachzufragen und neuanzufangen. Aber freylich, die Prise Disruption, die Lindner meint, die Kettensägen-Disruption, die Disruption der Marktradikalen (heute die Zahl, 1% besitzen soviel wie 95%, welch so offensichtlich wahnsinnige, möglicherweise nicht mehr zu korrigierende Deformation), diese Prise bedeutet ja etwas ganz anderes, fragmentierte Ordnung, alles wegbolzen, was irgendwie heilend sein könnte, zur Billion disrupieren und muskieren.

5. Dezember | Der Thüringer Blumenwurf

Im Frühsommer sind Yvonne und ich losgefahren. Wir wollten, dass Leute Blumen werfen. Gegen das, was sie wütend macht. Damit war das Symbol von 2020 gemeint, der Blumenwurf gegen den gerade gewählten FDP-Ministerpräsidenten. Damit war aber auch das Gefühl gemeint, dass Wut gerade so bestimmend scheint für das Sprechen und Denken, gerade hier, da, wo wir leben.

Also: Blumen werfen und dann darüber sprechen. An einem Tisch mit feiner Decke, Blumen in Vasen, Kaffee und Kuchen, auf den Sitzen bequeme Kissen, nicht selten stand der Tisch in einer Blumenwiese, der Himmel war blau, die Sonne schien hell. Über Wut reden oder, in unserem Fall meistens, zuhören, wie andere darüber sprechen; was Wut für sie ist, wie sie damit umgehen, private Wut, Wut auf Politik, Krieg, Ost-West-Wut, Frauen und Wut und auch besprechen, was nicht wütend macht.

Die vielen Gesprächen haben wir in den letzten Monaten in Ruhe nachgehört und durchgeschaut. Und zu den Bereichen, in denen die Wut besonders vorkam, Passagen geordnet, dreizehn Kategorien mit unterschiedlichen Aussagen, manchmal einander bestätigend, manchmal verneinend, auch erweiternd und fragend.

All die Texte, viele Fotos und unsere Eindrücke sind auf dieser Homepage:

www.blumenwurf.de

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6. Dezember | Mammut

Vorgestern eine Lesung von Ines Geipel aus Fabelland. Sie liest Kapitel, in denen sie auch die Herkunft von Bildern und Symbolen, die für 34 Jahre Ostdeutschland stehen, hinterfragt, den Hungerstreik in Bischofferode beispielsweise. Wie so oft in ihren Texten zieht sie Linien weit in die Vergangenheit hinein, DDR, NS. Fragt, wie darüber gesprochen wird, was verarbeitet wird, schreibt von einer blockierten Auseinandersetzung in gleich zwei Diktaturgeschichten, schreibt, dass Generationen so trotz unterschiedlicher historischer Erfahrungen in der gleichen imaginierten Vergangenheit leben.

Das Erzählen also. Und, was sie auch beschreibt, wie u.a. dadurch Strukturen aufrechterhalten werden, auch ganz konkret am Beispiel Thüringens, wie Sprecherpositionen gestärkt oder verhindert werden, Linien, die sich unbeirrt durch die Jahrzehnte ziehen.

Und diese Linien sind es ja. Bei Bündnis Sahra Wagenknecht geht es deshalb nicht allein um den vermeintlich rationalen Austausch von Argumenten zu bestimmten Positionen (Welcher Frieden wäre der bessere: die Kapitulation vor Putin oder das Besiegen Putins?). Es geht darum, dass mit Wagenknecht die alten Kader wieder hervortreten, die alten Ideen und Ideologien Räume besetzen, sich die alten Strukturen revitalisieren.

Auch deshalb reagieren Menschen aus der Bürgerrechtsbewegung, Menschen, die damals flohen, so energisch auf das BSW: Weil mit Wagenknecht eine Umdeutung der Geschichte stattfindet, Unrechtes Gewicht bekommt, weil letztlich die Niederlage 35 Jahre später annulliert werden soll. Ähnliches bei der AfD, dort reichen die Linien noch weiter zurück, nicht zufällig die Korrelation, dass die AfD in Thüringen dort besonders stark ist, wo die NPD immer schon viel Zuspruch erhalten hat.

