Nach der Wahl
1. September | Wahlabend
Thüringer Landtag, Wahlabend. Fast 700 Akkreditierungen, deshalb die Empfehlung, rechtzeitig vor Ort zu sein. Vor dem Landtag ist weiträumig abgesperrt, Dutzende Polizeifahrzeuge aufgereiht in den Straßen, drei angemeldete Demonstrationen für den Abend. Die Sicherheitsleute an der Sicherheitsschleuse kontrollieren sorgfältig.
Uns ist der Platz vor dem Fraktionszimmer der AfD zugewiesen. Dort haben sich schon Medienvertreter mit Klappstuhl einen Platz gesichert, denn dort soll nach dem Ausschluss der Medienvertreter von der Wahlfeier die eine Pressekonferenz des vermutlichen Wahlsiegers stattfinden. Jemand von der Jungen Freiheit verteilt Informationen, »Ja, Höcke hat erst ein Interview mit uns, aber danach können Sie sich alle auf ihn stürzen.« Er wirkt zufrieden, man muss zuvorkommend sein zur Jungen Freiheit, um Informationen zu erhalten, um Zugang.
Ansonsten ist es unauffällig still bis kurz vor 18.00 Uhr. Im Plenarsaal hat sich das ZDF ihre Kulissen aufgebaut, oben die ARD, verantwortet vom mdr, Deutschlandfunk sitzt vor dem Saal, da, wo die Gemälde der ehemaligen Landtagspräsidenten hängen, schreiben die Printjournalisten. Ein junger Mann mit Kurzhaarschnitt und straff gestecktem Hemd wieselt mit aufnahmebereitem Compact-Mikrofon durch die Gänge.
18.00 Uhr explodiert die Geschäftigkeit. Journalisten dürfen in Liveschalten endlich die Zahlen verkünden, die Printleute müssen die ersten Artikel bis 18.10 Uhr fertig haben. Vorher schon Gerüchte, wer wann wo auftauchen könnte; Läuft Höcke aus der Tiefgarage durchs Foyer, wann kommt Ramelow, wann Voigt?
Georg Maier tritt vor Kameras, erklärt 6%. Wenn eine Kamera an ist, sind es zehn weitere auch und zwanzig Mikroangeln recken sich der Stimme entgegen, die Stellung beziehen muss zu Stimmverlust/Stimmgewinn, künftigen Koalitionen. Jede Stimme hat nur einen Moment, weil dann schon die nächste Stimme den Gang entlangeilt. Manche schleichen. Thomas Kemmerich, nur 0,1 Prozent liegt seine Partei vor der Tierschutzpartei, er ist jemand, auf den sich die Kameras kaum mehr richten. Dafür richtet es sich Stephan Brandner gemütlich am Radiomikrofon ein, Katrin Göring-Eckardt steuert daran vorbei auf RTL-Kulisse zu.
Je größer der Tross, desto wichtiger die Stimme. Mario Voigt, der im Laufen beständig auf seinem Smartphone tippt, folgen viele, und die, die es nicht tun, reihen sich ein. Zumindest bis gleich darauf Björn Höcke denselben Gang entlangrauscht, umringt von dreißig, vierzig Kameras und Mikrofonen, er schreitet, als würde er auf einer Simson durch den Landtag reiten, spürt Fahrtwind und Freiheit, man drängt sich darum, seinen Gesichtsausdruck einzufangen oder zumindest einen Blick auf das ergraute Haar, Björn Höcke läuft als Wahlsieger durch den Landtag, das ist das Bild, das nach außen gehen muss.
Wer die Stimme hören will, darf nicht zögern. Sofort fragen, einklinken ins Gespräch, zwanzig Sekunden Antwort, darum geht es. Wer nicht gefragt wird, ist nicht mehr von Bedeutung. Die Anfangszeiten der großen Übertragungen (heute, Tagesschau) sind gesetzt, der Rest der Termine dem untergeordnet.
Hier und dort sein, Informationen aufschnappen, keine Zahlen, weil keine Zeit ist, an einem der Monitore zu verweilen, um die jeweils aktuellen hochgerechneten Prozente abzugleichen mit der eigenen inneren Verfassung. Keine Zeit, irgendwie emotional zu reagieren, irgendwie zu erfassen, was dieser Abend bedeutet für einen selbst, die Orte, an denen man lebt, die Zeit, in der man lebt.
Stattdessen fragen: Wie sicher ist die SPD drin? BSW über oder unter 15%? Sperrminorität ja oder nein? Sind die Briefwahlstimmen schon gezählt? Kommen CDUBSWSPD auf 45 Sitze? Gummibandgleich die Infos, die Brocken, die einem zugeworfen werden, die man erhascht, die Prognosen, das Wissen, die Vermutungen, die schnellen Analysen. Es ist auch ein Rausch, 18.01 Uhr bis 21:00 Uhr, drei Stunden, die sich wie sechs Wochen Wahlkampf, wie fünf Jahre Minderheitsregierung anfühlen, wie zehn Jahre Thüringen mit MP Höcke, der an diesem Abend wesentlich wahrscheinlicher geworden ist.
Kein Atemholen, dem Abend ein oder zwei Momente zu entreißen, die im Rückblick vielleicht sinnbildlich dafür stehen können für das, was heute geschehen ist: Am Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf Polen macht ein Drittel der Thüringer Wahlberechtigten wissentlich eine rechtsextreme Partei zur stärksten Partei. Ein Drittel am 1. September.
Später leert sich der Landtag. Die Protagonisten sind aufgebrochen zu den Wahlpartys. In der Kantine sitzen, was essen und auf einer Leinwand zuschauen, wie man außerhalb Thüringens erklärt, wie die Thüringerinnen gewählt haben. Wie man den Osten erklärt. Sachsen erklärt, wo die AfD nur nicht stärkste Kraft geworden ist, weil viele Tausend die Freien Sachsen gewählt haben. Die Thüringer Verhältnisse erklärt, Stadt/Land, Wut auf Ampel, DerOstenEineErfindungDesWestens, MigrationMigrationMigration. Und ja, es interessiert mich wirklich sehr, was Jens Spahn zu Thüringen zu sagen hat oder ob ein CSUler die Zahlen für eine Klatsche für Berlin hält oder wie Robin Alexander die Lage einschätzt.
Noch später schaut Sahra Wagenknecht vorbei. Weil kaum noch Kameras da sind, kann Yvonne mehr als eine Frage stellen. Wir gehen hoch zum ARD-Studio, Katja Wolf in einem letzten Schlagabtausch mit dem Landessprecher der AfD. Anschließend steht sie bei uns, erzählt über den Tag, dass es so gut wie keine Sekunde gab, in der sie nicht vor einer Kamera stand. Die Servicekräfte im Landtag laufen mit Mülltüten durch den Landtag. Als sie damit knistern, weist sie eine Sicherheitskraft zurecht, kein Knistern in der Liveschalte.
Noch später beim Wahlleiter stehen, die Ergebnisse der einzelnen Wahlkreise sehen, sehen, dass fast alle Spitzenkandidatinnen ihre Wahlkreise nicht gewonnen haben, noch mal die Zahlen abrufen, ein Patt ist entstanden, im Kopf all die Stimmen durchgehen, die was gesagt haben dazu, wie es kommen könnte, die Optionen, die es nun geben könnte, die Szenarien. Vor dem Landtag keine Demonstration, Licht brennt, noch.
2. September | alles vor die Hunde
Am nächsten Tag wie immer: Die Schlange beim Brötchenverkauf, weil nur eine Verkäuferin da ist, der Paketbote, der um die Mittagszeit klingelt, der Erzieher, der drei Kinder an der Hand hat, weil die Hälfte der Erzieher krankheitsbedingt fehlt, die Stadtreinigung, die neuen Sand in den Sandkasten auf dem Spielplatz kippt, das Pflegeauto, das vor dem Haus gegenüber parkt. Ich verspüre große Lust, das alles vor die Wand fahren zu sehen, zu sehen, wie ein Land unter dem Wahlsieger aussehen würde, 20-30% entleert, den richtig großen Drang zu sagen: Dann jetzt eben so. Aber ohne mich. Auch wenn ich weiß: Das ist keine Option, heute fühlt es sich so an, alles vor die Hunde.
3. September | heute, in fünf Jahren
Am zweiten Tag nach der Wahl verspüre ich weiterhin keine besonders große Lust, Analysen zur Wahl zu lesen, keine Stimmungsbilder aus Thüringer Kleinstädten, keine Spekulationen darüber, wie sich eine mögliche Tolerierung einer CDU geführten Regierung durch Die Linke auf die Kanzlerkandidatur Friedrich Merz’ auswirken könnte. I really really don’t care.
