Weichen


1. November | Gilmore Girls und Antifaschismus

Zwei Monate noch, dann muss ich nie wieder über Politik schreiben. Bis dahin erst einmal der November, auf den, so scheint es an diesem Anfang, vieles zuläuft, das Zugespitzte der letzten Monate ex- oder implodieren könnte. Kollabieren die Koalitionsgespräche in Erfurt – der Druck auf den Landesverband noch mal erhöht, eine Abgeordnete erklärt: »Ich habe nicht mit Sarah Wagenknecht DIE LINKE verlassen, um nach wenigen Monaten den Gründungskonsens aufzugeben. Ich werde nicht gegen den Bundesvorstand agieren«, wird es eine Minderheitsregierung geben? Bricht die Ampel, gerade heute nach dem 18seitigen Konzept für Wachstum und Generationsgerechtigkeit, in dem sich von den Klimazielen verabschiedet wird, kurz vor dem Haushalt 2025, auf den Tisch gebracht von der FDP, in Texten genannt Scheidungspapier. Und: Wird Donald Trump zum Präsidenten gewählt / putscht sich dazu, Trump, der gerade einer politischen Konkurrentin wünscht, dass sie in neun Gewehrläufe blicken solle?

Vielleicht wird dieser November ernten, was dieses Jahr, was die letzten Jahre gesät haben. Vielleicht wird in wenigen Tagen eine entscheidende Weiche für die Zukunft gestellt. Wenn nicht, ist es eine Atempause. Die Fliehkräfte wirken beständig, hartnäckiger. Der vor der SPD rehabilitie Gerhard Schröder sitzt bequem in Wien auf einem vom Roger Köppel moderierten Podium mit Viktor Orbán und wünscht sich Trump als Präsidenten, weil dieser für Frieden in der Ukraine sorgen werde, während am Donbass die ukrainische Front zusammenbricht und die nordkoreanischen Soldaten sich auf den Weg machen in den Krieg, der dann den nächsten Schritt zum Weltkrieg genommen hätte, das nächste Offensichtliche, das in der Ukraine um viel Grundlegenderes gekämpft wird.

Die Destabilisierungen des Tragenden, die Auflösungen des Bisherigen, die Verschiebungen ins Extreme, die Normalisierung der Gewalt, das Bequemmachen im Autoritären setzen sich fort, geopolitisch sowieso, lokal weiterhin. Im Zug meine Sitznachbarin liest auf ihrem Apple ein PDF »Antifaschistische Strategien« und schaut dabei parallel im kleinen Fenster »Gilmore Girls«, sinnvolles Multitasking im November 2024.

2. November | unnütze Einrichtung

Zweihundert Tode nach dem Extremregen in Valencia, viele Verletzte und Vermisste. Im vergangenen Jahr ließ die konservative Regionalregierung, auch auf Betreiben ihrer rechtsextremen Partnerpartei das regionale Amt für Katastrophenhilfe, das ansonsten im Vorfeld gewarnt und koordiniert hätte, als »unnütze Einrichtung« schließen. Im »Positionspapier« der FDP werden die Klimaziele weitestgehend aufgegeben.

3. November | von Madison Square Garden zu Mar-a-Lago

Wahl in zwei Tagen. Die Umfragen immer noch nah beieinander, aber in den letzten Tagen mit leichten Vorteilen für die Demokraten, auch als Folge der republikanischen Rhetorik, auch weil speziell Wählerinnen angesprochen, mit Werbung, die sagt: Eure Männer werden nicht erfahren, wen Ihr wählt, gesprochen mit der Stimme von Julia Roberts. Das Gefühl leichter Entspannung, weiterhin die Befürchtung, dass es wie 2016 kommen könnte und gleichzeitig die Vermutung, dass wegen 2016, als Trump in den Umfragen unterschätzt wurde, sein Zuspruch aus dieser Erfahrung heraus diesmal überschätzt wird. Und was ist eigentlich mit denen, die noch unentschieden sind? Ist es möglich, zwei Tage vor dieser Wahl nach diesem Wahlkampf noch nicht zu wissen, wer das kleinere Übel für einen ist? Müsste man nicht längst von einer Seite überzeugt sein?

Jedenfalls eine Prognose, die Viele tätigen: Trump wird frühzeitig, noch während der Auszählung, seinen Sieg verkünden, um damit für seine Anhänger ein Narrativ zu setzen. (Oder: »Trump will mit seinem Verhalten übrigens nicht mehr die Wahl gewinnen, sondern bereitet den Umsturz vor.«)

Jedenfalls Anlass für ein Szenario: Was, wenn der Sieg der Demokraten von Anfang an so klar ausfällt, dass es gar keine Gelegenheit gibt, sich vorzeitig zum Sieger zu erklären, wenn die Wahlmännerstimmen so eindeutig verteilt sind, dass es nicht ins Gewicht fällt, ob ein oder zwei Bundesstaaten widerrechtlich die Stimmen für die Republikaner vergeben würden? Würde das die erwartbare Gewalt reduzieren können?

Jedenfalls ein Gedankenspiel: Was passiert, wen Donald Trump verlieren sollte? Niemals wieder würde er Wahlkampfveranstaltungen abhalten, niemals mehr eine Rally wie im Madison Square Garden. Verschwinden würde er in Mar-a-Lago, sich abschotten, gelegentlich in Gerichten erscheinen müssen, seine Getreuen würden sich abwenden von Trump, dem Verlierer gleich zweier Wahlen? Was geschähe mit diesen Getreuen, die in den letzten Jahren, Monaten, Wochen auf gleicher Flughöhe waren in Rhetorik und Gewaltfantasien? Sie wären ja dennoch da, die vom Project 2025 trainierten Staffs, bereit, die Institutionen zu besetzen und sprengen, die Parteifunktionäre, die Parteigänger mit den Dark-Maga-Hüten, die irren Tech-Oligarchen? Was würde anstelle Trumps kommen, wer, würde man den Einsatz verdoppeln, weil es ein Zurück nicht mehr geben kann, auch machttechnisch keinen Sinn ergibt, weil die Polls trotz aller Gewalt weiterhin nahezu unentschieden sind?

4. November | Handverlesen

Die Einträge gerade sind entweder Amerika oder BSW in Thüringen. Am Wochenende war in Erfurt ein Treffen des Landesverbands, der bis vor kurzem aus um die 60 Mitglieder bestand. Grundsätzlich können Mitglieder nur mit Zustimmung aus Berlin in Thüringen beitreten. Diese Zustimmung gab es lange nicht, trotz Drängen des Thüringer Verbands. Jetzt, da es heißt, Berlin vs. Thüringen, lässt Berlin 1/3 weitere Mitglieder in Thüringen zu, die, dazu braucht es wenig Fantasie, eher im Sinn Berlin sprechen, ob und wie das Thüringer BSW in eine Koalition gehen sollte. Handverlesen. Dazu ein Satz, gesprochen mit Helmut-Schmidt-Stimme: Mit Demokratie hat das eher weniger zu tun.

Und da das alles öffentlich stattfindet, findet etwas statt, gegen das das BSW angetreten war: anders Politik machen. Ohne Grabenkämpfe, ohne Ränke, ohne Streit, ein Gegenentwurf zur zankenden Ampelregierung, zum herkömmlichen Parteiensystem, das war der Anspruch, der sich mit jedem weiteren Tag in Thüringen zerlegt. Und da ist keine klammheimliche Freude bei dieser Beobachtung, weil das letztlich alles aufs Konto der Sperrminoritätenpartei einzahlt.

5. November | Wahlen, die etwas ändern

Heute Wahltag in Amerika. Die allererste Auszählung zeigt: ein Unentschieden. Man sagt, ein Münzwurf könne auch entscheiden, Bauchgefühl, wenn mehr Männer wählen gehen, mehr Frauen, Latinos, arabische Amerikanerinnen, die Puerto-Ricaner. Beobachtungen von Rallys, wo bleiben Plätze leer, wo herrscht mehr Enthusiasmus, Vergleiche zu 2016. Die Szenarien reichen von Patt, an dessen Ende das Repräsentantenhaus entscheidet, bis hin zu einem eindeutigen Sieg wegen The-Winner-Takes-It-All. Auch Texte, die noch einmal hinweisen, was auf dem Spiel steht, »Why the Stakes in this Election Are So Enormously High« …

Und das ist so. Deshalb diese Aufmerksamkeit. Weil es eine Wahl ist, die etwas verändern könnte. Anders als beispielsweise in China oder Indien, die jeweils viermal so groß wie die USA sind; dort auf einen Wahlausgang hinzufiebern, der das Land grundlegend verändern könnte, erscheint unnötig.

Aber ist es so, dass der Tag heute die Wahl grundlegend verändern könnte? Ist das, was Trump und das Project 2025 vorhaben, nicht im System schon angelegt, ist eine Zustimmung von fast 50% für diese Vorhaben nicht längst Beleg, dass es alles schon da ist? Trump 2025-2033 würde diese Hälfe in staatliche Gewalt überführen, darin liegt die Gefahr.

Aber was für eine Veränderung würde ein Sieg der Demokraten bringen? Die grundlegenden Probleme – dieser irre Abstand zwischen Arm und Reich, der irre Einfluss von Kapital auf Entscheidungen, der militärische Komplex, die historisch bedingten und nie geänderten Unzulänglichkeiten der politischen Infrastruktur (Electoral College, Zusammensetzung Senat, Wahl der Verfassungsrichter) etc. etc. – werden die Demokraten nicht ändern wollen oder können. Natürlich nicht, ist ein Zusatz, der an diesen Satz gehört. Die Aufgabe von Kamala Harris ist die von Joe Biden ist die von Hillary Clinton: Trump zu verhindern (und einiges von dem Verhängnis, das er angerichtet hat, zurückzunehmen). Auf Dauer reicht das nicht, selbst wenn Donald Trump ab Mittwoch in Mar-a-Lago Sunset Boulevard nachspielen wird, wird ein nächster, dreißig Jahre jüngerer Trump kommen.

