Doof ist das Thüringer weird


1. August | zwei von drei

1. August | zwei von drei

AfD. BSW. CDU. Sollte es zu einer Regierung in Thüringen kommen, werden zwei von diesen Parteien zusammenarbeiten. AfD/BSW AfD/CDU CDU/BSW. Alles Schreiben, alle Analysen, alles Wüten, alles Hinweisen, alle Erwartungen, alle Widerstände, alle offensichtlichen Gegensätze, alle Gemeinsamkeiten werden dazu führen, zwei von drei. Die AfD hat angekündigt, die CDU in ein Bündnis mit BSW zu treiben und dann alle der zahlreichen Widersprüche, die sich daraus ergeben, anzugehen, bis CDU und BSW pulverisiert sind, bis die übernächste Wahl ist. Gestern kam ein Brief, die amtliche Wahlbenachrichtigung, 30 Tage noch, dann zwei von drei.

2. August | high / low

Gerade eine Aufarbeitung des Correctiv-Berichts von Januar über das Treffen Potsdam. Kritische Anmerkungen, die explizit darauf hinweisen, dass die Folgen, die aus dem Bericht erwuchsen, wertvoll und wichtig waren, und ebenso deutlich hinweisen, dass der Artikel mit Interpretationen, Zuspitzungen und Meinungen arbeitet, nicht alles journalistischer Standard einer Reportage von solcher Bedeutung. So die Vorwürfe, denen wiederum selbst das Unterlaufen journalistischer Standards vorgeworfen wird. Was sich daraus ergibt: Heiligt der Zweck der Mittel? Ist es okay, zuzuspitzen, wenn daraus etwas Gutes erwächst?

Ähnliches in den USA. Die Kampagne von Harris spitzt zu, schneidet Videos sehr pointiert um, geht nicht nur inhaltlich auf den Gegner ein, sondern setzt auf Emotionen, Haupttaktik, die Gegner als weird bezeichnen. When they go low, we go high. Jetzt auch low bzw. not so high.

Und auch hier die Frage: Ist das angemessen? Verrät man damit nicht die eigenen Prinzipien, verletzt die Standards, die Werte, für die man angetreten ist, begibt sich damit auch in den Schlamm, senkt sich hinein, zerstört damit am Ende Glaubwürdigkeit, Grundlagen?

Oder sind diese Umschwünge nicht Lehren aus den letzten zehn Jahren, in denen andere aggressiv, unfair, lügend, mit bewusst falsch gesetzten Informationen, mit Diffamierungen, mit Einseitigkeit arbeiteten, das Verletzen von Standards Strategie war? Und diese Strategie sehr erfolgreich war? Ist es naiv, um den korrekten Gebrauch von Konjunktiv 1 als journalistische Referenz zu diskutieren, während der reichste Mann der Welt auf der von ihm gekauften Plattform gefälschte Videos der demokratischen Kandidaten postet, weil er anderen Kandidaten gewinnen sehen möchte? Ist die Lehre: Am Alten festhalten führt dazu, dass das Alte sowieso begraben wird unter der Flut der veränderten Kommunikation? Kann deshalb die einzig erfolgsversprechende Konsequenz nur sein: sich auch hinabbegeben?

3. August | wie darüber schreiben

Vergangene Woche ist ein Politiker verstorben, der in Weimar für den Landtag kandidierte. Ich habe überlegt, ob ich diesen Eintrag schreiben sollte. Ich kenne ihn nicht, er wohnte unweit von mir, manchmal sah ich ihn im Park, immer in Eile, die Tasche über die Schulter. Ich überlege, in welchen Kontext ich das setzen sollte. Muss. Ob es einen abschließenden Gedanken braucht, eine Wahl etwas, das fünf Jahre in die Zukunft denkt und dann gibt es keine Zukunft mehr. Ob es pietätlos ist. Ob es einfach reicht zu schreiben, dass es geschehen ist. Ob es auszusparen ist.