Ich denke: Es ist auch mal okay, still zu sein. Traurig sein. Wütend sein. Bestürzt sein. Leer zu sein. Nichts zu machen. Gestern ging ein Demonstrationszug durch Weimar, ich war nicht dabei, wegen Alltagsverpflichtungen, und auch wenn ich es weiterhin elementar finde, all die oben genannten Gefühle auch draußen zu zeigen, kann ich mich gerade nicht in Demonstrationszüge einreihen, denke, dass es auch etwas anderes braucht für die kommenden fünf Jahre.
Ich war nur kurze Zeit beim Wahlkampf beobachtend dabei und doch fühle ich mich maßlos erschöpft. Es wäre schön, wenn so wäre: Bis zum ersten September. Und dann erst mal treiben lassen. Auszeit. Viele Monate alles politisch und jetzt zurück in den unpolitischen Alltag. Aber wie soll das gehen bei: Sondierungsgespräche, Koalitionsgespräche, Landtagspräsidentenwahlgespräche, Ministerpräsidentenwahlgesprächen, Haushalt festzurren, Gesetze machen in einer Pattsituation und dabei eine völkische Partei mit Sperrminorität. Die Wahlplakate werden abgehangen, jetzt beginnt es.
Ein Bild von Samstag im Kopf, ganz konkret: Auf der Bühne die geschichtlich und strategisch in 1000-Jahren-Zeiträumen denkenden Vorsprecher, davor die Normalos – einer half, den Kameraakku zu wechseln, eine hielt den Schirm und sie alle sind aus Nordhausen oder Altenburg extra nach Erfurt gefahren, weil es ihnen wichtig war –, dahinter, dazwischen, neben ihnen die schwarzgekleideten Neonazis, Gruppen, die sich Namen von Divisionen geben und Todeslisten führen. Sie sind keine Randerscheinung, niemand, der sich irgendwie verirrt hat auf den Domplatz, Einzelne, die vielleicht stören. Sie sind das Salz in der Suppe, sind das Fundament, das, was man kriegt, die Divisionen kriegt man und wenn dieses Bild (Bühnenprominenz / Normalos / Nazis) nicht von der Mehrheit gesehen wird oder gesehen werden will, dann wird die Funkemediengruppe weiterhin Pro & Contras zur Regierungsbeteiligung schreiben und das für einen demokratischen Akt halten, zu dem es viele begeisterte Leserbriefe geben wird.
Und so ist es im Grunde nicht diese Wahl, sondern die Wahl in fünf Jahren. Wenn sich die CDU hat von einer Linken tolerieren lassen und das BSW so und so viele Erwartungen nicht hat erfüllen können, weil sie in der geballten Erwartungswucht gar nicht zu erfüllen sind (Ukrainekrieg von Thüringen aus beenden, alle Lehrerinnenstellen besetzen, gerechte Rente, alle Bürokratie beenden, Waldsterben beenden, demografischen Wandel beenden), dann ist es Zeit für die wirkliche Ernte.
Wir haben viele Medienvertreterinnen getroffen, die in den letzten Wochen sehr intensiv unterwegs waren, die bestmöglichst versucht haben, zu beobachten, zu beschreiben, zu verstehen. Wahrscheinlich gab es kein Dorf, in dem sie nicht waren und das war gut und das war besonders, dieses Ausleuchten. Aber heute ist es schon wieder zurückgegangen nach Berlin; Brandenburgwahl, Ampel, Merz, Söder. Ich aber, wir bleiben hier, still heute, erschöpft hinein in die kommenden Jahre.
4. September | Mentalitätszement
Weiterhin kickt das Interesse für die Sondierungsgesprächsphase dieses politischen Jahres noch nicht rein. Dabei passiert ja schon einiges in den ersten drei Tagen nach dieser Wahl: Diese Partei beschließt, Gespräche mit diesen Parteien aufzunehmen zu wollen, diese auch. Jemand wartet, dass auch er angerufen wird. Eine Partei sagt, mit dieser Partei bitte nicht sprechen, sonst zerreißt es unsere Partei. Eine Frau aus Greiz sagt, aber auch bitte mit dieser Partei sprechen. Man spricht vom Wählerwillen, der will, dass die 33 Prozent ernst genommen werden. Und man erfährt, dass so und so viele Richter in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen werden und wer mit Sperrminorität dann was entscheidet.
Und ich nehme mir den Luxus, weitestgehend unwissend darüber zu bleiben.
Eine Möglichkeit wäre, mir auszumalen, was die Wahl für eine konkrete Politik bedeuten könnte; Gendern an öffentlichen Plätzen mit zwei Jahren Freiheitsstrafe belegen, jede, die grün gewählt hat, muss eigenhändig ein Windrad abbauen, oder konkreter, welchen Vereinen, Bündnissen, Projekten werden Gelder gekürzt.
Aber eigentlich denke ich, dass Politik mir gerade zu konkret ist. Eigentlich denke ich mehr an Mentalität. Wie lässt sich die Mentalität eines Landstriches beschreiben, in dem eine solche Zustimmung geschieht? Was sagt es über den Alltag aus, die kleinen Dinge, den Umgang miteinander? Was über die Menschen, ihr Hoffen, ihr Mitgefühl? Was sagt es darüber, was sie bereit wären zu tun? Was bedeuten fast 40 Prozent Zustimmung bei den 18-24jährigen für Feuerwehren, für Klassenzimmer, für Nachbarschaften und Vereinen? Ist das, was sich am 1. September in Zahlen ausdrückte, fluide? Oder ist das ein Teilschritt in einem andauernden Prozess des Zementierens? Und was wäre das für ein Landstrich, so voller Mentalitätszement?
Und eigentlich will ich das gar nicht wissen. Eigentlich will ich das gar nicht erklärt bekommen. Kein Ausleuchten mehr, kein Wie-tickt-der, keine Stimmungsbilder oder Porträts, keine Erklärungsversuche. Davon gab es in den letzten Jahren reichlich, verstanden wurde viel. Die Erklärung ist manchmal komplex und noch öfter sehr banal.
Der Tag ist schwül und drückend, nachmittags zieht eine Art Gewitter auf, Regen, Donner, aber nichts nimmt die Schwüle, es bleibt drückend.
5. September | Immer auch ins Wasser springen
In den letzten Tagen die Nachrichten von Freunden und Bekannten von außerhalb, die fragen, wie es geht. Am Nachmittag in die Anna-Amalia-Bibliothek, zur Lesung eines Projekts, ein Satz von Daniela Danz wird vorgelesen: »Immer wenn die Katastrophe eintritt, wird klar, wie lange es gut gegangen ist.« Danach mit jemanden von außerhalb Deutschlands zusammenstehen, sprechen über Sonntag, er sagt, das Reden darüber erscheine ihm zu eng, die Zentrale (=Berlin) wäre nicht mal zu einer großen Geste fähig. Fügt hinzu, fragt, Sollen sie es doch einfach machen, lass sie regieren und alles in den Sand setzen. Einer sagt: Du kannst zurückgehen, wir nicht. Später auf den Theaterplatz schwenkt Tommy Neuwirth vor dem Denkmal eine Deutschland-Fahne und singt auf die Melodie von »Final Countdown« mit Autotune-Stimme: »Natürlich hab ich Angst«, (16x). Die letzten Tage auch im Freibad gewesen, Bahnen gezogen, immer auch ins Wasser gesprungen.
6. September | Brombeere
Schon beim Verfassen des gestrigen Eintrags gemerkt, wie redundant es doch ist: das Fokussieren auf einen Landesteil, das Abschreiben aller Optionen, irgendwie auch das Suhlen in einem Jammertals. Kann ja nicht bis Jahresende nur solche Beiträge mehr schreiben.
Was aber dann? Schon seit einiger Zeit die Idee für ein Projekt, für das heißen würde, wieder hinauszufahren ins Land und beobachtend und sprechend das Land und seine Leute zu fassen zu kriegen. Nur ist, dass ich darauf kein Bedürfnis verspüre; nichts von Verlusten und Zuständen hören, von Transformationsprozessen, Stimmungsbilder zeichnen, möglicherweise Argumentationsgesprächen zuhören etc. schon gar pädagogisch sein, irgendetwas vermitteln oder erreichen wollen. Weil es sich anfühlt wie: Entweder schreibt man darüber, wie tief sich die politische Mentalität in die Leben gegraben haben. Oder man spart es absichtsvoll aus und erzählt dann nur einen Teil dessen, was ist. Es ist so, als wäre es egal, ob man thematisiert oder nicht, Thema ist es ohnehin.