Eine Wahl, die etwas ändern könnte. Einmal zum Schlechten. Nicht aber: Zum Besseren. Sondern maximal zum Weiter-So mit kleineren Bewegungen, die, auch das ist die grundsätzliche Annahme in einer Demokratie, in einem stetigen Aufwärts zu einer Verbesserung führt. Das ist das Versprechen. Eine Wahl, die etwas ändert, war in Moldau.

Ein Wahlkampf geht zu Ende, voll von Brainwashing, Sanewashing, Gewalt, Xenophobie, Entgleisungen, den Wunsch danach, dass Migranten in Käfigen gegen professionelle Mixed-Martial-Arts-Kämpfer antreten (»Am Ende möchte ich, dass die Migranten gegen die Champions antreten. Und ich denke, die Migranten könnten tatsächlich gewinnen – so fies sind einige dieser Typen«), von Katzenfrauen, von vermeintlich verspeisten Hunden, einem Kandidaten, der sich als Müllmann verkleidet und über Eichhörnchen in Rage gerät, der Anderen den Tod wünscht, auf den geschossen wird und überlebt, weil er in der richtigen Sekunde den Kopf dreht, von sich irre gebenden und rational agierenden Tech-Oligarchen, von Prominenten, die singen oder Videos in die Sozialen Netze setzen, von Bots, von Kriegen, von Milliarden von Milliarden Geldern, die geflossen sind und für die Gegenleistungen erwartet werden, von schwarzen Lass-unsere-Hautfarbe-herrschen-Basecaps, ein Wahlkampf, der zwei Jahre gedauert hat und einen Sommer lang und sich anfühlt, als hängen die nächsten Dekaden dieses Jahrhunderts davon ab.

Ich bin, bei aller Sorge, auch froh, dass er jetzt erst einmal vorbei ist. Auch wenn kaum etwas einfacher ist, als über Trump zu schreiben. Was immer Teil des Problems war.

6. November | fünf Uhr morgens

Jetzt ist 8.15 Uhr. Gerade hat Donald Trump Pennsylvania gewonnen und damit die amerikanische Präsidentschaft. Gegen drei Uhr bin ich heute aufgestanden, kurz nach fünf habe ich abgeschaltet. Zu diesem Zeitpunkt wird in den Nachrichtensendern auf großen Screens in blaue Swing-State-Countys gezoomt und werden Zahlen präsentiert, die zeigen, dass Harris zwar nicht schlecht liegt, aber Trump besser als erwartet abschneidet. Dieser Under/Over-Performen addiert sich, die Takes der Erklärenden verwandeln sich in Durchhalteparolen, die Nadel der NYT setzt sich im roten Bereich fest, der Pfad der Demokraten wird narrow, in den Netzwerken werden Erinnerungen an 2016 geteilt. Nichts ist kurz nach fünf Uhr morgens endgültig entschieden und doch ist es das. Ein kurzer Schlaf.

Nach dem Schlaf Pennsylvania und Donald Trump erklärt sich zum Präsidenten, so, wie es gerade scheint, gewählt mit der absoluten Mehrheit aller Stimmen. Es wird die nächsten Jahrzehnte viel über die Ursachen dieser hundert Millionen Entscheidungen geschrieben werden, aber es ist auch: Die Mehrheit will das; das Gewalttätige, das Recht des Stärkeren, das Misogyne, die Häme, den Hass und hier all die Worte aus den Millionen Texten einsetzen, die seit zehn Jahren darüber schreiben. Eine bittere Bestandsaufnahme: Die Mehrheit will die Dystopie.

Er ist Präsident, ihm gehört der Senat, das Repräsentantenhaus, das Verfassungsgericht. Die demokratischen Institutionen der USA liegen blank und damit die demokratischen Institutionen der Welt. Es ist nicht einer allein. Es wird nicht wie 2017-2021. Diesmal gibt es eine inhaltliche Vorbereitung, Strategien geschrieben auf tausenden Seiten, zukünftige Amtsträgerinnen, die sich auf diesen Tag seit Jahren vorbereiten und im Amt umsetzen werden, was angekündigt ist.

Es ist anders als 2016, keine Fassungslosigkeit, kein Unglauben, kein Zwick-mich-mal-damit-ich-aufwache. Diesmal ist es erschöpfte Gewissheit. Dieser Tag wird vielen Menschen das Leben kosten. Der Ukrainekrieg wird im Sinne Russlands ausgehen. Menschen, die von einer von weißen, männlichen, heterosexuellen Republikanern definierten Norm abweichen, werden Freiwild werden. Rechte werden eingeschränkt werden, das freie Wählen noch stärker, ein landesweites Abtreibungsverbot wird kommen, Menschen werden deportiert werden, Kinder von Eltern getrennt werden. Ein Impfgegner wird die landesweite Gesundheit verantworten. Techoligarchen werden einen Blankoscheck zum Durchsetzen von effektiven- Akzelerationismus-Fantasien erhalten. Wenige werden noch reicher werden, viele noch ärmer. Klimaziele werden zerbröseln. Bücher werden verbannt werden. Ayn Rand nicht. Atlas Shrugged wird Blaupause sein.

Das Meiste von dem ist schon da. Jetzt wird es Staatsräson. Dieser Morgen des 6. Novembers ist kein Bruch in einem Jahrhundert, keine alternative Zeitlinie. Heute ist konsequenter Endpunkt einer lang schon währenden Entwicklung, ist deren vorläufiger Peak und zugleich Beginn von etwas, das die nächsten Jahrzehnte bestimmen wird.

Diese Absätze sind für dem Notfall bereitgelegte Sätze, von denen ich nicht annahm, sie verwenden zu müssen und die ich an diesem Morgen routiniert runterspule, auch als eine Art Schutz für mich und meine Gedanken über eine Zukunft, die sich hier gerade entfaltet, die mich erst mal bleak zurücklässt. Und dieses bleak, das ich ahne, will ich erst einmal nicht näherkommen lassen. Ich muss raus, laufen, vielleicht halte ich nie wieder an.

7. November | 6. November

Gestern auch so ein Tag, für den es eigentlich mehrere Chroniken bräuchte, um all den »Paukenschlägen« angemessen Raum zu geben. Ein Versuch zu ordnen, über gestern schreiben und dabei im ungewissen Morgen sein.

Einige Stunden nach 8.15 Uhr gestern die offizielle Bestätigung, dass Donald Trump die amerikanische Präsidentschaftswahl gewonnen hat. Meinerseits der Versuch, erst einmal die Vermeidung jeder weiteren Beschäftigung damit, dem Lesen von Analysen und dem Schauen Prognosen der nächsten vier acht x Jahre. Draußen war recht passend ein grauer, kühler, nebliger Novembertag. Eher bemüht, Fremden in die Gesichter zu schauen und darin auch etwas von dem zu erkennen, was ich empfinde. Von dem, was dieser Tag bedeuten könnte.

Dabei ist es ja nicht so, dass plötzlich alles anders ist oder in den nächsten Wochen Monaten werden wird. Man spült ja weiterhin Geschirr und isst eine Blaubeere und freut sich, wenn das Nachbarkind jetzt allein über die Straße gehen kann. Mar-a-Lago ist weit weg vom Theaterplatz und trotzdem ist so, dass die Wahl Auswirkungen haben wird, die vermutlich viele bis an ihr Lebensende begleiten werden. Oder wie jemand auf Bluesky schrieb: »most of us will probably die living in the political order that will emerge out of this election.«

Kurz die Versuchung, in den Amerika-Einträgen der Chronik zu lesen und den Verlauf meiner Erwartungen zu rekapitulieren. Vom Sommer über den Sommer in den Herbst bis in die Woche vorher, nach Achterbahnfahrten am Ende leichte Zuversicht, die getragen war von dem, was ich mir anlas und auch anlesen wollte und an mich heranlassen wollte. Und der Glaube, dass nach dem Faschismus-Abend im MSG alles so offen, symbolisch und konkret auf den Tisch lag, so eindeutig, dass jeder, der kein weißer Mann ist, nicht ins offene Messer rennen wollen würde. Eine naive Vorstellung, mal wieder und sicher nicht das letzte Mal. Irgendwie ist diese Selbstlüge längst abgespeichert und vielleicht deshalb gestern weniger Fassungslosigkeit als bleiern erschöpfte Gewissheit.

Zum Ordnen gehört auch: Zwei Tage zuvor eine Razzia bei der SS, den »Sächsischen Separatisten«, Kriegswaffenfunde, Gefechtshelme, die Hülse einer Mörsergranate, Gasmasken, Schalldämpfer, scharfe Schießwaffen, Tarnfleckanzüge, Umsturzpläne. Unter den Festgenommen auch AfDler, einer Schatzmeister der Jungen Alternative, Mitarbeiter im sächsischen Landtag etc. Am gleichen Tag ein informelles Gespräch von Ministerpräsident Kretschmer mit der AfD über die Zusammenarbeit im Landtag, »Der Ministerpräsident spricht grundsätzlich mit allen Abgeordneten und Fraktionsvorsitzenden, die dies wünschen.«, dies gebiete der Respekt vor dem Amt und dem Parlament. Am 6. 11. dann das Ende der Verhandlung zwischen sächsischer CDU und sächsischem BSW, die sächsische Brombeere damit passé, mögliche Koalitionen wieder ergebnisoffen.

Zum Ordnen gehört definitiv: An diesem 6. November am Abend die Nachricht, dass Bundeskanzler Scholz Finanzminister Lindner entlässt. In kurzer Folge drei Kampfansprachen. Der Kanzler mit einer Stimme wie eine Faust, die nicht mehr geballt ist, sondern offen geführt wird, der Finanzminister mit einer Stimme, die mühsam um die eine Stimme ringt, die seine Partei im Frühjahr über fünf Prozent tragen soll. Bruch der Ampel, Vertrauensfrage, Neuwahl im Frühjahr.