Seine Partei hat entschieden, keinen neuen Kandidaten zu benennen. Auch, weil die Wahl für Weimar erst nach dem landesweiten Termin hätte stattfinden können, bei knappen Prozenten wäre Weimar womöglich eine entscheidende Rolle bei der Mehrheitsfindung zugekommen, wie hätte dann hier der Wahlkampf ausgesehen? Seine Frau schreibt einen längeren Facebookpost, beginnt: »Liebe Weimarerinnen und Weimarer, viele von Ihnen wundern sich oder sind vielleicht auch verärgert darüber, dass die Plakate meines verstorbenen Mannes noch im Stadtbild zu sehen sind. Manche empfinden es pietätlos, manche respektlos, manche schlicht unangebracht…«

Mit einem Freunde gehe ich spazieren. Wir sprechen über den Tod, die Politik, darüber, dass die Plakate weiterhin hängen. Er spricht zögernd, sagt dann, dass er es auch gruselig findet. Ich überlege, wie es mir dabei geht, sage dann, dass ich hoffe, dass die Plakate hängen bleiben, eine Weile noch zu sehen sind.

4. August | boxen

Eine algerische Boxerin boxt bei den Olympischen Spielen gegen eine Boxerin aus Italien, die Italienerin gibt nach 46 Sekunden auf, die Algerierin gewinnt. Darüber wird seit Tagen gesprochen. Weil die andere Geschichte ist: Ein Mann hat sich zur Frau erklärt und sich damit widerrechtlich Zugang zum Frauensport verschafft und schlägt dort als Transmann Frauen. Ein Ungerechtigkeitsgefühl wird getriggert. Zielgerichtet getriggert von böswilligen Unterstellungen, absichtlichen Missverstehen, hämischer Niedertracht.

Dabei ergeben sich ja Fragen aus diesem Kampf, entsteht ein Bedürfnis zu sprechen, Unsicherheit, Ungewissheitenn, gibt es Themen, die sich zu besprechen lohnen: strukturelle Unterschiede Frauen/Männer-Sport. Wie umgehen mit körperlichen Besonderheiten um (Körpergröße, Armlänge, Beinlänge etc.), wie Grenzen setzen, um so viel wie möglich zu ermöglichen und dabei so gerecht wie möglich zu sein? Wie ist das mit Geschlechtern, wie eindeutig? Stattdessen das übliche Gekübel, die strategischen Agenden, die JKRowlingstweets, das Gift, der Hass.

5. August | Stadien eines Wahlplakats


6. August | aufholen

Ein Aufholen der letzten Tage. Rassistische Ausschreitungen in England, Mobs aus Männern, Frauen, Kindern, Familien, die Häuser anzünden, Autofahrer nach Hautfarbe stoppen, brüllen: »England, bis ich sterbe, Bringt sie alle um!« Elon Musk schreibt, Bürgerkrieg ist unvermeidlich. In Erwartung einer Ausweitung des Kriegs im Nahen Osten. Kamala Harris benennt ihren Vizepräsidenten. Der amerikanische Präsidentschaftskandidat Robert F. Kennedy Jr. erzählt die Anekdote, wie er mal einen angefahrenen toten Bären fand und den Kadaver zusammen mit einem alten Fahrrad im Central Park ablegte, um den Anschein zu erwecken, der Bär wäre bei einem Fahrradunfall gestorben. Mario Voigt lässt am Ende seines Wahlwerbespots ein Kind mit Sonnenbrille sagen: Höcke ist doof, richtig doof. An der Stelle, wo bis vor Kurzem noch das Wahlplakat von Mario Voigt hing, hängt nun ein Plakat von Björn Höcke mit Sonnenbrille, Slogan: Fast schon verboten gut!

7. August | doof ist das Thüringer weird

Der Wahlwerbespot der Thüringer CDU lässt mich nicht los. Die Partei hält ihn für so wichtig, dass sie eigens eine Homepage dafür eingerichtet hat. Zucker oder Salz. Im Spot ist eine Küche zu sehen, die Frage ist, ob es in den Kaffee Zucker (CDU) oder Salz (AfD) geben sollte, Manchmal sind die einfachsten Entscheidungen die wichtigsten, sagt eine Frau, die vermutlich im Rentenalter ist und wahrscheinlich zu denen gehört, über die der Kandidat der CDU sagt, dass sie anständig und fleißig sind und die Probleme angepackt wissen wollen.

Wenig am Spot ist darauf angelegt, »authentisch« zu wirken. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist das Ende. Nach der besinnlichen Stimmung in einer typischen, gewissermaßen normalen Thüringer Küche taucht ein Kind mit Tropfensonnenbrille auf, ruft »Höcke ist doof, richtig doof.« Ästhetik, Wortwahl, Tempo – alles bricht mit dem davor. Diese drei Sekunden haben den Spot in die überregionale Berichterstattung gebracht.