Was aber dann? Eine Antwort habe ich an diesem Tag nicht, muss vielleicht auch nicht. Vielleicht genügt es, dass ein Wort gefunden ist für eine mögliche Zusammenarbeit zwischen CDU & BSW – die Brombeerkoalition.
7. September | Weltformel
Nach einigen Monaten Corona kam ein Bild auf: die Pandemie als Brennglas, welches die strukturellen und gesellschaftlichen Probleme des Landes sichtbar macht. Jetzt gibt es wieder ein Brennglas, ein Problem, das sichtbar und letztlich erklärt, warum so vieles in unserem Land schiefläuft. Friedrich Merz, erklärt, ein ambitioniertes Beispiel von sehr vielen gerade: »Schaut euch die Schulen an, schaut euch die Wohnraumsituation an, schaut euch die Universitäten an, schaut euch die Krankenhäuser an, schaut euch die Arztpraxen an, schaut euch an, was das für Konsequenzen hat, wenn ein Land durch Migration überfordert ist.«
Und weil das so ist, weil Migration die Erklärung liefert für hohe Mieten, Landarztmangel, Krankenhauszustände, in den Abgrund gleitendes Bildungssystem, müssen wir als Gesellschaft keinen sozialen Wohnungsbau fördern, wir brauchen keine Mietbremsbremse, wir müssen in einer Rezession nicht investieren, wir brauchen keine Überarbeitung der Schuldenbremse, wir müssen uns nicht der mit prekärer Beschäftigung in der Wissenschaft beschäftigen, mit Renditeerwartungen von öffentlichen Einrichtungen / Gesundheitsversorgern / ÖPNVs, brauchen keine Digitalisierungen in Schulen / Deutscher Bahn, wir müssen keine Brücken in Schuss halten, die Einzahlstruktur in Rentenkasse/Krankenkasse überdenken, uns nicht damit beschäftigen, wer wie schnell hier arbeiten darf, wessen Abschlüsse hierzulande wie schnell anerkannt werden, Bürokratieabbau etc etc etc, wir müssen nur das Problem Migration lösen. Dann lösen wir den Rest.
Und wäre das Problem Migration gelöst und wären die anderen Probleme dann möglicherweise nicht gelöst, dann müssten wir das Problem Migration möglicherweise noch entschlossener lösen und möglicherweise den Begriff Migration etwas weiterfassen, dann müssten wir größer denken und uns keine Denkverbote auferlegen und uns am Ende leider möglicherweise doch ins Knie remigrieren, weil wir haben ja das Brennglas für unsere krisengeprägte Gegenwart gefunden, die Theorie von allen, unsere Weltformel.
8. September | Außenwirkung
Was auffällt: Wie viele der in dieser Woche erschienenen Artikel über Thüringen / Deutschlands Zukunft mit der AfD mit Bildern von der Abschlusskundgebung letzter Woche auf dem Erfurter Domplatz bebildert sind: ein Deutschland-AfD-Fahnenmeer vor blauem Himmel, vor einem Displaymonitor mit blauem Hintergrund, Der Osten machts!, leicht verzerrt Björn Höcke in engagierter Rednerpose: die Zeichnung einer Masse, das Aufschauen von vielen zu einem inmitten von Symbolen. Bildet das Bild ab? Oder war vor einer Woche das Bild so geschaffen worden, damit es später abbilden kann: die Masse, die Symbole, die Bedeutung.
Was ebenfalls auffällt: Wieder Sahra Wagenknecht, wieder als Flüstertüte auf Zeitschriftencovern, in politischen Gesprächsrunden, als Interviewpartnerin, Sahra Wagenknecht als Schlüssel, mit dem man sich den Osten/Thüringen/Sachsen aufschließt. Auf Veranstaltungen, bei Reden, was hat sie überhaupt über Osten/Thüringen/Sachsen gesagt, ist das, was sie dazu gesagt hat, nicht Tür, sondern Mauer.
9. September | Ratschläge
Jede Menge Analysen und Ratschläge. Die AfD-Wahl geframt als »Aufstand der Fleißigen«. CDU als Minderheitsregierung, toleriert von der AfD, »Win-Win-Win«. Ministerpräsident Höcke, na und?, ein Akt der Zivilcourage wider der wütenden kollektiven Hysterie. Björn Höcke als Ministerpräsident, dann aber auch allen Westgeldfluss, der immer noch in den Osten strömt, abdrehen (Woraufhin der gebürtige Lünener Höcke empört entgegnet: »Nachdem ihr mit Eurer Treuhand unsere Wirtschaft zerschlagen habt?«). »Jahrhundert-Entertainer« Harald Schmidt, der von einer Sehnsucht nach einer großen Koalition zwischen AfD und CDU spricht. Die Stimme der Vernunft in der CDU, die, um die CDU zu retten, für ein Bündnis BSW mit AfD plädiert. Ratschläge für ein kleineres Übel, Ratschläge, um im Amt »den AfD-Rabauken die Luft rauszulassen«, Ratschläge für den wohligen, aus der Ferne genossenen Kitzel, wie es wohl aussähe, so ein blaues Herz Deutschlands.
10. September | Herr Nowak
Heute zum vermutlich letzten Mal in diesem Jahr im Freibad gewesen. Beim Aussteigen aus dem Becken kommt der Bademeister auf mich zu, will mit mir über den Migrationsgipfel sprechen. »Das zieht der Merz doch niemals durch«, mutmaßt Herr Nowak, »der will doch, dass das vor die Wand fährt, aber so richtig. Je mehr, umso besser für ihn.« Wasser auf meiner Haut, der Wind geht, es wird kalt. »Ich muss los«, sage ich, »mir einen Take für den zehnten September ausdenken.« Stoff kratzt Wärme in mich. Kurz vor dem Drehkreuz höre ich es rufen. Herr Nowak hat einen Zettel bei sich, »Hier«, sagt er und drückt ihn mir in die Hand, »das werde ich morgen geschrieben haben.«
Ende eines Sommers
der Sommer geblichen
Tauben besetzen wieder
die Bahnen im Bad
in Deutschland bespricht man
das kleinere Übel
ob jetzt schon mit Faschisten
oder erst in fünf Jahren
11. September | Kätzchen und KI
Wenn es später mal ein Bild braucht von der politischen Kommunikation dieser Zeit, dann vielleicht auch das von den KI-generierten Katzenbildern. Die werden gerade von RightWings geteilt und nehmen Bezug auf deren Erzählung: Migranten aus Haiti essen Katzen von Amerikanern auf. Das schreibt z.B. JD Vance und dazu, dass es auch herausstellen könnte, dass sich diese Gerüchte als falsch erweisen könnte. Was aber egal ist, Richtig oder Falsch, deshalb: Bitte wählt Trump, damit haitianische Migranten uns nicht essen, Pets for Trump, ein KI-Bild, das Trump in einem Flugzeug mit Flauschkätzchen zeigt, Kätzchen mit MAGA-Hut und Schnellfeuergewehr, ein Foto, das Trump mit einem Kätzchen unter dem Arm zeigt, fliehend vor einer Horde grimmiger Haitianer, die Bildsprache so offensichtlich, auch ein Versuch, das Memesymbol »Katze«, das im Wahlkampf bisher von der »Katzenlady« besetzt war, umzudeuten, flauschige Xenophobie, eine klassische Rassismustrope, gepackt in Memes, die sich aufwandslos erstellen und verteilen lassen, so lange, bis wir Katzen anschauen und ohne es zu wollen auch mitdenken: Da ist doch die Geschichte, dass DIE Katzen essen.
12. September | Brückeneinsturz als Metapher
Gestern stürzte die Carolabrücke in Dresden ein und ich hatte schon den Eintrag geschrieben, der diesen Einsturz in Vergleich setzt zum gescheiterten »Migrationsgipfel«, Intention: Wir reden über das eine, als wäre das alles, während uns die Brücken einkrachen.
Danach ging ich schwimmen und traf Herrn Nowak und alles kam anders. Außerdem fühlte es sich nicht richtig an, gerade weil noch wenig über die Ursachen des Einsturzes bekannt waren. Und mit Metaphern oder Vergleichen ist es so: Schön, wenn sie helfen, etwas Komplexes zu illustrieren, schlecht, wenn die Metapher in sich nicht stimmig ist. Oder das Komplexe vielleicht zu komplex ist und deshalb ein Bild überfordert ist, alle Bedeutung zu tragen.