Vor allem aber das konkrete Aussprechen von dem, was Allgemeinwissen ist: ein Zerwürfnis so tief und getragen von großer persönlicher Abneigung. Gemeinschaftlich wird die Zeit ab 21.15 Uhr auch als eine Art Befreiung erlebt: ein Heben des Schleiers, das Wegziehen eines Vorhangs, das Aussprechen von dem, was wirklich ist, eine alles erleichternde Möglichkeit, die verbleibende Zeit bis Kanzler Merz authentisch zu agieren. Nicht unbedingt von mir. Denn dieser Tag schleift die Breaking-News, die wirklich mal den Zeitlauf gebrochen haben, auf spektakuläre Weise ab, bis man sich satt und unzufrieden von Sensation zu Sensation hangelt. Ist einfach sehr viel, was an Weichenstellungen in wenige Stunden gepackt ist.

8. November | Ich werde Euch fressen

Ich denke an eine politische Karikatur. Auf einer Schafsweide ein Wahlplakat, auf dem ein Wolf abgebildet ist, darunter sein Slogan: »I am going to eat you.« Ein Schaf sagt: »He tells it like it is.«

Daran muss ich denken, wenn ich Texte darüber lese, wer aus welchen Gründen Donald Trump gewählt hat. Daran muss ich denken, als ich lese: »Steve Bannon’s dream of “flooding the zone with shit,” finally realized. A zone of shit for everyone, algorithmically personalized and inescapable … You’re on your own now.«

Daran muss ich denken, wenn nun die ersten Amtsvorhaben angekündigt werden. Daran muss ich denken, wenn Wissenschaftlerinnen beginnen mit dem Sichern von Dokumenten, Archiven, Daten, Webseiten, weil sie befürchten, dass es wie 2017 kommen wird, die kommende Regierung abschalten und vernichten wird.

Daran muss ich denken, wenn die Gerichtsprozesse, die gegen Donald Trump laufen, jetzt eingestellt werden. Daran muss ich denken, wenn ich zurückdenke daran, wie Elon Musk neben Trump auf einer Bühne sprang und nun lese, dass Musks Vermögen seit der Wahl um 30 Milliarden Dollar gewachsen ist. Ich muss daran denken, dass Donald Trump der bekannteste Mensch des 21. Jahrhunderts ist und in den letzten Jahren über niemanden mehr geschrieben wurde. Über niemanden ist mehr bekannt, niemand hat offener darüber gesprochen, was er vorhat, Ich werde Euch fressen.

9. November | Neuwahlterminfindungsgefühl

So schnell wird das Außergewöhnliche zur Norm. Der Bruch der Ampel war vor zwei Tagen, rekonstruiert wurde gestern, jetzt die daraus entstehenden, eher gewöhnlichen, absurden, nachvollziehbaren Folgen. Alle FDP-Minister*innen sind entlassen. Nur der Verkehrsminister tritt aus seiner Partei aus und bleibt in der Regierung, übernimmt neben dem Verkehr- noch das Bildungsministerium. Und wird als Verräter bezeichnet. Im Netz das Meme mit dem Bild Christian Lindners und dazu: »Deutschlands frechster Arbeitsloser«. Christian Lindner sieht sich als Finanzminister der nächsten Regierung. Friedrich Merz erklärt, dass er sich Lindner als Finanzminister vorstellen könne. Habeck bewirbt sich am Küchentisch bei Freuden mit Taylor-Swift-Freundschaftsband (Kanzler Era) als Kanzlerkandidat.

Vor allem aber geht es um den Termin für die Neuwahl. Der Kanzler will diese Wahl im März stattfinden lassen, weshalb er im Januar die Vertrauensfrage stellen möchte. Die Opposition will die Vertrauensfrage gern nächste Woche hören, die Mehrzahl der Bevölkerung ebenfalls, was eine Neuwahl im Januar bedeuten würde. Der Kanzler will das nicht, maximal »möglichst unaufgeregt« diskutieren darüber, als »Klebe-Olaf« wird er deshalb bezeichnet.

Da sind also viele politische Gefühlslagen. Auch bei mir. Wenn die Regierung nicht mehr regieren kann, sollte so schnell wie möglich eine neue gewählt werden, ist eine gefühlte Lage. Und manchmal ist es gut, Gefühle mit Argumenten zu konfrontieren, bspw. zu fragen: Was bedeutet es denn, wenn Mitte Januar gewählt werden würde? Eine Wahl im Januar hieße, dass zukünftig die Bundestagswahlen immer im Januar stattfinden würden. Wahlkampf immer über die Feiertage. Wählen von nun an immer im Dunklen und Kalten. Auch das sind Gefühle.

Die Bundeswahlleiterin erklärt in einem Brief, der Zeitungen vorliegt, dass dann zu wenig Zeit bliebe, die Wahl angemessen vorzubereiten, dass kleine Parteien benachteiligt werden könnten, dass Verantwortliche überlastet werden könnte, dass eine Wahl, die sich über die Weihnachtszeit organisieren muss, sehr wahrscheinlich nicht ordnungsgemäß durchgeführt werden könne, wodurch die Wahlleiterin eine »hohe Gefahr, dass der Grundpfeiler der Demokratie und das Vertrauen in die Integrität der Wahl verletzt werden könnte« sieht.

Zudem Bemühungen, die Gefühlslage zu bewirtschaften. BILD, deren Verlagschef 2019 an den damaligen BILD-Chefredakteur simste »Please Stärke die FDP. Wenn die sehr stark sind, können sie in Ampel so autoritär auftreten, dass die platzt und dann Jamaika funktioniert.« schreibt dutzende Artikel im Sinne Christian Lindners (»Lindners bewegende Rede«, »Wirtschaft unterstützt Lindner – gute Vorschläge«, »Scholz wollte, dass ich meinen Amtseid breche«). Zum großen Aufreger wird, dass Olaf Scholz vom Telepromoter ablas, also eine Rede vorbereitet war. Texte auch, die versuchen zu belegen, dass sich die Bundeswahlleiterin ihre Äußerungen auf Weisung des Kanzlers tätigt. Lauter vermeintliche Beweise dafür, dass der Rauswurf von langer Hand geplant und damit ein abgekartetes Spiel war, die Etablierung eines Narrativ, das einzahlt auf das Konto von denen, die Interesse haben an Allmählichkeitsschäden einer demokratischen Gesellschaft.

Argumente, Gefühle, Bewirtschaftung. Das Gefühl beim Neuwahlterminfindungsdiskurs ist, dass am Ende die allgemeine Ermüdung Erleichterung Gefühlslage die Argumente schlagen wird.

10. November | Was wir sangen

Heute beim Martinsumzug gewesen. Vor der Herderkirche hunderte Lampions, gemeinsames Singen, dazu die Geschichte über das Zerteilen eines Mantels. Eine jährliche Veranstaltung, die auch dazu gedacht ist, Werte zu vermitteln; Mitgefühl, Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft, Tugenden, die aus einer christlichen Erzählung stammen, aber für die Gesellschaft gelten sollen, in der wir leben.

Ich stand und sang über Lichter in der Nacht, wortwörtlich sah ich sie und sinnbildlich waren sie gedacht und fragte mich, wie ich sie in Einklang bringen soll mit den letzten Tagen. Von was wir sangen, stand im Gegensatz zu dem, was triumphiert hatte. Wie soll ich von Mitgefühl singen, wenn ich die kalte Lust in den Gesichtern derjenigen sehe, die den Takt der nächsten Jahre angeben werden?

Ich gehe meine Einträge zu den Wahlen durch, sie waren ja immer auch ein Spiel mit der Prognose. Gewalt hatte ich erwartet, sie ist nicht geschehen. Ich hatte mehrere Szenarien angeteasert, das Szenario, in dem Trump eindeutig gewinnt, hatte ich nicht ausformuliert.

Im Nachhinein erklärt sich alles leicht. Diesmal nicht. Jemand sagt, dass sie nicht interessiere, weshalb Kamala verloren hat, sondern weshalb Trump gewonnen hat. Jemand schreibt, Trump hat nicht die Arbeiterschaft für sich gewonnen, sondern die weiße Arbeiterschaft. Viele sagen: Man muss die Trumpwähler in ihren Anliegen ernstnehmen. Doch wie soll ich jemanden ernstnehmen, der Trump gewählt hat? Ich kann versuchen, Beweggründe nachzuvollziehen, wie – ich habe das hier schon mehrmals geschrieben – man jemanden wählen kann, über den so viel bekannt ist. Abziehen muss ich die vielen vielen Millionen, die seine Welt gewählt haben, weil sie wussten.

Meine Erklärung, Stand Heute: Es sind die Kanäle. So viel war bekannt. Es hat nur viele nicht erreicht. 75 Millionen wollten sich nicht erreichen lassen. Egal, was geschrieben wird, gleich, was passiert, in diesen Kanälen spielt das keine Rolle. Die Kanäle bündeln alle Ursachen, verstärken sie, erschaffen sie zum Teil. Zerfledderung. In Deutschland vollzieht es sich ähnlich. Diese Kanäle gehören zerstört. Ansonsten zerstören sie.

Was hilft es zu schreiben, wie es kommen könnte, wenn es doch geschieht? Was hilft es, später zu schreiben, was geschehen ist? Ich kann nicht belegen, wie die nächsten Jahre verlaufen werden, niemand. Doch wer nicht die Augen schließt, sieht die Gewalt schon, die Angst, spürt die Ohnmacht, vieles davon zu verhindern.

Und dennoch wieder im nächsten Jahr auf dem Herderplatz stehen.

11. November | Erwartungen

Vor der vergangenen Woche war es auch so gewesen, dass ich gar nicht so selten mit dem Gefühl aufgestanden bin, dass ich interessiert sein könnte an dem, was über der Nacht in der Welt geschehen ist. Zuweilen wissensdurstig, auch oft auch in nervöser Anspannung, in manchen Zeiten Schlimmes erwartend, aber grundsätzlich neugierig.

Diese Neugier ist mir gerade abhandengekommen. Was soll nach der vergangenen Woche der Superlative geschehen? Die Regierung gebrochen, diese Erwartung war lange schon da. Und jetzt? Ein Wahlkampf, in dem es inhaltlich um was gehen soll? Will eigentlich jemand, dass es um Inhalte geht? Ist alles Oberfläche, Freundschaftsbändchen und Abschreiben von republikanischen Wahlkampfstrategien, runtergerechnet auf deutsche Verhältnisse? Worin sollte mein Interesse liegen?