Dieses doof ist infantil und albern. Doof keine inhaltliche Auseinandersetzung. Doof ruft einen Zustand der Kindheit auf, die undenkbar unoriginellste Form der Auseinandersetzung, knapp hinter selber. Und »Höcke ist doof« stimmt ja auch nicht, einfältig und beschränkt. Der Oberstudienrat Björn Höcke ist belesen, er agiert strategisch, die Neue Rechte arbeitet mit Theorien. Uninteressant und langweilig ist er auch nicht, immerhin wird ja viel über ihn geschrieben. »Ärgerlich, lästig«, wie der Duden noch als Definition vorschlägt, so ist dieses doof dann wohl gemeint.

Die Demokraten operieren seit zwei Wochen damit, Donald Trump als weird zu bezeichnen. Deses doof will irgendwie auch in diese Kategorie fallen. Weil es weird ist, wenn die Völkischen mein Blut anzapfen wollen, um den Aufhaltenthalt an einem Ort zu erlauben oder zu verbieten. Wenn die Völkischen wollen, dass die mit dem richtigen Blut öfter verhütungsfrei bumsen, um mehr Fachkräfte mit dem richtigen Blut zu produzieren, dann ist das weird. Aber halt nicht nur. Es ist auch angsteinflößend. Und ist es doof; einfältig, langweilig, lästig?

Letztlich ist das egal. Die Thüringer CDU sagt in einem Spot, der sich an ihre Wählerinnen richtet: Die AfD ist ärgerlich. Immerhin. Ich lebe in Ostdeutschland, da nehme ich, was ich kriegen kann.

8. August | The Smallest Man Who Ever Lived

In Southport, ein junger Mann, tötet mit einem Messer drei junge Mädchen, die zur Musik von Taylor Swift tanzen. In Wien, Anhängerinnen von Taylor Swift, junge Frauen. Junge Männer, Anhänger der IS, wollten sie mit Messern töten, sie hatten Bomben gebaut und wollten die Frauen mit diesen Bomben umbringen. Der Anschlag wurde verhindert, die Konzerte abgesagt; Angst, Erleichterung, riesengroße Enttäuschung bei den Frauen. Jetzt stehen sie vor dem Stephansdom, am Karlsplatz, in der Corneliusgasse, singen »The Smallest Man Who Ever Lived«.  

9. August | Warum nicht

Es wird spekuliert. z.B. Nachdem die FDP bei den drei kommenden Landtagswahlen deutlich an der 5%- Hürde scheitert, beendet sie die Regierungskoalition. Neuwahlen nach vor Weihnachten, das Jahr 2025 beginnt mit Kanzler Merz und Vizekanzler Pistorius. Die FDP gelangt knapp über die 5%-Hürde, auch weil sie verspricht, das Parken von Autos in deutschen Innenstädten kostenlos zu machen. Christian Lindner wird als Teil der Deutschland-Koalition Minister für Soziales.

10. August | Was Sachsen kann

In Sachsen gewesen. So viele Wahlplakate gesehen. Eins davon: MP Kretschmer gedrängt in einem Pulk von Menschen, die Perspektive macht klar, dass er deren Mittelpunkt ist, die Blicke auf ihn gerichtet, alles eng, irgendwie dramatisch. Das Foto eher entsättigt, so dass die Farbe seiner Jacke heraussticht: grün. Zuerst irritiert, dass die CDU die Farbe Grün so auffallend inszeniert. Dann auch auf den weniger dramatischen Plakaten: grün grün grün. In Thüringen undenkbar, dort dominiert das Merztürkis. Bis mir aufgeht: natürlich, die Farben der Landesfahne. Deshalb die grüne CDU. Sachsen=CDU.

Ein weiteres Plakat: Ein erschöpfter, sich dem Fatalismus ergebender Gregor Gysi, der vor lila Hintergrund rhetorisch fragt: »Wir würden Ihnen doch sicher fehlen?!« Oder? ODER? Oder, ein drittes Plakat, im Gelb der FDP gehalten: »Berlin kann Techno. Sachsen auch Technologie«.

Zur gleichen Zeit, etwa 170 Kilometer entfernt, immer noch Sachsen, Bautzen. Der CSD, für den seit Wochen Rechtsextreme Attacken ankündigen. Der CSD findet statt, ebenso die 700+ Rechtsextremen, die in geschlossener Formation und mit schwarzen Wehrmachtsshirt dem Zug in wenigem Abstand folgen, »Nazikiez« skandieren, auf die bekannte Melodie singen: »Ausländer raus, Deutschland den Deutschen.« Weil: Am Ende kann für sie jeder Ausländer sein.