Aber vielleicht ist gar nicht komplex. Vielleicht ist es so, dass es etliche Fragen und Probleme zu lösen gilt, Zuständigkeiten, Geldverteilungen, Forderungen, Förderungen und dass die aktuelle Debatte nicht an der Lösung dieser Fragen interessieren ist. Oder dass die aktuelle Debatte nur eine Lösung kennen will. Und diese Lösung erfordert ein anderes Weltbild. Und diesem Weltbild wird gerade massiv installiert.
Dagegen die Brücke. Ursachenvermutungen: Chloridbelastung aus der DDR führte zur Korrosion (Metapher). Extremer Wetterumschwung (Metapher). Grüner Baubürgermeister ließ lieber Blumenkübel aufstellen (Metapher). Fehlende Investion in Infrastruktur. (Keine Metapher). Eine einstürzende Brücke ist Metapher und das kann sie für jeden sein. Das Bild lässt sich benutzen. Eine eingestürzte Brücke ist ein eindrucksvolles Bild. Die Brücke ist eingestürzt, weil das Land längst von seiner Substanz zehrt. Die Substanz bröckelt. Das Land zehrt. Warum zehrt es? Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend, ob wir bald selbst schon erzürnt und ironisch KI-Bilder von Katzen posten werden.
13. September | zusammen stehen
Nach einer Veranstaltung zusammenstehen. Im Gespräch vorsichtig herantasten: Was hält der / die andere vom Wahlausgang? Im Bewusstsein: Von der Antwort hängt ab, ob das Gespräch fortgesetzt werden kann. Gemeinsam ratlos sein. Einer sagt: »Hier braut sich was zusammen.« Später fällt das Wort »Weggehfantasie«.
14. September | am Boden
Zwei Wochen nach der Wahl sind die meisten Plakate abgenommen. Nur die der WerteUnion (*17.2.2024 †1.9.2024) sind noch an den Pfählen, durchnässt und beschmiert sind sie hinabgerutscht, modern am Boden.
15. September | warum immer
Die Meldungen zu den Hochwassern verfolgen. Denken: Warum ist das nicht bei allem so möglich? Fachleute schätzen eine Situation ein, sprechen eine Warnung aus. Ihr Wissen wird ernstgenommen. Man hat aus vergangenen Zeiten gelernt. Man hat Maßnahmen zur Prävention ergriffen. Man bereitet sich vor und ist somit in der Krisensituation besser handlungsfähig. Und trotz der Katastrophe, trotz all der Kraft, die man zur Rettung einsetzen muss, kommt man vergleichsweise hindurch, hat aus Vernunft vorher schon agiert, weil man nicht mitgerissen werden möchte, weil man nicht zerstört sehen will, wo man lebt, wie.
16. September | Euer Wille geschehe
Den gestrigen Eintrag zwei Mal gelöscht und zwei Mal wiederhergestellt. Grund des Zweifelns: das Wort »vergleichsweise«. Kann ich angesichts der meterhohen Wasserstände, der gefluteten Dörfer und Städte, den weggeschwemmten Häusern, den vollgelaufenen Kellern, dem Zerstörten, den Evakuierten, den Toten von »vergleichsweise« schreiben, im Sinne von glimpflich?
Ich weiß ja nicht mit Sicherheit, wie es sonst hätte geschehen können, ob mehr von allem geschehen wäre. Mehr Zerstörung, wenn es keine Prävention, kein Ernstnehmen der Warnungen gegeben hätte? Und wurden die Warnungen denn ernstgenommen? Denn auch die Worte finden sich: das Wasser kam »überraschend«, »niemand konnte das wissen«. Doch im Ganzen das Gefühl, dass die Prävention weitaus Schlimmeres verhindert hat und in den nächsten Tag verhindern wird, trotz des geschehenden Schlimmen.
Geteilt werden Plakate für die anstehende Österreichwahl, Plakate, umspült von schmutzig-braunem Wasser: FPÖ: »Euer Wille geschehe« im überfluteten Land. Ein vom Wasser zerstörtes ÖVP-Plakat »Stabilität«. Fotos, deren Aussagen über Politik der Flut entgehen klaffen. Die zeigen: Es ist eben nicht möglich. Es wird nicht ernstgenommen, nicht vorgesorgt, um nicht mitgerissen zu werden. Ich las, dass die momentan extremen Niederschläge auf die Emissionen von vor 10-15 Jahren zurückzuführen sind. Heute bereiten wir die Hochwasser von 2034 vor. Wir sorgen vor, dass sie geschehen werden.
Dabei war eigentlich Anlass des Eintrags das Interview mit einer Wissenschaftlerin, die die deutsche Asylpolitik der 1990er studiert hat und über die Gemeinsamkeiten zu heute, den letzten Tagen sprach, die Sprache, die Bilder, die damals gebraucht wurden und heute wieder, die Erkenntnisse, die damals gewonnen wurden und über die man heute verfügt und gegen die dennoch gehandelt wird.
Und vielleicht geht es darum: dass mir es gerade so scheint, dass ziemlich Wissen verfügbar ist, welches in der aktuellen Situation helfen, Lösungen anbieten und Irrwege verhindern könnte. Erfahrungen aus ähnlichen Perioden aus der Vergangenheit sind vorhanden und es fühlt sich irreal an, wie ignorant dieses Wissen übergangen wird.
Zugleich lässt sich einleuchtend erklären, weshalb Akteure das Schlechtere tun, dies aus ihrer Perspektive zu verstehen ist (Kanzler werden, Geld verdienen etc.). Mir aber fällt es zunehmend schwer zu begreifen (im Sinn von mit Vernunft nachzuvollziehen), weshalb jene, die davon nicht profitieren, Prävention, Kenntnis, Erfahrung in einer Weise ausschlagen, die ihnen schadet und schaden wird. Und ja, hilflos ist auch ein Wort in diesem Zusammenhang.
17. September | Tage wie diese
Wieder Kontrollen an allen deutschen Landgrenzen. Wieder Attentatsversuch auf Donald Trump. Wieder Elon Musk, der sich einmischt, diesmal mit: Warum schießt eigentlich niemand auf Kamala Harris? Nach den Aussagen Trumps über katzenfressende Migranten in Springfield Bombendrohungen gegen Schulen, Krankenhäuser, Universitäten in Springfield. Der israelische Geheimdienst bringt tausende Pager von Hisbollah-Kämpfern zum Explodieren. Die CDU kürt den Kanzlerkandidaten.
18. September | cadenabbiatürkiser Teppich
So Tage, die wie Käselöcher den Blick in die Zukunft ermöglichen. Gestern der Beschluss Friedrich Merz als Kandidaten. Die Fantasie fehlt, was geschehen müsste, um der letzten Volkspartei im nächsten Jahr Kanzlerschaft und GroKo zu entnehmen. Immerhin kein aufwühlender Wahlkampf. Ein cadenabbiatürkiser Teppich ausgerollt in eine Zukunft des ungemäßigten Kaltkonservatismus’. Allmählich erst das Bewusstsein dafür: Das wären sie dann gewesen, die 2020er Jahre. Und auch: Kanzler Merz als Best-Case-Scenario.
19. September | Juristik und Symbole
Heute dabei bei einem Interviewdreh mit Bodo Ramelow. Y. fragt auch nach den Szenarien für die Wahl des Thüringer Landtagspräsidenten, die genau in einer Woche stattfinden wird. Im Gespräch geht es um mehrere Wahlgänge, um die Geschäftsordnung, Anträge zur Geschäftsordnung, um Entscheidungen des Verfassungsgerichts. Je länger das Gespräch, desto kleinteiliger wird es, von Detail ins Detail gezoomt, zu Paragrafen und Abläufen. Politische Fragen verwandeln sich in juristische Sachverhalte. Was einerseits beruhigend ist: so und so viele Regeln existieren, die das Ungewisse versuchen einzuzäunen, die ein Vorwärtsgehen im Nebel ermöglichen sollen. Zugleich wird es unübersichtlich, fühlt es sich auch unrichtig an, die demokratische Frage hinter § verschwinden zu sehen. Das Komplexe anstelle dessen, was ich als Nichtjurist, als Nichtparlamentarier erfassen kann.
Neben dem Komplexen und Kleinteiligen auch das Symbolhafte. Die Fraktion mit den meisten Sitzen schlägt eine Kandidatin für das Amt der Landtagspräsidentin vor. Die Kandidatin ist eine, die verurteilt wurde wegen Betrug, den sie im Landtag begangen hatte. Sie hat das Haus, dessen Hüterin sie nach Willen ihrer Partei sein soll, bestohlen. Ihre Kandidatur ist eine Nachricht an alle, die verstehen wollen. Ein Bild, ein Signal, genauso gedacht.