Und was erwarte ich von den kommenden Nachrichten aus den USA? Wie Tag um Tag verrinnt, ohne dass Institutionen sich absichern? Wie Trump beim Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten wieder Elon Musk den Telefonhörer übergibt? Wie eine beabsichtigte Haushaltskürzung von 2 Billionen Dollar umgesetzt wird? Wie die in Interviews als realistisch bezeichnete Deportation von 15 Millionen Menschen stattfindet? Wie JD Vance sagt: »The professors are the enemy”«, Applaus.

Wie der Tweet »Your Body, my Choice« zur Handlungsmaxime wird? Zusehen, wie in den vergangenen Tagen auch weiterhin die Scheidungsanträge in die Höhe schießen, weil Frauen sich scheiden lassen wollen, so lange das noch ohne Erlaubnis der Männer möglich ist? Wie in Hinblick auf das landesweite Abtreibungsverbot zu Sterilisierungen geraten wird? Sich impfen zu lassen, so lange das noch möglich ist? Seinen Pass zu erneuern, dass er zehn Jahre gültig ist? Die Geburtsurkunde immer in Reichweite zu haben? Lauter Dinge, die ich in dieser Allgemeingültigkeit als dystopisch empfunden hätte vor dem 5.11. und die jetzt mit dem Ton großer Dringlichkeit verbreitet werden.

Möchte ich davon jeden Morgen mehr hören? Ab Mitte Januar wieder jeden Tag das Bild von Trump sehen, wie er im Oval Office eine Urkunde mit dem nächsten Erlass in die Kamera hält?

Das geschrieben zu haben, stelle ich dennoch fest, dass ein Interesse da ist, ein unheimlicher Schauer. Mein Interesse an den Vorgängen in den USA ist größer als an denen in Deutschland, dieses instrumentalisierte und aus dem Ruder laufende Gezicke um den Wahltermin, dieser erwartbare Ausgang, diese Muffigkeit.

12. November | brach

Heute hauptsächlich im Zug gesessen und seltsam, immer, wenn ich nach draußen schaute, waren da Nebel und brauner bracher Acker. Ich lese ein weiteres Buch, von dem ich mir den Osten erklären lassen will, eines, das nur aus Fragen besteht, eine davon: Wie durch diese so formulierte deutsche Wand kommen? … Es geht um das, was diese Zeiten und diese Räume mit der Zeit und dem Raum in unserem Kopf machen.

Ab und an unterbreche ich und schaue eine Dokumentation, wie eine auf den Färöer ihr Glück findet. Muscheln vom Stein brechen, der Wind rüttelt an Holzhütten, alles entsättigt und herzlich herb, so müsste es sein. In Baku wird verkündet, dass die lange so gefürchteten 1,5 Grad für dieses Jahr die Norm sind, Shell gewinnt einen Prozess und muss kein CO₂ reduzieren, es kann doch nicht sein, dass alles vor die Hunde geht. Immerhin steht der Termin für die Wahl, im Februar, dann, wenn Sachsen in den Winterferien ist, die Pointen liegen auf der Hand, Merz schon im Februar.

13. November | Redeschlacht im Bundestag

Schlagabtausch, Abrechnen und Poltern, historische Stunden, Schwergewichte, die aufeinanderprallen, Redeschlacht im Bundestag an diesem 13.11., den einige gern als Tag der Neuwahl gesehen hätten (Kompromissvorschlag Postillion: Wahlen am 24. Dezember, dafür Weihnachten in den März verschieben). Der Kanzler spricht staatsmännisch, Friedrich Merz auch und gleichzeitig angriffslustig, für Markus Söder ist der Kanzler uncool, für Alice Weidel Deutschland eine existenzielle Krise, Christian Lindner sieht sich als Opfer und fühlt sich zugleich befreit – die Fesseln sind gelöst, jeder findet zu seiner Rolle.

Und ich weiß, dafür sind diese Stunden da: ein Messen miteinander in Worten, die Rhetorik wichtiger als Inhalt, zugespitzt soll es sein, damit es unterhaltsam sein kann, eine Bühne, auf der wir Ideen präsentiert bekommen, mehr noch die Menschen, die für diese Ideen kämpfen und die uns mit ihrer Redekunst, ihrem Tatendrang und manchmal auch mit Argumenten von sich überzeugen und damit die oft so abstrakten politischen Prozesse in Satzscharmützel überführen, eine sinnvolle Notwenigkeit, auch ein Beweis dafür, wie lebhaft unsere Demokratie ist und damit funktionstüchtig.

Heute aber ödet mich an, was ich geboten bekomme, ich weiß ja längst, wer wer ist und wer für was steht und auf was das alles hinausläuft. Es stößt mich ab, dieses Ausfechten, dieses Stehen hinter dem Pult und von da aus das Niedermähen des Gegners, von denen einer oder zwei in Kürze ja auch Partner sein wird. Es schauert mich, in den Livetickern und Kommentaren das Bewerten von politischen Performances und Pointen, das Vergeben von Haltungsnoten, das Mutmaßen, wer welchen Punkt gemacht haben könnte und was das aussagen könnte scheint mir vollkommen unangemessen für diese Tage, in denen ich mir wünschen würde, anstatt zu zetern, würde man sich zusammensetzen wollen und reden (z.B. über Haushalt), nicht deklamieren und deklassieren.

In diesem November 2024 will ich niemanden von einem Pult aus fetzen hören und Schattenkämpfe führen sehen, klar will ich einen Wettkampf der Ideen, aber keinen Zirkus, der nur Zirkus kann, weil es immer Zirkus sein muss, weil wir Zirkus erwarten, weil wir uns laben wollen an den spitzen Zungen der Protagonisten der Politikshow, von der wir annehmen, das da viele Fassade ist und sie hinter dem Vorhang trotzdem grundsätzlich in der Lage sind, Dinge gemeinsam zu regeln. Aber heute nicht so, nicht so, diese hyperventilierenden, eitlen, unproduktiven, nur sich selbst bestätigenden Politikbühnenroutinen.

14. November | Stakkato

Eines der Merkmale der letzten Amtsperiode Donald Trumps war das Stakkato. Ein permanentes Feuern aus allen Rohren mit Ereignissen, Erlässen, Anlässen, Ankündigungen, Äußerungen, ein unablässiges Übertreten, Verletzen, Verschieben. Jeden Morgen drei Ungeheuerlichkeiten, die über Nacht geschehen waren und im Laufe eines Tages kamen zehn weitere dazu. Jeder neue Wahnsinn beanspruchte neue Kapazitäten im Gehirn, im Erregungszentrum, im Herzen und dort, wo moralisches Beurteilungsvermögen sitzt. Weil die Speicher angesichts des Stakkatos ständig vollliefen, mussten sie auch ständig gelöscht werden. Ein neuer Wahnsinn löschte einen alten, alles verklumpte oder verschwand gleich aus dem Bewusstsein, ergab eine ungefähre Ahnung, aber das Konkrete, was in den meisten Fällen konkrete Auswirkungen hatte (Kinder in Käfigen) wurde überpinselt mit geupdatetem orangen Horror.

Vor zwei Jahren oder so kaufte ich Tagebuch eines Hilflosen von Francis Nenik, in dem er für jeden Tag die Trumpereignisse festhielt, vier Jahre lang. Das Buch war unlesbar, ich kapitulierte nach einigen Wochen, weil es schlicht so viel war, was geschehen war.

Genau das Gleiche geschieht gerade wieder. Die Ungeheuerlichkeiten laufen sich warm, in Ankündigungen noch, aber die Grenzverschiebungen geben sich den Staffelstab in die Hände, man kommt schon wieder nicht hinterher.

Jetzt ist die Zeit, in der erste Personalien verkündet werden. Fast jede Nennung für sich wäre ein eigener Gesang in der Göttlichen Komödie. In dieser Verdichtung verkommen die Namen zu Fußnoten.

Eine Gouverneurin, die den Familienhund erschossen hat, wird das Deportationsministerium den Heimatschutz leiten. Verteidigungsminister wird ein ehemaliger Soldat, der bei FOX moderierte und Tattoos der christlichen Rechten trägt. Ein Kennedy-Neffe, der einen überfahrenen Bären im Central Park ablegte und Impfgegner und Verschwörungstheoriker ist, soll Gesundheitsminister werden. Justizminister soll Matt Gaetz werden, dem Unterschlagung von Wahlkampfgeldern, illegaler Drogenkonsum und sexualisierte Gewalt vorgeworfen werden, jemand, der niemals ein höheres juristisches Amt ausübte. Eine ehemals demokratische Kongressabgeordnete mit prorussischen Positionen soll die Geheimdienste koordinieren. Alles Stakkato-Informationen.

Heraus sticht DOGE, die Behörde, die Elon Musk führen soll, das Department of Government Efficiency. Abgekürzt wie die Kryptowährung soll es »Schockwellen durch das System« senden, ist das »Manhattan Projekt unserer Zeit« und soll 2 Billionen Dollar an Staatskosten einsparen, dreihundert Behörden sollen geschlossen werden, darunter auch das Bildungsministerium. Die Behörde wäre offiziell / inoffiziell, Musks wäre niemanden Rechenschaft schuldig und hätte zugleich Entscheidungsgewalt. Die von Musk geleitete Behörde würde auch die milliardenschweren Geschäfte überwachen, die der Staat mit Musks Firmen macht.

Lauter Gesänge, die angestimmt werden müssten, so lange, bis der Morgen kommt und die nächste Unverfrorenheit, die nächste Monstrosität die vorherige löscht.

15. November | Fehlen

Der Satz, der im gestrigen Eintrag fehlt:

Weil so viel passiert, verlernen wir es, uns zu erinnern.

16. November | Highlighten

Ich durfte einem Teil des Vorgangs beiwohnen, an dessen Ende eine Regierung aus CDU BSW SPD in Thüringen stehen soll. Vorausgegangen waren Sondierungsgespräche, aus denen sich Arbeitsgruppen formten, jede Gruppe besprach Themen, schuf aus den Übereinkünften vielen Sätze. In einem Konferenzraum nahe dem Landtag ein nächstes Treffen; alle von den Arbeitsgruppen geschriebenen Texte werden in einem Dokument zusammengeführt: ein Entwurf des Koalitionsvertrags, vieles davon bis zum letzten Komma diskutiert, einiges noch offen und deshalb rot markiert.