Die Abschlussfeier des CSD wird wegen befürchteter Angriffe durch Rechtsextreme abgesagt. Ein Plakat, mit dem die Partei des sächsischen Ministerpräsidenten auch wirbt: »Recht und Ordnung durchsetzen«.

11. August | Standard wegen befürchteter Störungen

Was Einladungen oder Beschreibungen bestimmter Veranstaltungen in Thüringen mittlerweile beigefügt wird, um die Sicherheit der dort Teilnehmenden zu gewährleisten: »Den Ort teilen wir gern bei Anmeldung per PN«. Oder: »Der Veranstaltungsort wurde bei der Anmeldung bekannt gegeben.« Normalität, Standard.

12. August | Probealarm

Bombendrohung an der Schule. Vor zwei Wochen die erste, in mehreren Weimarer Schulen. Heute wieder, in weiteren Schulen der Stadt. Eine Polizistin geht durch die Klassenräume, hält Ausschau nach etwas Verdächtigem, erwähnt den Grundschülerinnen gegenüber nichts von der Drohung, nichts von Bomben, sagt, sie wolle nur mal nach dem Rechten schauen, fragt: »Ist Euch vielleicht etwas hier im Zimmer aufgefallen, was anders ist als sonst?« Die Entscheidung, die Schule nicht zu räumen. Später erzählt die Lehrerin vom Probealarm, der regelmäßig in der Schule durchgeführt wird, wie einige Kinder davon schon panisch reagieren, bittet die Eltern, ihren Kindern nichts von der Drohung zu erzählen, es gebe schon so viel, was die Kinder gerade aus den Nachrichten hören müssten.

13. August | gestern, vorgestern, Fahrplan Zukunft

Der grassierenden Autofeindlichkeit Deutschlands tritt das Präsidium der FDP mit einem ideologiefreien Fahrplan für die Zukunft entgegen. Darin fordert sie Flatratparken für Autos in deutschen Innenstädten und weniger Fahrradstraßen und Fußgängerzonen. Ziel: die menschenfreie Innenstadt. Kritisch äußert sich der niedersächsische Landesverband der Jungen Liberalen: »Der FDP-Bundesvorstand muss aufpassen, die morgige Generation nicht mit Vorschlägen von gestern zu verlieren.« Kritisch äußert sich auch der Deutsche Städtetag: »Wir wollen Städte für Menschen, deshalb klingen Forderungen nach autogerechten Innenstädten wie von vorgestern.«

14. August | Wahlempfehlungen aktueller Stand

Aktuelle Umfrage zur Thüringer Landtagswahl: FDP und Grüne unter 3 Prozent, SPD knapp über 5 Prozent. Sollte die SPD nicht den Einzug in den Landtag schaffen, wäre in diesem Fall eine mögliche Regierungskoalition eine Minderheitsregierung CDU/BSW, die sich von AfD oder Die Linke tolerieren lassen müsste.

Zwei Wochen bis zur Wahl, von verschiedenen Seiten Empfehlungen an die Thüringerinnen. Campact fordert auf, bei der Thüringer Landtagswahl Die Grünen zu wählen, um damit eine mögliche Sperrminorität der AfD zu verhindern. Der von einem Milliardär gegründete Meinungskanal Nius fordert auf, bei den ostdeutschen Landtagswahlen alles außer Die Grünen zu wählen, um die Regierung friedlich zu stürzen. Ein Hamburger CDU-Mitglied schlägt vor, dass in Thüringen Grünen-Wähler die CDU wählen sollten, weil diese das Bollwerk gegen links- und rechtsaußen sei. Der Thüringer AfD-Landessprecher teilt einen Post, in dem beschrieben wird, wie im Ländlichen Jungs auf ihren Simsons patrouillieren und Bürger sicherstellen werde, dass nur »Blau« verteilt werde, weil es ansonsten brenzlig werde etc.