Und noch etwas Metaphorisches, unbeabsichtigt diesmal, Y. erzählt davon. Leiten wird die Wahl der älteste Abgeordnete, er ist von der stärksten Fraktion. Gestern stand er im Landtag vor der gläsernen Tür der Kantine. Sie funktioniert über einen Bewegungsmelder, der nur eine Seite öffnet, die linke. Er blieb vor der Rechten, bewegte sich nur dort, verstand nicht, wie die Tür in dem Haus, dessen Geschicke er nächsten Donnerstag leiten soll, zu öffnen war.
20. September | aus Berlin
Aus Berlin kommen die Vorgaben, hier geht es vor die Hunde um die Wurst; wie in Erfurter Tagungsstätten bis zum Anschlag sondiert wird, um sich irgendwie zum Laufen zu bringen, während in Mitte allein der September 2025 leuchtet.
21. September | Transformationsgedanken
Ich höre, wie Ilko-Sascha Kowalczuk den Osten erklärt, von den Transformationserfahrungen der 1990er Jahre spricht und wie sich diese mit den Transformationserfahrungen aus den letzten zehn Jahren überlagern, erinnern und verstärken, wie auch er daraus eine Erklärung der aktuellen Situation ableitet, der Blick zurück, als es keine Transformation gab (Simson). Und, weil die Transformation komplex ist, der Wunsch nach einfachen Antworten. Ich beschließe: So will ich das diesmal denken: diese Zeit als Transformationsepoche begreifen.
Ich lese eine Definition: Transformation als ein grundlegender Wandel, sprunghafte Veränderungen in der politischen, wirtschaftlichen oder technologischen Entwicklung, als auch deutlich veränderte gesellschaftliche Bedürfnisse sein. Er kommt erst dann zum Abschluss, wenn sich neue Systemstrukturen dauerhaft etabliert und stabilisiert haben.
Ich frage mich, wann Veränderungen, die ja immer stattfindet, zur Transformation wird. Wann wird ein Wandel grundlegend? Kann ein Wandel zum Abschluss kommen? Geht Wandel nicht in Wandel über? Was sind die Inseln zwischen dem Wandeln, die kurzen Momenten, in denen eine Struktur stabil und sicher scheint und das Ungewisse damit gebannt?
Was wandelt sich? Was waren die Ereignisse der letzten Jahre, die die Transformationen auslösten, beschleunigten, sichtbar machten, sinnbildlich dafür standen? Gab es, um vor Ort zu bleiben, in Ostdeutschland jemals den Abschluss einer Transformation, gab es hier jemals eine stabilisierte Systemstruktur? Und falls ja: Warum erweist sie sich als besonders brüchig?
Vielleicht ein Schlüssel, um diese Zeit zu verstehen. Wenn Veränderung sich an Veränderung reiht, um sich grundlegend unter Fundamente zu schieben, ist es auch eine Zeit der Widerstände und des Verweigerns, ist es eine Zeit der Sündenböcke.
22. September | Brandenburg Wahl
Ein Abend der Demokratie in Brandenburg: Der zugeschaltete Jens Spahn kommentiert die Brandenburgwahl, die SPD könne nur dann noch Wahlen gewinnen, wenn sie den Kanzler verstecke. Der in die Elefantenrunde eingeladene Vertreter der bayrischen Regionalpartei kommentiert die Brandenburgwahl, die SPD könne nur dann noch Wahlen gewinnen, wenn sie den Kanzler auslade. Der FDP-Generalsekretär spricht von einem Herbst der Entscheidungen. Grundsätzlich atmet man erleichtert auf, dass die demokratischen Kräfte gewonnen haben, denn bei den Über-Sechzigjährigen ist die AfD NICHT die stärkste Partei. Ministerpräsident Woidke zeigt sich zufrieden, seine Strategie ist aufgegangen, die kleineren Parteien sind aus dem Landtag geflogen, so dass er jetzt mit dem BSW koalieren muss kann.
Der erste parlamentarische Geschäftsführer der AfD reagiert gelassen auf die Einlassung, dass die AfD als großer Wahlgewinner der drei ostdeutschen Landtagswahlen nicht in Regierungsverantwortung kommen wird; die regierenden Parteien würden ohnehin die Kernforderungen seiner Partei voll und ganz übernehmen, diese Wahl sei nur eine Etappe, die Zukunft gehöre ihnen, man müsse sich nur einmal die Jungwähler*innen anschauen. Auf der Wahlkampfparty der AfD tanzen AfD-Jungwählerinnen dynamisch zum KI-generierten Partysong »Abschiebeparty« und singen ausgelassen den Refrain mit: »Hey, jetzt geht’s ab, wir schieben sie alle ab.«
23. September | Genossin Kuckuck Eskapismus
Heute Moderation einer Lesung von Anke Feuchtenberger, die ihr überwältigendes »Genossin Kuckuck« vorstellt. Neben vielem anderen auch eine Geschichte des Erwachsenwerdens in der DDR, eine Geschichte von Schnecken und Hunden, Keilern und Pilzen, die Gewalt auch als märchenhaftes Verwandeln in Pflanzen und Tiere, von Blut und Schleim und Moorbädern. Ich denke, jeder, der Ost Ost Ostdeutschland ruft, sollte auch dieses Buch lesen und danach Ines Geipels »Umkämpfte Zone«.
An einer Stelle fragt Anke Feuchtenberger zurück nach Eskapismus, ob ich das Märchenhafte, das Fantastische als eine Flucht vor der Realität betrachte. Ich antworte etwas wie, dass Eskapismus notwendig sei, dass es Pausen brauche vor der Wirklichkeit, dass das Unwirkliche notwendig sei, um das Wirkliche zu verstehen und ertragen, ein Ja für die Flucht, ein Ja für das Wegschieben.
Gerade in diesen Wochen möglicherweise scheint mir es so, wie hilfreich es wäre, das Privileg zu haben, nicht hinschauen zu können, sich bewusst in den Keller zurückziehen und an einem Modell bauen zu können oder sich fantastischen Wesen überlassen zu können, sich in den Wald auf Moos zu setzen und zusehen, wie Aale sich von Birkenzweigen ringeln oder eine Woche durchlaufen ohne woanders hinzusehen als zum schilffarbenen Horizont. Sich mit voller Absicht zu verabschieden aus dem Jetzt, dieses Privileg, kurz aufzutauchen, an klarer Luft Sauerstoff einzunehmen und dann erst wieder zu sinken. Das schreibe ich, im Wissen, dass es gerade diese Einträge sind, die jeden Tag Eskapismus unmöglich machen, unmöglich machen sollen.
24. September | Die Erwachsenen versuchen zu verstehen, warum die Jungen wählen, wie sie wählen.
Unter 40%. Simsoncorso. Sylt. KI-Bilder. Maximilian Krah. TikTok. Partysong. »Wie kaum eine andere politische Kraft der Gegenwart vermag der Rechtsextremismus seinen Anhängern ein nach vorn stürzendes Zukunftsprojekt zu verkaufen, das nebenbei sogar noch Spaß macht.« Generation Pantone 2925 C. CSD-Gegendemonstration. Die 90er sind zurück. Baseballschlägerjahre 2.0. Ost Ost Ostdeutschland. »Das Angebot der grün-liberalen Modernisierer, den Klimaschutz sozial verträglich zu gestalten, hat die Ampelkoalition nicht verwirklichen können. Die deutlich wahrgenommene Unfähigkeit zur Problemlösung führt auch und gerade unter Jugendlichen schnell zur politischen Entfremdung. Statt einer ökologischen Modernisierung mit wirtschaftlichem Aufschwung erleben die Jugendlichen weder das eine noch das andere. Im Gegenteil: Es geht wirtschaftlich langsam, aber sicher, bergab. Und das spüren Jugendliche und junge Erwachsene … Inzwischen scheint es auch unter einem Teil der jungen Erwachsenen eine gewisse Nachfrage für die Ethnisierung der sozialen Frage zu geben; eine Nachfrage, für die Teile der AfD und ihres Vorfeldes in den vergangenen Jahren mit Konzepten wie dem „Solidarischen Patriotismus“ ein Angebot geschaffen haben.« (wird laufend ergänzt)
25. September | Nach der Wahl Vor der Wahl der Wahl
Morgen findet die Wahl des Thüringer Landtagspräsidenten (oder der Präsidentin) statt. Quasi ein erster öffentlicher Auftritt des neuen politischen Kräfteverhältnisses in Thüringen. Nicht nur, weil ich morgen im Landtag anwesend sein werde, lese ich mich schon seit Wochen in diesen Tag ein; Geschäftsordnung, Wahlgänge, Rolle des Alterspräsidenten, eben die Szenarien, die geschehen könnten.