Die kleine Gruppe, zu der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den drei Parteien gehören, trifft sich, um den Text redaktionell zu besprechen; Wiederholungen zu streichen, Ordnungen zu überprüfen, offensichtliche Typos zu entfernen. Vor allem aber geht es ums Highlighten. 110 Seiten umfasst der Entwurf, nur wenige werden alle davon lesen. Deshalb sollen beabsichtigte Highlights der kommenden Regierungszeit hervorgekommen werden.

Die Kriterien für diese Highlights sind auf einer Tafel notiert: Was gehighlighted werden soll, muss neu sein, eine konkrete Maßnahme sein, eine Zielgruppe ansprechen und Sichtbarkeit. Alles, was von den 110 Seiten in diese Kategorien fällt, wird hervorgehoben. Also wird das Word-Dokument an die Wand projiziert und dann beginnen mehrere Stunden konzentrierte Textarbeit: sechs Augenpaare lesen Zeile um Zeile, jede Zeile ist mit einer Zahl versehen, so dass schnell auf einen entsprechenden Textteil verwiesen werden kann.

Schnell wird klar, dass sich hier eine eigene Sprache gefunden hat, die gewissenhaft trennt zwischen: was konkret gemacht wird und was eventuell geschehen könnte. So ist jedes Verb ein anderer Blick in die Zukunft: Es wird vorschlagen, unterstützt, gestärkt, gesetzt auf, verstetigt, gebündelt, vereinfacht, angestrebt, entlastet, geprüft, modernisiert, entlastet, verpflichtet, verankert, verstärkt, gesteigert, verpflichtet, vieles davon digital, transparent und bürgerfreundlich. Es gibt Fonds, Innovationen, Dialoge, Talente und Booster. Es bedeutet etwas anderes, wenn ein Thema an eine Arbeitsgruppe verwiesen werden soll, die einen Vorschlag erarbeiten soll als wenn sich zu etwas bekannt wird.

Die Augen scannen das Dokuments nach Highlights. Textteile, die weniger konkret sind, werden als Prosa bezeichnet. Und es ist interessant, die Logik dahinter zu erahnen. Bei vielem geht es darum, vieles in etwa in der strukturellen Art so weiterzuführen, wie es die im Wahlkampf als inkompetent gescholtene Vorgängerregierung getan hatte. Weniger stehen hier grundsätzliche Eingriffe auf der Tagesordnung, sprunghafte Transformationen oder systemische Paradigmenwechsel. Mehr gilt es, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, das fragile Miteinander auf jeden Fall durchziehen, was angesichts der möglichen Alternative auch pragmatisches Ideal ist.

Die Atmosphäre ist konstruktiv. Man liest geduldig, bringt Meinungen an, ist ernsthaft gewillt, das gut über die Bühne zu bringen. Man arbeitet zusammen, nicht gegeneinander. Auf die Kernthemen der zukünftigen Partner wird Rücksicht genommen; Gewerkschaft, Frieden, Kirche, gehightlighted wird in Überstimmung.

Zum Themenfeld »Literatur« findet sich ein Satz. Zu »Sport« sind es drei Seiten, zum Teil sehr konkrete Absichten, welche Wettkämpfe Thüringen in sechs Jahren ausrichten möchte. Ich spüre keinen Groll, dass das eine eine solche Wertschätzung erfährt und das andere eine solche. Eher die Ahnung, wie so etwas zustande kommt, was auch der Sinn eines solchen Dokuments ist: Themen oben zu halten und das für die nächsten fünf Jahre und damit in einem Bereich etwas zu bewirken. Und das gelingt, indem einer in einer Gruppe eben sagt: Wintersportereignis in Oberhof. Und wenn niemand aus der Literatur in einer Arbeitsgruppe sitzt, wird sich zu Literatur eben nur ein Satz finden.

In der Pause sprechen die Anwesenden über Zeit. Planen können sie gerade wenig, Termine wie heute werden kurzfristig angesetzt, die Vereinbarkeit von Familie und Politik ist schwer. Für manchen war der letzte Urlaubstag im Februar. Der Wahlkampf war planbarer, seit dem 2. September ist es wesentlich aufreibender. Einer erzählt, dass er einen Flug in die Südsee am 20. Dezember gebucht hat, den kann mir niemand nehmen und erzählt weiter, dass er letzte Woche um diesen ersten Urlaub im Jahr gezittert hatte, als die Rede davon war, die Bundestagswahl schon im Januar abzuhalten. Dann hätte er die erste freie Zeit seit zehn Monaten nämlich knicken können.

Draußen ist es schon dunkel, als 133 mal gehighlighted ist. Nächste Woche treffen sich die Parteispitzen, gehen die Highlights durch, die blauen und rotmarkierten Stellen, die redaktionellen Bearbeitungen, ein nächster Schritt hin zur Regierung. Und ich denke: Das war eigentlich ganz schön, nach den Aufgeregtheiten der vergangenen Wochen und Monate hier sechs Menschen mit unterschiedlichen Positionen, die unaufgeregt und nichtfeindlich zwischen Prosa und Realität zusammensitzen und miteinandersprechen und versuchen, etwas zu tun, bei allen Hürden (mir ist ja bewusst, dass es davor nicht immer so gewesen ist), aber diesem Tag schon, highlighten, Textarbeit.

17. November | Schwachkopf & F-DDay-P

In den letzten beiden Tagen las ich hauptsächlich von zwei Männern. Einmal Robert Habeck. Im Sommer retweete ein bayrischer Ex-Feldwebel ein Bild, in dem Robert Habecks Porträtbild in eine Schwarzkopf-Werbung montiert war, Schwarzkopf mit Schwachkopf ausgetauscht. Robert Habeck stellte Strafanzeige wegen Beleidigung. An einem Aktionstag der Polizei mit Schwerpunkt auf Hasspostings zum Thema »Antisemitismus« erfolgte eine Hausdurchsuchung beim Ex-Feldwebel, weil – und hier wird es uneindeutiger in Aktion/Reaktion – gegen den Rentner zudem wegen des Verdachts der Volksverhetzung ermittelt wird. Diese ausführliche Beschreibung, weil dieser Vorgang – Schwachkopf-Beleidigung –> Hausdurchsuchung – seit Tagen Thema ist in den Echokammern (und darüber hinaus), Ableitung: ein totalitäres Vorgehen, das an den Missbrauch der Justiz in der DDR erinnere, ein Triggerpunkt, mit dem großes Tennis gespielt wird.

Seit Freitag auch ein Lesen, wie zwei große Zeitschriften umfangreich die Chronologie des Bruchs der Ampelregierung aufzeigen bzw. aufzeigen, wie die Planungen eines kleinen Kreises innerhalb der FDP unter Vorsitz von Christian Lindner stattfanden. Im September die Absicht, der Beginn des Projekts D-Day, benannt nach dem Stichtag militärischer Aktionen, oder, wenn man es genauer möchte, benannt nach der Landung der Alliierten in der Normandie im Zweiten Weltkrieg.

Der Rest folgt einem konzipierten Ablauf; Absprachen, Gespräche, Treffen, wirtschaftspolitisches Konzept, weil, laut den Berichten, Christian Lindner diese Fressen einfach nicht mehr sehen könne. Die Ereignisse der vergangenen Wochen (Interviewpassagen, veröffentlichte Artikel, Vorwürfe an politische Partner, Statements zur Teleprompterreden) werden anhand dieser Chronologie eingeordnet und ergeben ein stimmiges Bild, vor allem das Bild eines Politikers. Die Planung eines Bruchs ist eine Erkenntnis, die Lüge als Teil einer politischen Strategie, als Charakterzug eine andere.

Beide Männer in den Echokammern und darüber hinaus, was hat welche Relevanz, was triggert mich, ruft Emotionen hervor, warum.

18. November | über Fremde schreiben

Die letzten Tage Monate habe ich über andere Menschen geschrieben, meistens Männer; Habeck, Lindner, Merz, Musk, Trump, Gaetz, Harris, alles Menschen, die mir fremd sind, die niemals von meiner Existenz erfahren werden, denen vollkommen gleich ist, ob sie verteidige, sie kritisiere, sie verteufle, über sie schreibe, mich mit ihnen beschäftige.

Und dennoch tue ich es ja. Ich beschäftige mich mit ihnen. Exponiert in diesen Einträgen, die zudem öffentlich stattfinden, so dass gesehen werden kann: Er beschäftigt sich mit diesen Menschen, Politikern, ein vollkommen lautloses Schreien.

Doch selbst, wenn ich nicht dieses Jahr in dieser Chronologie schreiben würde, würde ich mich ja beschäftigen. Ich würde Texte über sie lesen, Berichte schauen, mit Gedanken machen, emotionalisiert werden, würde mit anderen über diese Fremden sprechen, auch meine Gegenüber hätten sich mit den Fremden beschäftigt.

Warum diese Beschäftigung? Weil die Funktionen, die sie ausüben (werden), Einfluss haben auf mein Leben? Der Finanzminister erhebt Steuern, die ich zahlen oder nicht zahlen muss, der Wirtschaftsminister sorgt dafür, das die Wirtschaft in meiner Region stark bleibt und damit meine Region, der amerikanische Präsident verhängt Schutzzölle, die Preise verändert, der Präsident verhält sich zu einem Krieg und deshalb verläuft der Krieg anders und deshalb sind die Konsequenzen andere für meine Region etc.

Ist es eine Beschäftigung wegen des Amts oder wegen der Person? Brauche ich das Bild eines Menschen, um etwas so Abstraktes wie Bruttosozialprodukt für mich erfahr- und erklärbar zu machen? Erklärbar zu machen, was gut/schief läuft? Bündeln sich Hoffnungen / Ängste in einer Person und reagiere ich deshalb in besondere Weise auf sie? Ist eine Person Ausdruck der verschiedenen Möglichkeiten, wie man die Welt gestalten kann und verspüre ich deshalb das intensive Bedürfnisse, diese Optionen und deren Widersprüche anhand dieser Person zu diskutierten?