15. August | ohne Risiko

Seit gestern wird ein Zitat geteilt, zwei Sätze von Wolf Biermann aus einem Interview über die drei kommenden Wahlen, »Die, die zu feige waren in der Diktatur, rebellieren jetzt ohne Risiko gegen die Demokratie. Den Bequemlichkeiten der Diktatur jammern sie nach, und die Mühen der Demokratie sind ihnen fremd.«

16. August | Sachsen aktueller Stand

Zwei Wochen vor der Wahl in Sachsen die Umfrage: jeweils knappe 5% für Linke, SPD, Grüne, die FDP unter Sonstige. Was bedeutet, dass der sächsische Landtag ab September aus drei Parteien bestehen könnte; AfD, CDU, BSW. Und nach den Äußerungen der Thüringer Spitzenkandidatin des BSW die CDU nicht mehr über eine »Brandmauer« nachdenken muss, weil die Regierung aus AfD & BSW bestehen könnte.

Ich denke: Es ist schön, dass es ein Momentum für Harris/Walz gibt, das den schon festzustehen scheinenden Sieg Trumps zumindest in Frage stellt. Schön, dass sich in Frankreich ein – wenn auch ambivalentes – Bündnis gegen Rassemblement National durchgesetzt hat. Schön die Wahl in GB. Schön die Niewiederistjetzt-Demos. Schön, dass Magazine auf Titelseiten entdeckt haben, was auf dem Spiel stehen könnte.

Das denke ich und denke: Was nutzt es, wenn dort, wo ich geboren bin und dort, wo ich lebe, jeweils fünf solche politische Jahre in Aussicht stehen, die bestimmt werden von: Einer völkischen Partei. Einer Partei, bei der fast die Hälfte der Mitglieder eine Kooperation mit der völkischen Partei nicht vollkommen ausschließen möchten, mit der Frage, wie durchsetzungsfähig die andere Hälfte ist. Und eine Partei, die eine erratische Person verkultet und der in beiden Ländern kaum hundert Mitglieder angehören, eine Wundertüte in jeder Hinsicht. Im Englischen gibt es das Wort bleak. Und trotz Grundmandatsklausel, trotz so und so viel unentschiedener Wähler, die für über 5% sorgen könnten: Die Prognosen deuten auf fünf Jahre bleak vor der Haustür.

17. August | Bezauberung und Apokalypse

Ich frage mich, ob ich Einträge wie den gestrigen gern schreibe. Eigentlich passen die Zeilen ja zu der Vorstellung, die mir von diesem Jahr gemacht habe, sie bestätigen die von mir gewählte Erzählstruktur und sollten deshalb ausgekostet werden.

Und ich hätte ja ausführlich schreiben und den Fokus richten können; dass nichts entschieden ist, dass jeweils drei Direktmandate ausreichen, um das geschilderte Szenario gleich mehrfach zu brechen, von den unentschiedenen Wählerinnen, die viele Rechnungen über den Haufen werden könnten, wie in Polen eine demokratische Wahl eine Entwicklung stoppte. Stattdessen: bleak.

Daran muss ich denken, als ich den Schlagabtausch der Thüringer Spitzenkandidaten im Mitteldeutschen Rundfunk sehe. Die Thüringer hatten ja beschlossen, dass das vordringlichste von allen Themen die Migration sei, weshalb zuallererst über Migration gesprochen wurde. Und der Vorsitzender der AfD wirkte zuallererst unsouverän und dünnhäutig, fast wie jemand, der nur über den Move verfügt, Ausländer zu rufen und damit den Kern sämtlicher Probleme erfassen zu wollen und zu wanken begann, als er begriff, dass dieser Move zumindest hier nicht verfing.

Irgendwie angefasst und entzaubert und zugleich taucht er auf dem Titel des SPIEGELS auf, »Wie Faschismus beginnt« steht darunter, er in einer Reihe mit Le Pen und Trump, die kernige, scharfkantige Ästhetik der 1930er, den Blick in die Ferne gerichtet, leicht untersichtig und deshalb mächtig wirkend, bedrohlich, stark. Eine bewusste Inszenierung angesichts des Themas. Damit auch eine Inszenierung, die anderweitig Projektionsfläche schafft, wiederum ein Bild erzeugt, eine maximale Überhöhung, »heimlicher Hitler«, so die gewählte Alliteration, eine Bezauberung.

Wie ist ein sinnvoller Spagat zu schaffen zwischen OneTrickPony und heimlichen Hitler, zwischen Aussparen und Apokalypse, auch hier in den Einträgen zwischen vermeiden, beschreiben, übertreiben?

18. August | Die sind jetzt eben da

Doch die Titelgeschichte über den Faschismus gelesen, der nahezu achselzuckend endet mit: Die sind jetzt eben da.