Damit verändert sich auch mein Bild von diesem Vorgang, der in ruhigeren Zeiten komplett geräuschlos über die Bühne gehen würde. So wird die Wahl wie das Beiwohnen einer Schlacht: wie Absätze und Paragrafen bemüht werden, wie Anträge Regeln ändern sollen, wie fest- und ungeschriebene Regeln interpretiert und versucht werden umzudeuten und zu ändern. Natürlich ein Beobachten der Parteien ebenso der menschlichen Akteurinnen, wie diese sich verhalten, wie sie agieren. Auch welche Symbole damit verbunden sind: Muhsal als verurteilte Betrügerin, mit Thadäus König der gewählte Vertreter aus dem Wahlkreis, in dem Björn Höcke eigentlich hätte antreten sollen und aus dem er dann nach Greiz flüchtete. Das Symbolische, die Regeln, die Formalitäten: alles Figuren auf dem Schachbrett, alles Züge, damit am Ende ein Ergebnis steht: König oder Muhsal/ein Vorführen der parlamentarischen Demokratie.
Das ist mein Bild. Ich merke aber auch, wenn ich mit anderen darüber sprechen, dass es viele Bilder gibt. Manche wissen nicht von der Wahl. Viele wissen erstaunlich viel von der Wahl, die ja nur Wahl vor der eigentlich entscheidenden Wahl ist. Aber der Blick richtet sich dann weniger auf die Spielzüge und mehr auf das Ergebnis: Wird es eine AfD-Politikerin in einem hohen politischen Amt Thüringen geben? Oder: Die demokratischen Parteien verhalten sich undemokratisch, weil sie dem üblichen Ablauf einer solchen Wahl verhindern wollen.
In gewisser Weise ist damit eine Schlacht schon geschlagen, bevor sie begonnen hat. Die Wahl ist viel mehr als ein routinemäßiger Vorgang, ist Beleg für den dysfunktionalen Zustand der Gegenwart, eine möglicherweise mehrtätige Aufführung auf großer Bühne.
26. September | Landtagspräsidentinnenwahl
Bei meinem ersten Besuch im Landtag fielen mir die Angestellten auf, die hinter dem Rednerpult saßen und nach jeder Rede das Pult desinfizierten. Die Angestellten, die vor Sitzungsbeginn sorgfältig die Tagesordnung auf die Abgeordnetenplätze legten. Die Angestellten, die das Wasser in den Spendern auffüllten. Die Saaldienerinnen, die Türen öffneten. Die Angestellten, die durch das Haus führten und erläuterten.
Was sie taten, taten sie mit Sorgfalt. Sie folgten Regeln, manche waren in Paragrafen festgehalten, manche ungeschrieben, es gab Anweisungen, die nur für diesen Tag galten, es gab Traditionen und Gepflogenheiten. Wenn sie von ihrer Tätigkeit erzählten – einige waren schon seit drei Jahrzehnten im Landtag, natürlich war die Arbeit dort auch Routine geworden –, sprach aus ihren Worten Respekt vor dem Haus, ein Bewusstsein dafür, dass dieser Ort etwas Besonderes war, für etwas stand, das entscheidend war für alle und deshalb mit Achtung behandelt werden musste.
Bevor heute die Wahl zur Landtagspräsidentschaft beginnt, sind die Szenarien für die nächsten Stunden mehrmals gelesen. Im Pressebereich das Aufbauen der Kamerastative, Fotografen fangen im leeren Landtag Symbolbilder ein, die Technik gibt einen Pegelton aus. In diese Vorbereitungen hinein betritt der Alterspräsident den Saal, begeht ihn, wie ein König die Grenzen seines Reiches abschreiten würde. Er stellt sich ans Pult, verharrt in Pose, bewusst, dass sich Objektive auf ihn richten werden. Er wird zum eingefangenen Motiv, das es braucht, um diesen Tag zu bebildern: Ein AfD-Mann als protokollarischer Leiter einer ersten Parlamentssitzung.
Eine Viertelstunde vor Zwölf betreten nach und nach die Abgeordneten den Saal. Mehrere Fraktionen erscheinen im Verbund, haben sich zuvor in Listen eingetragen, damit ihre Anwesenheit festgestellt, den Landtag damit möglicherweise beschlussfähig gemacht. Die Kameras schwenken auf die Spitzenkandidatinnen, zuletzt erscheint die AfD-Fraktion, ihre Kandidatin hat sich in Schale geworfen, der blaue Hosenanzug wie ein Tattoo, auf dem kein Pflaster mehr klebt.
Der Alterspräsident schlägt die schwere Glocke. Es läutet. Er begrüßt. Dankt. Beginnt als zur Neutralität Verpflichteter mit einer parteipolitischen Rede. Die Rede kommt zum Ende, oder auch nicht, so ganz deutlich wird das nicht, der parlamentarische Geschäftsführer der CDU wedelt mit dem Armen, spricht laut ins Mikrofon, erkundigt sich nach dem Ende der Rede, verlangt eine Abstimmung über die Geschäftsordnung. Ich denke: »Jetzt beginnt also die Shitshow!« Denke gleich danach, dass es ein besseres Wort geben sollte als dieses, geben muss. Im Verfassungsblog stand: die AfD wird die Sitzung verwandeln in ein »Spektakel … das vermittelt … Demokratie ist Quatsch, korrupt und kaputt.«
Vielleicht bin ich überrascht, dass kaum Zeit vergeht, dass sofort die Karten auf den Tisch gelegt werden. Kein Geplänkel, sondern umgehend: Antrag zur Geschäftsordnung, um gleich den Landtagspräsidenten wählen zu können. Denn das ist die Auseinandersetzung heute: um Geschäftsordnungsfragen ebenso wie ein Kampf um Demokratie, um Deutungs- und tatsächliche Hoheiten.
Der Alterspräsident unterbricht. »Ich bitte die parlamentarischen Geschäftsführer nach vorn.« Von den fünf Fraktionen kommen sie zu ihm, stehen unterhalb des Pults, der Alterspräsident schaut auf sie herab. Eigentlich auch ein Symbolbild. Doch es fällt auf: Niemand will hören, was der Alterspräsident zu sagen hat. Er hat auch nichts zu sagen. So gut wie nie ergreift er das Wort. Für ihn spricht der Abgeordnete seiner Fraktion. Gegen diesen sprechen die Geschäftsführerinnen der anderen Parteien. Dazwischen erklärt der Landtagsdirektor Paragrafen und Vorgehensweisen, wird zunehmend dringlicher. Ganz am Ende wird er uns vor dem Plenarsaal sagen, dass er alle Thüringer Landtagswechsel schon mitgemacht habe, bei diesem sei er sprachlos, man könne ihn ruhig zitieren.
Vom Alterspräsidenten kommt nichts. Er verfügt über keine Autorität. Immer wieder wandert sein Blick zu seiner Fraktion. Von der rechten Seite des Saals werden ihm Zeichen gegeben, Köpfe nicken, Hände deuten, Augen blinzeln. Er, der zum ersten Mal Abgeordneter des Landtags ist, ist restlos überfordert. Mehrere Tage wurde er für diese Stunden vorbereitet, sein Blick klebt auf dem vorbereiteten Manuskript. Er kennt die Gepflogenheiten des Parlaments nicht, verhängt Ordnungsrufe, obwohl er das nicht darf, unterbricht, ohne Zeiten zu nennen, nimmt seine Pflichten nicht wahr, verstößt gegen parlamentarische Rechte.
Nicht immer wirkt sein Verstoßen beabsichtigt, nicht Weniges scheint seiner Hilflosigkeit geschuldet zu sein. Wie es wohl ist, in der Haut von Jürgen Treutler zu stecken? Zu wissen, dass man nur eine Handpuppe ist, dass man auf großer Bühne komplett exponiert wird und sich gnadenlos blamiert, zu erkennen gibt, wie sehr einem die Ausführung dieses Amt überfordert? Und diese Bloßstellung Absicht seiner Fraktion ist?
Die Geschäftsführer streiten. Werden aufgebrachter. Erst ein paar Minuten zusammenstehen, nach der nächsten Unterbrechung dreißig Minuten. Im Saal Tippen auf Handys. Kameras werden abgeschaltet. Es scheint so, als ob es gerade darauf ankommt, dass vier Menschen vor einem Pult stehend einen Einzelnen überzeugen müssen. Dass daran alles hängt. Und es offensichtlich keine Regeln dafür gibt. Und wenn es welche gibt für diese Frage, dann ist deren Umsetzung nicht durchführbar.