Oder ist es die Person selbst? Ist es das Lügen von Christian Lindner, das mich in Erregung versetzt? Das Anzeigenerstatten von Robert Habeck als Teil einer Persönlichkeit, das mich in Rage bringt? Geht es bei Donald Trump weniger um einen amerikanischen Faschismus als um den Triumph des Bullys? Um Elon Musk und dessen irres, bauchentblößendes Springen auf einer Bühne und das Erstaunen, das dieses Irre kalkuliert ist und ihn um 60 Milliarden Dollar reicher macht?

Sind diese Namen Menschen für mich, Menschen, die sie für mich gar nicht sein können, weil ich sie nicht kennen kann? Sind sie Figuren einer interessanten, letztlich fiktiven, weil weit von mir entfernt spielenden Erzählungen? Sind sie Symbole einer gesellschaftlichen Gegenwart, der ich versuche, in kleinen Häppchen auf die Schliche zu kommen?

Warum schreibe ich über Fremde?

19. November | 1000 Tage

Heute 1000 Ukrainekrieg russischer Angriffskrieg auf die Ukraine. Überlege, was ich unter diese Unterschrift stellen sollte. Eines der Gedichte, die heute geteilt werden? Einen Auszug aus Ines Geipels Fabelland, »Vielleicht ist das das Mammut, das Massiv. Die Angst, das Unwiderrufliche, das späte Trauma, die Abwehrformate. Der mit 1989 abgesenkte Nachhall.«

Den Verweis darauf, dass dieser Krieg schon zehn Jahre währt und 2014 begann? Das Benennen aktueller Ereignisketten, die so typisch sind für die vergangenen 1000 Tage: Der Kanzler telefoniert mit Putin, wählt so ein diplomatisches Instrument, in Folge greift Russland verstärkt die Ukraine an, in Folge genehmigen die USA den Einsatz anderer Waffen, reflexhaft erfolgt aus den üblichen Kreisen in den üblichen Formaten die Formel, dass der Westen eskaliere, dass der Westen einen neuen Weltkrieg provoziere etc., ein wirksames 1000-Tage-10-Jahre-Spiel, das tiefe Kerben geschlagen hat.

Dann denke ich, dass die 1000 auch eine Zahl ist und damit Symbol und es gut sein könnte, sich zu vergegenwärtigen. Man hat sich ja an die täglichen Meldungen von Raketenschüssen auf Hochhäuser, Supermärkte, Kinderkrankenhäuser, Energiestätten, Universitäten gewöhnt, das Vermelden vom Niederbrennen und Auslöschen von ukrainischen Dörfern, Geschichten von Familien, in denen Vater oder Mutter oder Kind an den Särgen der von russischen Waffen getöteten Vater oder Mutter oder Kind steht, an die hingerichteten ukrainischen Kriegsgefangenen, hat längst den Überblick (und das Interesse) verloren am Verschieben von Grenzlinien, welche Waffen was bewirken, lässt sich, auch aus Gründen des Selbstschutzes, gar nicht mehr in den Fluss von Kriegsnachrichten reißen, nur hin und wieder eine Spitze, die einen erreichen kann, man ist gewöhnt an tausend Tage Krieg.

Deshalb ist die Tausend auch Gelegenheit, zurückzutreten und das Gefühl zuzulassen, wie ungeheuerlich diese 1000 Tage sind. Wie ungeheuerlich das gemeinschaftliche Versagen, ein Versagen von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, ein Versagen in unserem Sprechen darüber, im Diskurs, ungeheuerlich, wen wir im Zuge dieses Krieges die Deutungshoheit über den Begriff Frieden überlassen haben und seit fast tausend Tagen die gleichen Ereignisketten wieder und wieder abspulen, mit dem ungeheuerlichen Ergebnis, dass die Autoritären sich anschicken, diesen Krieg für sich zu entscheiden, die Ungeheuerlichkeit diesen einen Krieges, die Ungeheuerlichkeit eines Krieges.

20. November | Neutralität

Ich lese in vergangenen Einträgen und immer öfter geht mir dort das Fragezeichen, diese zur Schau gestellte Objektivität auf die Nerven. Das Fehlen einer Positionierung, weil ich von einem Bedürfnis lese, etwas verstehen zu wollen, was ich längst verstehe, aber viel zu selten benenne. Die notwendigen Widersprüche nehme ich als Entschuldigung, mich in Neutralität reinzuschreiben, letztlich als Abbitte für Feigheit, will mir nicht vorwerfen lassen, Für-und-Wider auszulassen. Aber das ist ja keine Talkshow, das ist etwas Tagebuchähnliches, ist meins, ohne jede Verpflichtung irgendjemanden gegenüber.

Am 17. November zum Beispiel. Natürlich ist es skrupellos, wie die FDP-Spitze den Bruch der Regierung inszenierte, verantwortungslos, wie sich Ministerinnen und Minister damit aus der Verantwortung stehlten, einfach aufhörten, zu arbeiten und stattdessen alle Kraft auf die Intrige verwendeten, dabei Kriegsvokabular verwendeten, skrupellos die Lügen, die dieses Vorgehen erforderte, empörend die fehlende Konsequenz der Partei, so vielsagend das fehlende Unrechtsbewusstsein.

Natürlich ist eine Hausdurchsuchung wegen Schwachkopf unverhältnismäßig und natürlich hat es diese beschworene Kausalkette nie gegeben, wegen Schwachkopf ordnet der Wirtschaftsminister eine Hausdurchsuchung an. Natürlich muss es möglich sein, sich nicht alles gefallen zu lassen und natürlich nutzen das Rechtsmittel der Anzeige Akteure quer durchs Spektrum (Markus Söder, Friedrich Merz, AfD-Landtagsabgeordneter, Marco Buschmann, Hubertus Heil etc.). Natürlich ist es sinnlos, sich in einem argumentativen oder moralischen oder entlarvenden Sinne an diese Problematik heranzutasten, weil die Bedrohung und Beleidigung bei Polarisierungsunternehmern ein Instrument ist, das in jede Richtung verwendet wird. Es wird bedroht, es wird beleidigt und wenn sich dagegen zur Wehr gesetzt wird, wird das ebenfalls entsprechend instrumentalisiert und das erregte Sprechen darüber hat eine weitere Funktion, neutral ist da nichts, neutral ist eine Illusion.

Weil, dann kommt es eben so, dass Marco Wanderwitz erklärt, kein neues Bundestagmandat antreten zu wollen, um seine Familie zu schützen, Wanderwitz als einer, der sich am deutlichsten gegen die Neue Rechte, die Verkrustungen in Sachsen und Ostdeutschland positioniert hat und das Schweigen aus seiner Partei ist, wie man so sagt, dröhnend, jenen, die ansonsten jeden Morgen mit Cancel Culture auf den Lippen erwachen, fällt nichts dazu ein.

Oder auch die Neutralität, mit welcher der Verfassungsschutz seine Bewertung der AfD, zu der er gekommen sein soll (gesichert rechtsextrem), vor der Wahl nicht veröffentlicht will, weil es die Chancengleichheit der Parteien beinträchtigen würde, wenn man vor der Wahl wüsste, dass die aktuell zweistärkste Partei als gesichert rechtsextrem gilt. Oder auch, wie sich in Amerika Medienkanäle und Demokraten schon mal jetzt vorsorglich in den Staub vor Mar-a-Lago werfen, Neutralität geht auf meine Nerven.

21. November | 4 bis 8

Aktuelle Wahlumfrage, nach deren Zahlen nur vier Parteien in den Bundestag einziehen würden. Dank 3-Direktmandats-Regel auch die Option, dass bis zu acht Parteien dabei sein könnten. Interessant die Pointe, wenn das BSW bundesweit unter 5% landen würde und die wichtigste Funktion des Bündnisses letztlich darin bestanden hätte, eine Regierung jenseits der AfD in Thüringen zu ermöglichen, morgen soll der Koalitionsvertrag veröffentlicht werden. In other news: Als Kanzlerkandidat der SPD geht Olaf Scholz  »ins Rennen«, damit vorerst das Ende einer Berichterstattung, die einem Sportereignis beizuwohnen schien. Weiterhin ein großes Reden über die Schwachkopf-Anzeige. Heute die Information, dass die Staatsanwaltschaft Bamberg den Hausdurchsuchungsbefehl vor der Anzeige durch den Wirtschaftsminister anordnete, gespannt sein, ob diese Information Verbreitung erfährt.

22. November | Ost Ost Ostdeutschland = Reich Reich Reichensteuer

Gestern eine Lesung von Steffen Mau in Weimar, auf der ich moderieren durfte. Ungleich vereint – Warum der Osten anders bleibt, mit der These, dass zwischen Ost- und Westdeutschland, neben vielen Gemeinsamkeiten Unterschiede bleiben werden und dass es dazu aus der Geschichte zu verstehen gilt, wie es dazu kam, um irgendwie einen Zugriff heute darauf zu finden. Wie so oft bei Mau ein ergiebiges Sortieren von dem, was ist, grundiert mit etlichen Zahlen und Studien, die Emotion kein Treiber der Texte, sondern ein Indikator unter vielen.

Die Gesprächsrunde im besten Sinn unaufgeregt, ohne großes Abschweifen und Triggern. Nur einmal ein Moment, als es in einer Frage um Vermögen geht, die großen Unterschiede zwischen Ost und West in Erbschaften / Immobilienbesitz etc. Da Bitterkeit. Ich werfe eine weitere Frage dazu. Erzähle von einer Rezension, in der dem Buch eine Art »therapeutische Wirkung« bescheinigt wurde.

Mir ging es ähnlich beim Lesen. Zu lesen: Die Unterschiede sind da, mittelfristig wird sich wenig daran ändern, deal with it, fühlte sich auch befreiend an. Keine unproduktive Oschmannwut mehr, sondern: von hier aus weiter. Mit dieser Feststellung, vor allem dieser Akzeptanz konstruktiv sein anstatt mit Ressentiments und Selbstmitleid Energie zu verschwenden.