Und eigentlich, ja eigentlich ist das ja nicht der schlechteste Weg eines Umgangs. Nicht Zeit geben in die Frage, ob das nun F ist und was das bedeutet und sich dabei irgendwie zu winden. Sondern zu sagen: Die sind jetzt eben da. Die wollen das so und so. Und so und so viele wollen die wählen. Vielleicht nicht alle genau für das F. Und nicht alle, die die wählen, sind auch genau so. Aber die wählen die. Die wählen Faschisten.

Manche wählen konservativ, manche wirtschaftsfreundlich, manche progressiv, manche sozialdemokratisch, manche sozialistisch und manche wählen eben faschistisch. Das als Basis jedes Gesprächs über Politik im Feuilleton, Talkshow, beim Bratwurstessen und am Stammtisch und überall dazwischen. Und das gar nicht mal als »Keule« meinen, als Ende des Gesprächs. Sondern als nüchterne Feststellung, als offensichtliche Tatsache, als faktische Einordnung, eigentlich als Beginn der Auseinandersetzung.

Von da aus besprechen, wo der F von heute sich unterscheidet vom F, der in Geschichte gelehrt wurde, die Bilder und sich überschlagenden Stimmen, die seither in den Köpfen sind, wo Gemeinsamkeiten liegen, die Variationen besprechen, die F annehmen kann; der Putinfaschismus, den Faschismus von Projekt 2025, in welchem Stadium der Faschismus von Orbán ist, der iranische Faschismus etc. Besprechen, wie der Faschismus vor der Haustür aussieht, so ganz konkret mit den schwarz uniformierten Kindern, die gestern in Leipzig den CSD stürmen wollten oder welche Bereiche der Seele Gute-Laune-Wahlplakate mit dem Titel »Sommer, Sonne, Remigration« erreichen sollen. Eben: Die sind jetzt da, haben wir gesamtgesellschaftlich verstanden, und von da aus weiter.

19. August | als würde es so sein

Donald Trump postet mehrere mit KI erstellte Fotos, auf denen Taylor Swift und deren Fans zu sehen sind, die Donald Trump unterstützen – Taylor Swift als Uncle Sam wants you to vote for Trump, Swifties for Trump –, obwohl Taylor Swift und deren Fans Donald Trump nicht unterstützen, er schreibt dazu, als würde es so sein, »I accept!«, mit Ausrufezeichen. Der tschetschenische Diktator Kadyrow postet ein Bild eines Tesla Cybertrucks, von dem er behauptet, er habe ihn von Elon Musk geschenkt bekommen, auf dem Cyber ist ein Maschinengewehr montiert, womit Kadyrow in den Ukrainekrieg ziehen wolle, Musk dementiert, wer das glaube, müsse zurück geblieben sein.

20. August | Podium I

In den Tagen wieder mehr unterwegs und deshalb weniger Zeit fürs Schreiben oder scharfe Fotos. Heute Podium im Volkshaus Meiningen, SPD, BSW, FDP, Grüne im 140-Minuten-Gespräch. Die Zuschauer an runden Tischen, darauf liegen Give-Aways der Regionalzeitung. Warum setzt man sich auf ein Podium? Wegen der Auseinandersetzung? Doch, an diesem Abend: Wenn die einen Windrad sagen, sagen die anderen AKW und es fühlt sich so an, als wären die Argumente dafür in dieser Konstellation so oft ausgetauscht, die Personen sich seit Jahren bekannt, dass ein solcher Abend den Diskutierenden inhaltlich nichts bringen kann. Sie wissen, was ihr Gegenüber antwortet, zum Teil in den gleichen Worten, niemand wird jemanden auf der Bühne von der eigenen Sicht überzeugen. Natürlich. So ein Abend dann für das Publikum, das über die x-te Wiederholung der Diskussion die Positionen der Partei verstehen möchte? So wäre die Diskussion ein Schauspiel; nicht, weil die Politikerinnen das so wollen, sondern weil das Publikum das braucht. Es fällt auf: Richtig hoch geht der Puls beim Thema Migration. Immer. Die Beteiligten wirken erschöpft, müde vom Format, vom Ausfechten, aavon alles schon so oft gesagt zu haben und es wieder zu sagen, ohne Folgen für die eigene Meinungsbildung, ausgelaugt von den Prozenten, die sich zementiert haben, trotz der sich türmenden Termine.