Im Vorgespräch berichtet Ines Geipel von der Lesereise, davon, wie sie in einer ostdeutschen Stadt mit Jüngeren sprach, benutzt das Wort »verwundet«, berichtet von einer Sprachlosigkeit zwischen ihnen und der Elterngeneration. Als ich sie später in der Moderation darauf anspreche, geht es auch um die Gegenwart (für sie beginnt die »gegenwärtige Gegenwart« 2015), auch da eine Unmöglichkeit, Unfähigkeit, miteinander zu reden, das zu thematisieren, was gerade geschieht, diese Brüche und Gräben, weil in diesen gegenwärtigen Jahren eben grundsätzliche Entscheidungen getroffen werden, auf die Spur welcher Linie man sich begibt.

Flashbacks zu Gesprächen aus den letzten Wochen, in denen Menschen, die verbeamtet sind oder die Aussicht haben, die Verbeamtung zu erhalten, darüber nachdenken, was es bedeuten würde, den Amtseid auf Björn Höcke schwören zu müssen. Ob ihnen das möglich wäre. Ob es den Kolleginnen und Kollegen leichtfallen würde, sich in diesen völkischen Apparat einzufügen, dafür zu sorgen, dass möglichst geräuschlos weiteradministriert werden kann. Weil das die Aufgabe wäre als Staatsdiener in einem solchen Staat: dafür zu sorgen, dass es reibungslos flutscht.

Und da zeichnen sich die Linien aus der Vergangenheit über die Gegenwart hinaus in die Zukunft; zukünftige Erfahrungen, welche die nächsten Blockierungen schon in sich tragen, die Entscheidungen, die jeder treffen muss, die kommende Schuld, die werdenden Täter, die zukünftigen Opfer. Die Linien in einem zeitenwuchernden Raum.

In »Fabelland« verwendet Ines Geipel das Bild des Mammuts. »Vielleicht ist das das Mammut, das Massiv. Die Angst, das Unwiderrufliche, das späte Trauma, die Abwehrformate. Der mit 1989 abgesenkte Nachhall. Das, was unter dem liegt, was wir Osteuropa nennen und nun 25 Jahre nach der Öffnung nach oben drängt. Das Unverstandene, das Derealisierte, das unermüdlich vor sich Hinarbeitende, als wäre keine Kraft mehr da für die Erstarrung […] Vielleicht erfasst das Mammut-Bild die Dimension nicht. Nicht das Unüberschaubare, Chaotische, Hochriskante, Destruktive, die vielen lose Fäden, die vielen losen Fäden, das Unverbundene im Danach, das Detonierte.« (Fabelland, S.256)

Was ich darin lese: Die Linien wachsen gerade jetzt weiter, jede Sekunde, die Schmelze längst begonnen.

7. Dezember | Doomscrolling KW 49

Wie russische Soldaten ihre Fähigkeiten trainierten, indem sie in der ukrainischen Stadt Cherson Zivilisten mit Drohnen jagen und töten. Wie China an Russland Kampfdrohnen, die über eine 2000 Kilometer-Distanz 50 Kilogramm Sprengstoff an die ukrainische Front fliegen können, liefert. Wie die ChatGPT-Firma Open AI KI-Systeme zur Drohnenabwehr entwickelt. Wie Elon Musk größter Einzelspender in der Geschichte der US-Politik ist. Wie islamistische Milizen auf Damaskus vorrücken, weil Putin Assad fallenlässt. Wie Wissenschaftlerinnen feststellen, dass die Vogelgrippe noch zwei Mutationen davon entfernt ist, auf den Menschen überzuspringen.