Danach eine weitere Wortmeldung zum Thema Vermögensungleichheit, die auch versuchte, genau diesen Grollen abzuschöpfen. Und ich dachte, vielleicht ist es doch nicht so einfach. Das Anerkennen vieler Unterschiede bereitet keine Mühe; mehr Tennisplätze in Westdeutschland, mehr Kindergartenplätze in Ostdeutschland etc. Aber die Vermögensmauer anzuerkennen, zu akzeptieren, dass Ostdeutschland mittelfristig im Vergleich zu Westdeutschland deutlich weniger Wohlhaben besitzen wird, weniger Immobilienbesitzer, weniger Unternehmenssitze, also diese ganze ökonomische Nummer, die weiter führt zur Schicht- und Klassenfrage, ist etwas anderes. Letztlich setzt dies das Anerkennen einer Zwei-Klassen-Gesellschaft in Sachen Geld voraus. Wäre das nicht eine Kapitulation, ein Resonanzboden voll von Wut, aus der Polarisierungsunternehmer*innen mit ganzer Kraft schöpfen könnten?

Steffen Mau hört sich die Wut, auch Enttäuschung an und gibt freundlich als Antwort, dass, wenn es um Veränderung von Vermögensanteilen gehe, es ja schon Parteien gebe, bei denen Umverteilung einigermaßen Programm sei. Aber politische Kräfte, die diese Art der Ungleichheit angehen würden, würden von den Ostdeutschen nicht entsprechend gestärkt oder gewählt werden. Deshalb ein Befremden darüber, dass es diese Wut gibt und dennoch politisch die falschen Schlüsse seitens der Wähler gezogen werden.

Ich fand das in dieser Situation eine gute Entgegnung. Und überlegte, wie es denn wäre, wenn die spektakulären politischen Protestaktionen, die sich Ostdeutschland in den vergangenen zehn Jahren geschaffen hat – Pegida, Coronaspaziergänge, Mahnwachen für Russland, Bürgermobs vor Asyleinrichtungen – Aktionen für Umverteilung gewesen wären; Wir sind das Volk für eine Überreichensteuer, Vermögenssteuer, höhere Erbschaftssteuer, Kapitalertragsteuer etc. Denn das wäre mal eine Ossifikation, von der ich mich gern vereinnahmen ließe.

23. November | Koalitionsbrombeere

Gestern stellt die wahrscheinliche Brombeerregierung ihren Koalitionsvertrag vor. Und seltsam: Dadurch, dass aufgrund des Dokumentarfilms, den Yvonne & Wolfgang drehen, ich in diesem Jahr an einigen Momenten dieses langen Prozesses dabei sein und die Protagonisten mehrmals beobachten konnte, ist der Blick verändert. Von außen geschaut hätte ich vielleicht gezählt, wie oft die Worte Frieden und Mittelstreckenraketen im Textdokument vorkommen und wütend einen Skeet abgesetzt. Oder ich hätte einfach registriert, die haben sich geeinigt und inhaltlich hätte ich maximal eine kleine Handvoll Schlagwörter mitgenommen, den Weg dahin ausgeblendet, die Umstände.

So lese ich am Rand des Vertrags die Highlights, bei deren Highlighten ich vor einer Woche noch dabei war und das ist ein Beispiel von vielen, weshalb sich das so im Ganzen ein wenig anders für mich darstellt und auch, wenn es sich befremdlich und surreal anfühlt, das zu schreiben: Der Wille der ProtagonistInnen, diese Koalition in dieser Situation zustande zu bringen, erscheint mir als stabilster politischer Prozess in diesem instabilen politischen Herbst.

Und ich stimme mit Vielem im Vertrag nicht überein (»Der moderne Verbrenner ist eine Spitzentechnologie, die weiterentwickelt werden muss.«), finde viele euphemistisch Begriffe für Weiter-So, Nichtstun oder Verschlechterungen, finde viel Notwendiges dem Kompromiss geopfert und es sollte klar sein, dass es viele individuelle Beweggründe der Beteiligten gab, diese Regierung zu wollen (z.B. unbedingt Ministerpräsident zu sein). Aber mit einer Sperrminoritätenpartei im Nacken, zu wissen, dass jeder fade Kompromiss besser ist als ein Staatskanzleichef Möller, ging es letztlich um die Frage: BSW oder AfD. Von außerhalb ist es behaglich, auf das oder zu pochen. Hier halt nicht. Weil irgendetwas muss ja passieren. Und angesichts der Momente, in denen ich den Thüringer Vertreterinnen beim Unbedingt-miteinander-wollen zusah, ist das eine Sache dessen, was möglich ist, ist Pragmatismus, vielleicht auch Verantwortungsbewusstsein, natürlich neben Ernüchterung, Verschiebung und Ungewissheit.

Das geschrieben zu haben, das Wort stabil benutzt zu haben ist, zu wissen, dass in zwei Wochen auf dem Parteitag des BSW schon alles ins Gegenteil verkehrt sein könnte, im Bewusstsein, dass fünf Jahr dieses stabil gelten muss, soll dieser Eintrag komplett in kursiv stehen, so wie immer, wenn sich Gegenwart in Zukunft verflüssigt.

24. November | Baku Vanuatu

Ende der Weltklimakonferenz in Baku, mit einem Beschluss, der Worte festlegt, die Verpflichtungen sein könnten, die möglicherweise eingehalten werden müssten irgendwann in der Zukunft von irgendjemanden. Die Berichterstattung zeichnet in desillusionierendes Bild von dem, was in den letzten Tagen in Aserbaidschan geschehen ist; wieder eine Zusammenkunft, auf der jene rabiat den Ton angaben, die kein Interesse an Notwendigkeiten haben.

Überhaupt die offensichtliche Absurdität, diese Unverfrorenheit, ein solch elementares Treffen in einem Land wie Aserbaidschan durchzuführen, das die wiederholte Bereitschaft am Versagen schon in sich trägt. Diese unverständliche Unlust an der Rettung, die natürlich eine Logik von Macht und Kapital ist und deshalb gut zu verstehen ist und obwohl sie so durchschaubar ist und obwohl es keine Alternative zur Rettung gibt, schlagen die Strategien zur Rettung erneut fehl. 1,5° ist eine Utopie der Vergangenheit, das wissen wir seit Jahren.

Ich könnte Baku einreihen in die lange Kette der verheerenden Enttäuschungen, als Beleg dafür, dass es wenig Hoffnung gibt, diese systemische Kausalität zu überwinden. Aber, so darf es nicht sein. Weil jedes Treffen dennoch die Gelegenheit zum öffentlichen Reden gibt. Weil in jedem Baku dennoch ein Vanuatu spricht. Weil dennoch Menschen zusammenkommen, die für 1,5° kämpften und jetzt eben für 2° und das besser ist, als die 3° als gegeben anzunehmen. Weil sich Gedanken, Ideen, Paradigmen, Techniken, Strategien dennoch einfügen in die Weltlage, parallel laufen, zu Routinen gehören, eine Gewöhnung an das Nichtfossile stattfindet. Weil es letztlich notwendig ist, das Bessere zu tun.

25. November | Fragmente eines zufälligen Tages

Ich lese, in Rumänien gewinnt ein Rechtsextremer, den man vor der Wahl bei 5% gesehen hat, wegen TikTok die erste Runde der Präsidentschaftswahl. Ich telefoniere. Ich lese, wie sich mehrere deutsche Liberale für Javier Milei begeistern. Ich fahre Bus. Ich lese, dass die SPD ihren Kanzlerkandidaten gekürt hat und dass Saskia Esken sagt: »Wir haben kein wirklich gutes Bild abgegeben bei der Nominierung unseres Kanzlerkandidaten.« Ich erkläre jemanden, was ein Faxgerät ist. Ich lese, dass Sonderermittler Jack Smith das Strafverfahren gegen Trump einstellen will. Ich kaufe einen Weißkrautsalat. Ich lese, dass ein Bestatterehepaar Beton statt Asche in 190 Urnen füllte. In einem Vorraum fragt ein Junge in die Runde, ob jemand die Böhsen Onkelz hört und spielt dann vom Smartphone mehrmals den Anfang von L’amour toujours ab. Ich lese vom Privatleben Annalena Baerbocks. Ich schreibe eine Email. Ich lese: Immer mehr Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Ich jogge im Park. Ich lese ein Interview mit Angela Merkel anlässlich ihres Buchs, in dem sie etwas sagt, dass Elon Musk verärgert, weshalb Elon Musk Angela Merkel auf X beleidigt. Ich werfe Erbsen in eine Pfanne. Ich lese, ein chinesisches Schiff soll mehrere Hochseekabel durchtrennt haben. Ich gieße eine Topfpflanze. Ich lese, dass Pep Guardiolas Mannschaft schon wieder verloren hat. Ich setze eine Waschmaschine an. Ich lese, in Litauen ist ein DHL-Flugzeug abgestürzt.

Ich lese, wie ich vor ein paar Tagen an jemanden schrieb: Ich stehe auf, mache was, gehe wieder schlafen. Das ist die Realität, die ich erlebe. Ich leite von dem, was ich erlebe habe, manchmal eine Art Allgemeingültigkeit ab: Die Bahn ist auch in anderen Fällen oft unpünktlich, das Schulsystem ist so, wie es bei meinen Kindern erlebte, etc. Aber das ist gefühlt, nicht belegt. Von der allermeisten Realität nehme ich nichts unmittelbar wahr. Von einigem wenigen der vielen vielen Ereignisse der Realität erfahre ich: durch Gespräche oder vor allem durch Medien / Kanäle / Aufzeichnungen. Manches bekomme ich ungefragt präsentiert, einiges suche ich gezielt. Was passiert in der Politik, im Fußballstadion, in einem Land. Das, was real dort passiert ist, wird abgebildet und so erfahre ich, dass es passiert ist, dass etwas real war. Das heißt aber nicht, dass ich »die Realität« erfahre. Sondern nur Ausschnitte. Meine Frage ist die nach der Gewichtung dieser Ausschnitte.

Am Abend schaue ich 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls. Ich fühle mich verstanden.