21. August | Pressekonferenz

Pressekonferenz der Kandidaten vor Journalisten der ausländischen Presse, Speeddating genannt, jeweils eine Stunde mit dem Anwärter, der Anwärterin, dann nächste. So einmal von Vormittag bis frühen Abend durch das Thüringer Parteienspektrum. Den Vergleich direkt zu haben: Wie äußert sich Katja Wolf zum Ukrainekrieg, mit welchen emotionalen Einsatz geht Bodo Ramelow in das Thema etc. Ein irischer Journalist sagt, dass er schon lange über Ostdeutschland berichtet und unterwegs ist und in den letzten Jahren eine Verhärtung wahrgenommen habe – er verwendet das Wort Hass –, etwas, das ihn stark irritiert, auch, dass er oft mit postfaktischen Wahrheiten konfrontiert wird. Bodo Ramelow sagt, dass er für diesen Pressetermin früher nach Berlin fahren musste, heute kommen die Journalistinnen nach Thüringen.

22. August | Podium II

Podium in Erfurt, an einem Bildungszentrum, Thema Bildung. Alle Parteien jeweils mit ihren Spitzenkandidaten vertreten, außer AfD, die schickt nur den Landessprecher. Insgesamt sieben Männer auf der Bühne, vor zwei Tagen bei einem Podium zum Thema Familie saßen den Großteil der Zeit nur Frauen auf der Bühne. Dort wurde das Monogeschlechtliche beklagt, hier ist es kein Thema.

Die Vorgabe, am Thema des Podiums zu bleiben (Bildung!), klappt nur so halb. Es geht viel um den Fachkräftemangel, dass dieser nur mit Unterstützung von außen zu lösen sei und deshalb geht es recht oft um: Migration. Der Landessprecher der AfD mit entsprechenden Positionen. Wenn sechs Sprecher gegen einen sprechen, wiederholt sich das Sprechen, vergeht Zeit und vielleicht würde es genügen, wenn einer die Gegenrede hält und die gewonnene Zeit ginge dann in das Thema Bildung. Ein Live-Faktencheck: Der Landessprecher behauptet, in Weimar gäbe es nur zwei Stellenausschreibungen für Lehrer, woraufhin ein Kandidat auf dem Smartphone googelt und feststellt: Stimmt nicht. Einmal, als es um das geht, was in der Schule gelehrt werden sollte, will der Landessprecher aufzählen, was für ein Unsinn an Thüringer Schulen gelehrt wird. Er sagt: »Trommelkreis«. Mehr fällt ihm nicht ein. Und das ist schon überraschend, dass er nicht mehr nennen kann, offensichtlich das rhetorische Handwerkszeug nicht beherrscht, den Sprech seines Schlags, am populistischen Mindestsstandard scheitert.

23. August | Nochmal in Suhl

Dreier-Gipfel im Congress Centrum Suhl. Dort, wo in drei Wochen Semino Rossi auftreten wird, wollen um die Tausend Bodo Ramelow, Mario Voigt und Björn Höcke in der Diskussion erleben. Der erste begeisterte Applaus brandet auf, als der Moderator verkündet, dass nach aktueller Umfrage die Grünen nicht mehr im Landtag wären, ebenfalls großer Beifall bei der Verkündung der FDP-Werte. Von Anfang an Aggressivität. In der ersten Reihe ein Mann, der bei jedem Statement Björn Höckes klatscht, am Reihenrand ein Paar, das klatscht, wenn Bodo Ramelow spricht. Der Mann schaut zu ihnen, der böse Blick ist das und vielleicht ist dieses Congress Centrum für ihn auch ein Realitätsschock: Weil er möglicherweise merkt, dass Suhl noch nicht komplett blaues Land ist.

Aber doch schon. Die Halle ist eine Arena, im Publikum zwei Blöcke, einer deutlich in der Überzahl, der Applaus für Mario Voigt ist dünn, bestenfalls emotionslos. Wenn gelacht wird, dann über andere, Häme, man hat hier die Erlaubnis, auch ein bisschen freizudrehen, das, was man sich in den letzten Monaten und Jahren so angesetzt hat, loslassen zu können. Gespräch ist das selten und wo das Partnerpodium vom Dienstag in Meiningen bis auf einige Momente von Erschöpfung geprägt war, geht es hier um alles, zumindest darum, ob die Welt untergeht. Geballt in einer Halle, an einem Abend, der nicht allein für eine Partei gedacht tiefstblaue Zustimmung

Was auffällt: Wie oft Björn Höcke »Nochmal« sagt. Er sagt das, wenn er sich falsch verstanden fühlt (bei allen von ihm stammenden Zitaten, die ihm vorgelesen werden), wenn er sich angegriffen fühlt (immer, er ist immer im Widerstand gegen die Kartell-/Altparteien), wenn er sich ungerecht behandelt fühlt (von den Moderatoren, den Medien) und wiederholt dann, so lange wiederholt, bis er »Nochmal« sagt. Nochmal. Nochmal ist die Merkelraute von Höcke, das Höckenochmal.