Worum es geht? Ein komplizierter Vorgang, den ich nicht sofort verstehe. Um was wird gestritten? In den Unterbrechungspausen der Versuch zu begreifen; Journalistinnen erklären, Berater, einmal bleibt Bodo Ramelow stehen und erläutert. Ein mögliches Begreifen, das sich nach vielen Gesprächen herausstellt: Ab wann ist der Landtag beschlussfähig? Erst dann könnten die Abgeordneten die Geschäftsordnung ändern. Die AfD verweist auf die alte Geschäftsordnung und sagt: Erst wenn die Landtagspräsidentin gewählt ist, ist der Landtag konstituiert. Die anderen Parteien verweisen auf die Verfassung und sagen: Sobald wir zusammentreten, können wir auch beschließen.
Diese Frage scheint für das Haus entscheidend: Ab welchem Zeitpunkt dürfen wir handeln? Und diese Frage scheint zugleich so speziell, dass sie im Landtag, selbst nach den Erklärungen nur allmählich zu verstehen ist. Hierbei geht es nicht um den Ministerpräsidenten, nicht um Landtagspräsidenten, es geht um einen Antrag zur Geschäftsordnung. Deshalb alle schweren Geschütze, deshalb das Lahmlegen. Ich als Außenstehender verstehe ich nicht, was auf dem Spiel steht, weshalb konkret so erbittert gestritten wird.
Irgendwann ändert sich die Stimmung. Das Popcorn ist weggestellt. Ich merke: Hier geht gerade viel kaputt. Ich denke an das Desinfizieren, überlege, was diesen Ort ausmacht: Eine Institution, die nicht beliebig gehandhabt werden kann, wird gerade beliebig. Es fällt auseinander, das Sprechen, die Regeln. Etwas zerstört sich gerade. Das Klopfen der Handflächen auf die Abgeordnetentische wie das Schlagen von Kriegstrommeln. Manchmal klatscht die AfD-Fraktion in die Wortbeiträge anderer Abgeordneter hinein, um so deren Sprechen zu übertönen.
Wäre es auch anders gegangen? Ruhiger? Stand tatsächlich von Anfang dieser Sitzung an alles auf dem Spiel? (Offensichtlich ja.) War das frühe Kartenauslegen auch Beginn einer Demonstration, die zeigen sollte: Wir sind die Streiter für die Demokratie? In einer der Unterbrechungen gibt Mario Voigt ein staatsmännisches Interview. Es ist in diesem Moment schwer, das zu einschätzen. Die Empörung, dass parlamentarische Regeln offensichtlich grob verletzt werden, ist echt. Dass der Alterspräsident anweist, Mikrofone abzuschalten, ist echt. Die Sorge ist echt, natürlich. Gleichzeitig zeigt die Eskalation genau das, was gezeigt werden soll. Einmal: Die Demokratie ist handlungsunfähig und verrottet und mit ihr die Kartellparteien. Das andere Bild, das sich im Livestream über die Republik ergießt: Die AfD zerstört die parlamentarische Demokratie.
Die Anwesenden checken soziale Netze. Die dominierenden Hashtags sind »Thüringen« und »Chaos«. Es fallen Worte wie »Machtergreifung« oder »Putsch«. Ein Gefühl, ein kleines bisschen ist es auch willkommen, diese Worte benutzen zu können. Man verteidigt sich und spielt zugleich die Rolle, die einem die AfD zugedacht hat, die Eskalation ist das Ziel, ist in seiner Empörung ebenso Handpuppe wie der Alterspräsident. Ein Dilemma. Es muss doch eine geschicktere Möglichkeit geben als diese! Denn so ist es ein Bauernkriegspanorama, gemalt von hellblauer Hand.
Natürlich gibt es diese Option. Es hat sie gegeben. Die Bilder hätte man sich ersparen können. Der Antrag, wer die erste Sitzung leiten sollte. Der Antrag, nach einem gescheiterten Wahldurchgang für jede Fraktion das Recht, einen Kandidaten aufzustellen. All die Warnungen, all die Szenarien, zum Teil fast ein Jahr alt. Nichts von dem, was heute geschehen ist, ist überraschend. Vieles wäre vermeidbar gewesen. Der parlamentarische Geschäftsführer, der heute so oft das Wort ergreift, lehnte eine Änderung des Wahlvorgangs im letzten Jahr ab, mal solle erst die Wahl abwarten, seine Worte damals. So fühlen sich diese Stunden im Landtag wie ein Strudel an: wie sich vor den Augen aller genau das Unvermeidbare vollzieht, das alle erwartet haben, eben die Shitshow, die nur einem dient.
Für die nichtfaschistischen Parteien gab es heute zwei Ziele: Eine AfD-Landtagspräsidentin zu verhindern. Und Bilder zu verhindern, die Chaos zeigen, ein Parlament in Auflösung. Letzteres wurde nicht erreicht. Und das ist nicht allein der AfD zuzuschreiben.
Am späteren Nachmittag die wievielte Unterbrechung. Der erwartete Antrag, den Verfassungsgerichtshof in Weimar anzurufen. Der Alterspräsident vertagt auf Samstag Vormittag. Gegen fünf ist der Landtag fast wieder leer. Die Angestellten haben das Pult desinfiziert. Sie haben das Wasser im Spender aufgefüllt und die letzten Übergangsjacken von den Garderobenhaken genommen. Sie sind Regeln gefolgt. In einem Haus, dessen Regeln heute wenig galten.
27. September | Nachlesen
Den gestrigen Tag nachlesen. Sich noch einmal lesend begreifbar machen, was eigentlich geschehen ist. Um was es ging. So ganz konkret die Feinheiten verstehen wollen. Wie ordnen andere ein. Wie bewerte ich meine Beobachtungen danach. Weiterhin das Gefühl, das schwer zu verstehen ist, was Anlass der Auseinandersetzung war. Und dass dies ein Problem ist. Und auch ein Problem: Das Bild von einem Parteienblock, der Spielregeln ändert, weil ihm nicht gefällt, dass jene, die nicht zum Block gehören, dafür profitieren könnten. Mit diesem Bild geht ein Ungerechtigkeitsgefühl einher, gegen welches das Argument »Aber das Ändern von Traditionen ist explizit so vorgesehen und genauso rechtmäßig wie das Beibehalten von Traditionen« nur mäßig ankommt. Und da ist man noch nicht mal beim Argumentieren, weshalb das Ändern notwendig ist.
Lesen, wie der polizeiliche Schutz des parlamentarischen Geschäftsführers der CDU, der gestern von »Machtergreifung« sprach, nach vielen Hassmails verstärkt wurde. Auch lesen, wie er das, was er gestern so energisch vertrat, Anfang des Jahres bei einem entsprechenden Antrag als unnötig empfand. Auf das Urteil aus Weimar warten. Sehen, wie der Vorsitzende der AfD in Reels die Richter des Verfassungsgerichtshofs schon mal prophylaktisch der Parteilichkeit beschuldigt und damit nach dem Parlament das nächste Organ ins Visier nimmt. Wissen, dass seine Partei durch die Sperrminorität entscheidenden Einfluss auf die zukünftige Benennung von Richterinnen hat. Am Abend dann das Urteil. Das einen klaren Ablauf der morgigen Sitzungen vorgibt. Verbunden mit der Frage: Wird sich der Alterspräsident daran halten?
28. September | Landtagspräsidentenwahl
Auf der Fahrt zum Landtag, hin zum zweiten Teil der Landtagspräsidentenwahl, ein lebhaftes Ausmalen von Möglichkeiten. Was, wenn der Alterspräsident das Urteil des Verfassungsgerichtshofs ignoriert und einfach die Wahl ansetzt? Was bei weiteren Eskalationsabsichten? Wie könnten diese aussehen? Oder wird es ganz anders, hat es nun die Bilder, die die Fraktion braucht und unterläuft sie die Erwartungen, indem sie sich mäßig gibt?
Und das alles ist schon nicht richtig. Diese manische Annahme eines Masterminds, das ehrfürchtige Lauern auf Taktik, diese devote Erwartung des Chaos führt zwangsläufig in die Defensive. Und die endet im Nichts. Besser hinfahren, beobachten und beschreiben.