26. November | Merkeljahre

Foto stammt aus dem Februar 2012 aus einer Schule in Krefeld und zeigt eine Wandzeitung

Heute erscheinen unter dem lazy Titel Freiheit die politischen Memorien Angela Merkels. Seit Tagen das mediale Bemühen, diese Erinnerungen als Diskurs in die Gegenwart zu implementieren. Und natürlich: Ein Verlag kauft teuer das Recht ein, Angela Merkel zu ihrer politischen Laufbahn befragen und diese Gespräche in einen Fließtext packen zu können und überlegt, dass die Vorweihnachtszeit eine gute Zeit wäre für Aufmerksamkeit, ein Jahr noch hin bis zur Bundestagswahl, ein guter Moment, sich zu erinnern, vielleicht etwas zu schwelgen in 16 Jahren, die auch goldenen schimmern angesichts dieser unstabilen Jetztzeit. Wenn Angela Merkel eins gewesen ist, dann stabil, zumindest muss das jetzt so scheinen, Danke Merkel nicht mehr sarkastisch verwenden, sondern 1:1.

So ist das gedacht gewesen und ich verstehe diese Anstrengungen und merke, dass ich gerade keinerlei Impuls verspüre, mich mit einer vergangenen Ära zu beschäftigen, einzutauchen in ca. 700 Seiten unaufgeregte Beobachtungen aus der Berliner Republik.

Und doch denke ich, dass jede Regierungsperiode Wegmarken hat. Jede Koalition hat ihren Mount Everest, wird überrumpelt von einem Ereignis, welches Charakter, Tüchtigkeit und Kompetenz der Beteiligten offenbart: Finanzkrise, Eurokrise, die Fluchtbewegungen von 2015, die Pandemie, Ukrainekrieg. Gesellschaftliche Wegpunkte, von denen aus Pfade in den dunklen Wald geschlagen werden.

Und jede Regierung trifft Entscheidungen, die sich scheinbar gegen die eigenen Werte richten: eine sozialdemokratische Regierung beschließt die Agenda 2010. Eine konservativ-liberale Regierung beschließt den Ausstieg aus der Atomkraft. Eine konservative Regierung lässt die Grenzen offen. Grüne an der Regierung ergreifen Partei für Waffen.

Was wird dieses bestimmende Ereignis für die kommende Regierung sein? Welchen eigenen Grundwert wird sie überdenken müssen?

27. November | Debattenbiotop

Foto stammt aus dem Februar 2012 aus einer Schule in Krefeld und zeigt eine Wandzeitung

Leider gedeiht doch ein Debattenbiotop zu Angela Merkels Freiheit heran. Vielleicht, weil ein Leben in dieser Funktion und mit der Dauer, in der diese politische Funktion ausgeübt wurde, Projektions- und Diskussionsfläche ist für sehr viel Politisches aus langer Zeit ist, sie damit auch stellvertretend steht für die ungelösten Fragen der Gegenwart, die sich ja immer auch aus der Vergangenheit speisen; Umgang mit Russland, Atomkraft, ein Niedergang von Infrastruktur, Solar- und Windbranche, Klimaveränderungen, Migration, auch, wie die FAZ schreibt »Selbstbewusst stellt sie zum ersten Mal ihren bislang verschleierten ostdeutschen Körper aus.«, der verschleierte ostdeutsche Körper.

Besonders offenkundig die Ansprachen auf Amazon. Nach zwei Tagen das 700-Seiten-Buch schon mit 24 Sternebewertung, 2/3 davon mit einem Stern. Tenor: Die Biographie der Frau die Deutschlands in den Abgrund stürzte. Dieses Buch ist eine Unverschämtheit. Die beste Kanzlerin der Grünen. Der Titel ist ein Schlag ins Gesicht eines jeden Deutschen Bürgers. Hab nach dem Titel aufgehört zu lesen. Eigenlobt stinkt! Einfach nur schlecht, aber naja, wer erwartet da auch das was gutes bei rauskommt!? Hiermit möchte ich mich ganz herzlich für die installierten “Meldestellen” bedanke. Mit den Folgen der gesellschaftsverändernden, ungeregelten Migration, dem importierten Antisemitismus, der totalen Überforderung und dem Scheitern an der Integration muß die deutsche Bevölkerung nun leben. Mal schauen, ob der Friedrich uns aus dem Schlamassel wieder herausbekommt. Nein Frau Merkel: Sie haben Deutschland nicht freier oder sonst irgendwie besser gemacht. Ganz im Gegenteil.

28. November | die erde ein umweg

die erde ein umweg Beinah ist es so, dass sich trotz Plusgraden ein Schneeflaum über das nahe Jahresende gelegt hat, so, als wollte es sich vorsorglich schon einmal einfrieren, weil die Weichen ja gestellt ist und es so scheint, dass dies der Kurs zu sein hat, von dem wir kommen mit dem wir gehen.

Wochenlang sondiert und kollidiert, um koalieren zu können, dieses ostdeutsche Transformationskapitel kurz vor dem Abschluss, der lange Lauf vor dem gespannten Zielband. Der große Wahlkampf gähnt noch zögernd, dday, Kanzlerdemontage, Küchentischgespräche, Silberlocken. Klar, Trump wird fürchterlich werden, aber daran zu rütteln ist nicht mehr, also, wenn möglich, auf die Zuschauertribüne. Ansonsten die Routinen; der vor dem Bundestag kneifende Björn Höcke mit SS-Zitaten, Kanäle mit der Wirklichkeit entgegenlaufenden Informationen über Atomstrom aus Frankreich etc.

Aber, soweit, um ein anderes Bild aufzurufen, das Brett für das kommende Jahr ist bereitet, die Figuren aufgestellt, die ersten Züge scheinen erwartbar. Eine seltsame Ruhe hält Einzug, sicher auch notwendig, mal verschnaufen, in die Stadt gehen in der kurzen Zeitspanne, in der keine Wahlplakate um Kontroversen buhlen. Die Lichter auf dem Markt gehängt, die Eislaufbahn montiert, die ersten Bahnen werden schon gezogen, Glitzer in den Köpfen, Kalenderblätter, die schnell umgeschlagen werden, um möglichst ohne Umweg zu den besinnlichen Tagen zu kommen, die Warnungen vor abstrakten Bedrohungslagen auf den Weihnachtsmärkten im Smartphonespeicher und trotzdem vom ersten Glühwein schon betrunken. Und deshalb an diesem Abend eine Lesung, Gedichte von Gisela Kraft, eines über den Tag, an dem ihre Schwester zur Welt kam, in Weimar, im Februar 1945, beim Bombenangriff, Bomben und eine Geburt, das hören in diesen scheinbar beruhigten Tagen, die erde ein umweg

29. November | Beginn der offenen Feldschlacht

Weil Berichterstattungen drohten, veröffentlicht gestern die FDP Momente vorher selbst: die Power-Point-Präsentation D-Day Ablaufszenarien und Maßnahmen, in der strategische Überlegungen zum Verlassen Bruch der Regierungskoalition auf acht Seiten festgehalten sind:

der ideale Zeitpunkt, der ideale Weg, das ideale Bild, Feintuning Narrative, Hoheit über die Kommunikation, entscheidend, die ersten Sätze zu setzen, Höchster Überraschungseffekt, Die Atmosphäre muss ernsthaft aber nicht getrieben wirken, CL geht ins politische Risiko durch Ankündigung (dürfte gering sein), Ampel begann mit einem Selfie und endet auch so

Dazu dieses Pyramidendiagramm

Am späteren Nachmittag die Reaktionen. Selbst Kanäle, die seit Wochen unbeirrt an der Seite CLs stehen, titeln nun: »D-Day-Lüge! FDP entlarvt sich selbst«. BlueSky flutet sich unter dem Hashtag »Jetzt gehen die Liberalen zu weit« mit Pyramiden-Memes. Es ist auch die diebische Freude darüber, einen Lügner beim Lügen ertappt zu haben, schon wieder.

Die drei Stadien dieses freiheitlich-liberalen Lügens: Das Lügen bis zum 6. November mit Lüge konstruktiver Regierungsarbeit. Das Lügen bis zum 28. November mit dem Abstreiten der Rechercheergebnisse und der Verwendung von Begriffen wie D-Day. Und aktuell das, man muss noch schreiben, mutmaßliche Lügen nach dem 28.11., die Behauptung, Beschäftigte in niederen Rängen hätten die Pyramide ohne Kenntnis der Führungskräfte gezeichnet.

Es ist das Lügen. Das Lügen über das Lügen. Das Lügen über das Lügen des Lügens. Die Selbstherrlichkeit zu glauben, damit durchzukommen, einmal, zweimal, dreimal. Die Unfähigkeit zur Reflexion. Das Unvermögen zum Eingeständnis. Ist die Verwendung martialischer Begriffe wie D-Day, Feldschlacht, Schlachtruf oder Geiselhaft. Es ist auch der Dilettantismus; einerseits ein Wording wie »Narrative qualitativ setzen« und dann auf kompletter Linie das Narrativ quantitativ aus der Hand geben. Ist auch die Dreistigkeit, das PowerPoint in Verbindung mit einem Satz wie »Wir stellen Transparenz her« zu präsentieren.

Und auch: Die Erkenntnisse der vergangenen Wochen über drei Jahre Regierungsarbeit legen. Dort abgleichen mit Entscheidungen und Kommunikation. Die Vorstellung, was möglich gewesen wäre, wenn die beteiligten Personen dieser Partei ein anderes Verständnis von Politikkultur gehabt hätten, Demut, eine andere charakterliche Verfassung. So lache ich über Pyramide, PowerPoint-Marketingsprech und Memes, aber das Lachen ist hauptsächlich bitter und bedauernd.

30. November | qualitativ ein Narrativ setzen

(1) FAZ: »D-Day-Papier: Bijan Djir-Sarai tritt als FDP-Generalsekretär zurück«

(2) Wolfgang Kubicki: »Und mir ist es völlig egal, wie es zu Ende ging. Ich bin froh, dass es zu Ende ist und wir endlich was Neues beginnen können.«

(3) BILD erfährt exklusiv: »Christian Lindner und Franca Lehfeldt: Ihr erstes Kind kommt im Frühjahr«


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