Was davon ist Doomscrolling, Brain Rot nach einer typischen 2024-Woche, ein Fiebertraum wie eine Verflechtung mehrerer dystopischer Handlungsstränge für das anbrechende zweite Vierteljahrhundert, dieses Konglomerat aus militärischer Black-Mirror-KI, brutaler globaler Neuordnung, libertären Kryptotechmilliardären, autoritär-nationalistischen Rechtsdrift und gelegentlicher Pandemien. Und wenn etwas davon so wäre, was würde dem ernsthaft entgegenstehen können, fragt das Dopamin.

8. Dezember | Ein Merz für Kinder

Friedrich Merz sitzt in der Spendengala Ein Herz für Kinder. Ein Herz für Kinder wird vom Springer-Verlag ausgerichtet und dieser hätte gern eine CDU-Regierung mit einem starken Christian Lindner an der Seite. Deshalb ist es kein Zufall, dass Moderator Ralf Schmitz während der Gala ans Sofa zu Friedrich Merz kommt und sagt: »Ich habe ein Angebot für Sie. Wenn Sie ein richtig gutes Angebot an mich machen, jetzt zu spenden für Ein Herz für Kinder, dann nennt sich die Sendung ab sofort Ein Merz für Kinder. Was sagen Sie?«

Davor und danach wird auch gespendet, Lars Klingbeil hat 500€ gegeben, Christian Lindner (»Sie kennen meine berufliche Situation«) 2000€, Toni Kroos 100000€. Friedrich Merz unterbreitet Schmitz ein Angebot: »Mein Angebot ist folgendes: 100€…«

Verblüfft und konsterniert unterbricht Schmitz mit wegbrechender Stimme: »Bitte?«

Die Spendenglocke läutet, weil Friedrich Merz 100€ an Ein Herz für Kinder gespendet hat. Schmitz winkt die Glocke weg, weil er ahnt, dass da noch etwas kommt. Von Friedrich Merz. Und Schmitz hat recht.

Denn gleich darauf fährt Friedrich Merz fort: »…100€ für jedes Prozentpunkt, das wir in der besten Umfrage für die CDU über den Jahreswechsel stehen.«

Zufrieden schaut Friedrich Merz zu Ralf Schmitz auf.

Schmitz presst ein eher ernüchtertes »Naja« hervor.

Friedrich Merz spürt Schmitz’ Enttäuschung, spürt auch die Enttäuschung im Publikum. Instinktiv holt er von ganz weit unten aus seinem Sauerlandkörper ein tiefes »Aja, hören Sie mal!« heraus.

Schmitz findet schnell in die Rolle zurück, die ihm als Moderator einer Springer-Spendengala zugewiesen ist.

»Großartig«, sagt Schmitz also.

Friedrich Merz setzt nach: »Rechnen Sie mal, rechnen Sie mal.«

Schmitz sucht nach Worten, die Entgegnung, Zustimmung und Pointe zugleich sein könnten, findet: »Das kann keiner so schnell ausrechnen.«

Mittlerweile hat Friedrich Merz selbstbewusst die Arme untergeschlagen. Er hilft Schmitz beim Rechnen: »Also wenn wir über 40% liegen, sind’s 4000€.«

Von Schmitz wieder das ernüchterte »Naja«.

Friedrich Merz hält dagegen: »Was heißt Naja

Schmitz: »Also Herr Merz!«

Friedrich Merz: »Also hören Sie mal!«

Schmitz: »Also Herr Merz!«

Friedrich Merz: »Das ist acht Mal so viel wie die SPD…«

Da mischt sich eine Moderatorin ein: »Ach komm Ralf, nimm einfach die 4000€.«

Nimm einfach die 4000€. Friedrich Merz, Ex-Aufsichtsratsvorsitzender von BlackRock, Privatflugzeugbesitzer, jemand, der sich nach eigenen Worten mit einem Jahreseinkommen von rund einer Million Euro brutto zur gehobenen Mittelschicht zählt, Ach komm, nimm einfach die 4000€ für die kranken Kinder.