Die in Mikrofone gesprochene Zusammenfassung von Donnerstag. Vor dem Landtag Demonstranten, »Ich mache da nicht mit«-T-Shirts, Deutschlandfahne mit Bayern- und Europafahne, das Symbol der Einheitsfront der DDR als Plakat, die sich schüttelnden Hände, hier umgemünzt auf die demokratischen Parteien, dazu »Der Souverän entscheidet, nicht die CDU.« In Fraktionsräumen die Rekapitulation von Donnerstag, Hinweise, dass jede Regung im Plenarsaal die Kameras klicken lässt; ein Lachen, ein durchgestreckter Rücken, eine gehobene Hand wird so schnell zum Symbolbild eines politischen Vorgangs, obwohl einfach nur ein Rücken gestreckt wurde.
Immer wieder spüre ich das Bedürfnis, das zu beschreiben und Fotos davon zu machen: wie Kamerapulks sich auf Politikerinnen richten. Viele Kameras auf einen Politiker, um zu zeigen: So arbeiten Medien. Und beschreiben: Einen Politiker, der sich der vielen Kameras bewusst ist und sich entsprechend bildlich arrangiert, um zu zeigen: So arbeiten Politiker.
Was natürlich auch scheinheilig ist. Klar, vor Sitzungsbeginn und in den Sitzungspausen strömen die Medienleute in das Parlamentsrund und bringen ihre Maschinen in Anschlag. Und genau dann scherzt eben Mario Voigt mit dem Nebenmann und genau dann erstarrt Björn Höcke wie zufällig in einer Pose und genau dann setzt Bodo Ramelow eine besonders grimmige Miene auf. Weil sie wissen, dass Fotos davon gebraucht werden. Fotos für mich, Fotos für uns, den Dritten im Bunde, der sich immer so leicht aus dem Staub machen kann und sagen kann: DIE Medien, DIE Politiker.
Dabei wollen wir ja ästhetische Symbolfotos, die unsere Ansicht bestätigen oder den Augenblick, im Liveticker oder später im Jahresrückblick. Dieser Dreierbund betritt im Parlament noch besonders deutlich die Bühne, wie Magneten, die sich zugleich anziehen und abstoßen.
Angesetzt ist die Sitzung bis 22.30 Uhr. 9.30 Uhr eröffnet der Alterspräsident und hat der Erwartung ein paar Minuten später schon alle Luft rausgelassen. Er respektiere das Urteil und werde ihm folgen, sagt er und benennt, vorschriftsmäßig ablesend, Schriftführerinnen und die rufen die Abgeordnetennamen auf, die mit »anwesend« bestätigt werden, was die Beschlussfähigkeit bestätigt. Dann kommt es zum Grund der Donnerstagschlacht, dem Antrag zur Geschäftsordnung, Reden, Gegenreden, Zustimmung und dann kommt es schon zur Wahl und dann ist auch schon eine Landtagspräsident gewählt und eine Landtagspräsidentin nicht.
So schnell, so reibungslos, so demokratisch.
Dann sind es wieder die Kleinigkeiten. Dass bei der Gratulation Björn Höcke Thadäus König so windhundschnell die Hand schüttelt, dass die Fotografen kaum Zeit für ein Klicken haben. Dass erste Kameras abgebaut werden, Zuschauerränge sich leeren. Dass bei der Rede des neugewählten Präsidenten über Demokratie und die Verantwortung, die sich aus der Geschichte ergibt, in der AfD-Fraktion niemand außer deren parlamentarischen Geschäftsführer klatscht. Überhaupt diese Rede. In anderen Zeiten hätte ich diese Rede einfach abgehört, ein erwartbarer Zuspruch für die Demokratie. An diesem Ort, in diesen Wochen bekommen die Worte eine seltsame Dringlichkeit, ich fühle auch ein pathetisch anmutendes Surren in den Ohren, das ich als notwendig empfinde, für das ich auch dankbar bin.
Hinter Säulen versteckt warten Blumensträuße in Eimern auf ihr Verteilen. Die Wahl der Vizepräsidentinnen als nächstes. Die AfD nominiert ihre bereits nominierte Kandidatin, ein Zeichen natürlich. Jetzt wieder Spannung. Wie werden die Fraktionen auf diese Provokation reagieren? Auch wieder Zeichen. Mehrheitliche Ablehnung, aber etliche Abgeordnete, mutmaßlich der CDU, enthalten sich, um zu sagen: Bei einem anderen Kandidaten stimmen wir für Euch.
Bei der Benennung der gewählten Vizes klatscht in der AfD-Fraktion erneut niemand außer dem parlamentarischen Geschäftsführer. Dafür überreichen sich die anderen Fraktionen gegenseitig Blumen, eilen zu den verschiedenen Sitzblöcken, schütteln Hände. Die AfD-Fraktion sitzt auf ihren Sitzen, außen vorgelassen wie nicht eingeladen zu einer Party. Und so wirkt das: Dass die vier Parteien miteinander könnten. Jemand wird uns das später sagen: Dass diese beiden Tage zusammengeschweißt haben. Man hat nicht gewusst, wie das BSW so tickt, ob es ein verlässlicher Partner sein könnte. Jetzt sind mehr Informationen vorhanden.
Gegen Mittag die Entscheidung, eine kleine Auszeit in der Landtagskantine zu nehmen. Auf einer Leinwand projiziert sich der Livestream von der laufenden Sitzung. Und während des Kantinengangs ganz unspektakulär das Ende der Sitzung, überrascht beim Putengulasch und Eierragout. Abgeordnete aller Fraktionen kommen nach und nach in die Kantine, schieben ein Tablett zur Kasse hin. An Tischen bilden sich Gesprächskreise. Keine Kamera läuft, keine Pose wird gebraucht. Die Kantine als ein für alle befriedeter Ort und eigentlich wäre das ein eigener Eintrag: Die Landtagskantine als Niemandsland.
Kurz nach dem Sonnenregen hat sich der Landtag geleert. Wir stehen vor dem Eingang, als Björn Höcke das Gebäude verlässt und zu seinem Dienstfahrzeug eilt, begleitet von Sicherheitsleuten. Unter dem Arm geklemmt »Die Kehre«, eine neurechte Zeitschrift, »die Ökologie aus ganzheitlicher Perspektive betrachtet«, oder erkenntnisreicher formuliert, den völkischen Flügel der AfD begrünen will. Sofort geht das Kopfkino los. Erinnert an den Vorsatz vom Tagesbeginn der Gedanke, dass es am Ende auch so sein könnte; die Kehre unter den Arm geklemmt, weil darin ein Gastbeitrag des parlamentarischen Geschäftsführers publiziert ist, Titel »Im Revier – Empfehlungen für den eigenen Segeltörn«.
29. September | in Österreich
Als ich 2015 mehrere Monate in Wels verbrachte, war Wahlkampf. Die FPÖ schickte sich dort an, nach über sechzig Jahren die SPÖ als stärkste Partei abzulösen. Ich blätterte damals durch die FPÖ-Parteizeitung, diese hatte nur ein Thema, Noitzmühle, ein migrantisch geprägtes Stadtviertel, das laut Parteizeitung fast ausschließlich am Niedergang der einstmaligen Einkaufsstadt Wels Schuld trug. Die FPÖ gewann damals deutlich und stellt bis heute den Bürgermeister.
Damals hatte ich auch ein Wort aufgeschnappt, das mir unbekannt war. Ich fragte die Bekannten dort, was »brunzen« bedeutete und sie waren sehr unangenehm berührt davon, dass ich dieses Wort aussprach, gleich mehrmals, richtiggehend angeekelt waren sie, bunzen. Heute ist die FPÖ erstmals stärkste Partei in Österreich geworden.
30. September | Kinderbuchautor
Einen Eintrag, den ich länger schon schreiben wollte, weil ich schon länger nicht verstehe, ernsthaft nicht verstehe, weshalb man meinen könnte, »Kinderbuchautor« als Diffamierung gebrauchen zu können. Die, die es verwenden, sind Väter, ich habe auf Wikipedia nachgesehen. Die Wahrscheinlichkeit ist da, dass sie zumindest ein oder zwei Mal ein Kinderbuch in der Hand hielten und es ihren Kindern vorlasen. Wie kommt einem nach dem Lesen von »Steinsuppe«, »Die beste Bande der Welt« oder »Der Marmeladenwolf« der Gedanke, man könnte jemanden abwerten, indem man ihm vorhält, dass er Geschichten schreibt für Kinder? Sagt dieser Abwertungsvorwurf nicht so viel mehr über den Vorwerfenden aus? Und würde nicht jeder lieber einen Kinderbuchautor in einem politischen Amt sehen als beispielsweise einen Aufsichtsratschef von Black Rock? Oder einen Geschichtslehrer, dem historische Losungen nicht geläufig sind?