Vielleicht braucht es ein eigenes Verb, vermerzen – etwas auf dem Silbertablett serviert zu bekommen und dann spektakulär vergeigen. Friedrich Merz als Ebenezer Scrooge, der seinen Tiny Tim noch nicht gefunden hat, nicht die erste Strophe in diesem Weihnachtsmärchen, Googlesuche »Friedrich Merz« + »Notebook Obdachloser«.

Friedrich Merz meint das ja nicht mal böse. In seiner Welt ist Güte kein zielführender ökonomischer Indikator, entfaltet Selbstlosigkeit keinen Nutzen, ist Mitgefühl eine Abschreibung. Dabei haben Großzügigkeit und Barmherzigkeit an diesem Abend doch ein Preisschild, sind Mittel zu einem Zweck. Und das ist das eigentlich Erstaunliche an diesem Dialog: dass Friedrich Merz dies reichlich zwei Monate vor einer Wahl nicht sieht, dass ihm der Instinkt dafür fehlt, dass ihm nicht in den Sinn kommt, eine solche Gelegenheit für sich zu nutzen. Diese Spendengala als Vorgriff auf den Kanzlervibe, der dieses Land bald vorwärts bringen soll.

9. Dezember | Sag was über Syrien

Die Armee Hayat Tahrir al-Sham nimmt Damaskus ein, die Baath-Herrschaft beendet, der Palast gestürmt, die Folterkeller geöffnet, die Gefangenen befreitet, die Uniformen weggeworfen, Putin verliert den Zugang zum Mittelmeer, verliert Flugbasen, um von da aus in Afrika verheeren zu können. Ein Geschenk am Jahresende, Syrien befreit. Ein Glück.

Und überraschend. Weil gefühlt nur wenige Tage gedauert hat, was seit 2011 Jahre voller Horror gewesen waren; Aleppo, Palmyra, Homs, Giftgas, die zerbombten Krankenhäuser, Scharfschützen, Minen, Folter, all der Schrecken, zu dem man abstumpfte, weil das Grauen in Syrien ohne Aussicht auf Linderung nicht zu ertragen war. Und dann gewann doch das Grausame und herrschte weiter, als wäre nichts gewesen. Und jetzt, während des Schlags eines Augenlids, das unerwartete, unvorstellbare Ende.

Ist das der Grund? Weil Iran, vor allem Russland nicht mehr schützen? Und ist das der Grund für die Jahre ab 2011? Weil Iran und Russland schützten? Ein Krieg, der sich so tief in die Welt gefressen hatte, der spätestens 2015 sich nach Deutschland aufmachte und da tektonische Bewegungen hervorrief, die dazu beitrugen, dass heute ist, wie es ist.

Ein Geschenk. Und gleichzeitig auch Zurückhaltung. Wer ist diese Armee, wer ihr Anführer? In den letzten Tagen wurde uns, die wir Syrien abgeheftet hatten zu den Ereignissen der Vergangenheit, versucht zu erklären, für was die verschiedenen Gruppen stehen, die nach Damaskus ziehen. Alles Wissen darüber aus diesen Texten. Dazu das Wissen über den Ausgang des Arabischen Frühlings. Das Verhaltene, weil dieses Ende auch ein Anfang ist, und wie soll ich einschätzen können, was dieses »Ende dieser dunklen Ära und den Beginn eines neuen Kapitels für Syrien« bedeutet, was dieser Frieden bedeutet, für die Syrier, für die syrischen Frauen?

In Deutschland sind in reichlich zwei Monaten Wahlen. Etwa eine Million geflüchtete Syrerinnen und Syrier leben in Deutschland. Einige Parteien fordern schon heute, am Tag des Falls von Damaskus, an diesem Geschenk, die Rückkehr dieser Million nach Syrien, zwei Monate bis zur Wahl.

10. Dezember | Flucht ist ein Aufenthalt auf Zeit

Während die Welt noch al-Julani googelt, während in den Foltergefängnissen Menschen nach ihren Brüdern und Vätern, Söhnen, Töchtern, Schwestern und Müttern suchen, während die Türkei Rojava bebombt, ist die große Debatte hier: Wann gehen die Syrer endlich aus Deutschland weg? Jens Spahn möchte 1000€ Handgeld geben, der sächsische Innenminister sofort abschieben, »Flucht ist ein Aufenthalt auf Zeit« heißt es pflichtschuldig, von gecharterten Heimführungsflügen ist die Rede, »umgehend nach Syrien zurück«, so, als wäre jede Sekunde des Innehaltens ein unnötiger Akt der Gnade, als wären Eifer und Eile die höchsten Tugenden, um der Freude entgegenzuwirken, als würde man den Menschen, deren Land soeben erst befreit wurde und die zum Teil seit zehn Jahren hier ihre Leben führen, jede Gelegenheit im Keim nehmen wollen, in eigener Verantwortung Entscheidungen zu treffen, ihnen unbedingt verstehen geben wollen, dass sie hier nicht erwünscht sind, niemals waren, ich habe überlegt, ob ich dies zum Thema eines Tages machen sollte, aber das Festhalten dieser beflissenen Kälte, dieses strebsamen Gefühlsfrost, dieses umgehenden Genugtuung muss Teil von Einträgen sein, die dieses Jahr abbilden. Oder, wie Saša Stanišić, jemand, der selbst vor einem Krieg nach Deutschland floh, schreibt: »Das war damals nach dem Bosnienkrieg genau gleich: Man hat nicht eine Sekunde gezögert nach dem letzten Schuss, und auch egal wie die individuelle Lage vor Ort für die Menschen war, um uns abzuschieben. Das ist also nicht eine neue Menschenverachtung, beeinflusst von Rechts, Deutschland IST so.« Mir ist bewusst, dass die Ereignisse der vergangenen Tage Fragen aufwerfen, die Antworten brauchen, Pläne, Unterstützungen, Reaktionen. Bewusst, dass solche Worte eben nicht nur in Deutschland fallen, sondern auch in anderen Ländern die Abschiebung im Zentrum steht. Dass Deutschland so ist und es viele Beispiele gibt, dass es auch anders ist. Aber diese unverhohlene Lust an der Unverzüglichkeit ist nur schwer hinzunehmen.

11. Dezember | Brombeerstabilität

Foto: Yvonne Andrä

Heute Unterzeichnung des Koalitionsvertrags in Thüringen, Livestream mit Brombeerlimonade. Und Brombeere als Begriff für den Zusammenschluss dreier Parteien, etwas, das im September noch ungewohnt und deshalb frisch erschien, wirkt auf mich nun infantil, abgegriffen, auch krampfig. Ich verstehe das Bedürfnis, etwas so Abstraktes und Kompliziertes wie diese Koalition damit aufzupeppen. Aber so richtig abholen wird mich Brombeere nicht mehr, vielleicht auch, weil die Erfahrung zeigt, wie schnell sich Namen für solche Bündnis abnutzen und ins Gegenteil verkehren; Ampel als Unwort für verlorene Jahre, die GroKo als Drohung einer zahnlosen Lähmung.

Überhaupt dieses Thüringer Bündnis. Wie widersprüchlich. Die vielen Biegungen, die die drei Parteien genommen haben, nehmen mussten. Das Geschmeidige ließe sich als Aufgeben von Grundsätzen bezeichnen. Oder pragmatisch angesichts der Umstände nennen. Oder demokratisch, weil der Kompromiss letztlich das ist, was zusammenführt. Und Kompromiss ist diese Brombeere in jeder Zelle. Wieder ein Oder: Oder Beleg für den unbedingten Wille zur Macht, dafür alles einsetzen. Oder eben: Alles dafür einsetzen und verhandelbar machen, damit Der Osten machts keinen weiteren Raum gewinnt.

Und deshalb ist – bei allem Zweifel – der Wunsch, das diese weiten Wege sich auszahlen. Das gelingt, was sondiert wurde. Weil Instabilität und Zerrüttung und Scheitern und Zank das ist, was letztlich die Prozentpunkte über die Sperrminorität hinaus zur Majorität führen würde.


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