Als ich das an diesem Abend denke, denke ich auch, dass dies eine süffisante Beobachtung sein könnte, die etwas sagt über den Charakter, ohne dabei politisch zu werden. Das Süffisante vergeht mir aber schnell, weil dieser Abend auch eiskalt ist, die Häme, das Klatschen, das Peitschen, das Aushebeln einer Diskussion, das Aufdrücken eines Weltbildes als Normalität.

Klar gibt es Momente, in denen sich die Stimmung etwas runterdimmt, Themen, die eher ruhig gesetzt werden (Bildung, Gesundheit), aber immer wieder in Tumulten enden, meist reichen dafür Worte, um die Mehrzahl der Tausend hier abzuholen; Verbrenner, Windrad, Merkel. Und von da aus weiter. Später, bei der Migration, als CDU und AfD sich ergehen im Aufzählen, was man gegen Asylanten getan hat, läuft Ramelow einige Schritte zurück, setzt sich auf einen Klavierhocker, so, als wollte er nicht mehr Teil dieser Arena sein. Das Publikum buht, sieht sein Verhalten als Beleg dafür, wie ehrlos er ist. Manche klatschen für ihn, einige stehen angewidert auf und verlassen enttäuscht den Saal, das Wort »kindisch« fällt, auch »Shitshow«.

Nach dem Ende hockte sich Björn Höcke an den Bühnenrand. Sofort bildet sich eine Menschentraube, dreißig, vierzig Besucherinnen um ihn. Eine ältere Frau redet ihm zu, sagt, dass es wichtig ist, dass er redet, sie alle wählen ihn hier, aber er trete zu aggressiv auf, das sei eine Falle, die die anderen ihm stellen, Ramelow, die CDU, die Medien, er lässt sich da reinlocken und das müsse er abstellen, aber wir wissen ja, was Sie meinen, machen Sie weiter. Wir wählen blau, ruft jemand. Unser Ministerpräsident ein anderer. Das ist volksnah, ein dritter. Darf ich ein Selfie mit Ihnen haben, ruft die Frau und es kommt zu einem Selfie, das Foto ist unscharf, ein zweites wird gemacht, die Frau geht, eine andere stellt sich neben Björn Höcke, das nächste Selfie, Männer stellen sich neben ihm, heben den Daumen, zwei Jugendliche nehmen ihn in die Mitte, einer legt den Arm um seine Schulter, eine Frau beginnt zu zittern, ein Mann sagt, er habe die falsche Mütze mit, zuhause habe er noch eine blaue.

Es liegt eine Menge Verehrung in diesen Minuten, ungebrochene Begeisterung für ein Programm, das sich in einem Mann manifestiert hat. Auf dem Podium wurde darauf verwiesen, dass die AfD in Thüringen 30% Zustimmung hat, aber nur 16% ihren Landesvorsitzenden direkt wählen würden. Diese 16% allerdings lieben ihn. Der eiskalte Hauch der Geschichte geht an diesem Abend in Suhl nicht von Björn Höcke aus, sondern von den Menschen, die für ihn klatschen. Die sich bedingungslos von ihm begeistern lassen.

Und dabei: Auf den Sommerfesten, mit denen die AfD durch das Land zieht, spricht er anders. Nicht so gezähmt wie in Suhl.  

24. August | Solingen

Noch am Abend des 23., unmittelbar nachdem ich die Eilmeldung gelesen habe, schreibe ich diesen Eintrag. Ein Unbekannter ersticht auf einem Fest in Solingen drei Menschen, verletzt mehrere schwer. Wie ist die Abfolge der Gedanken? Zuerst das Lesen, das Aufnehmen der Information. Dann die Emotion, SchockTrauerBerührtsein. Und dann, gleich danach, das Einordnen. Was bedeutet diese Tat, über die bisher so gut wie nichts bekannt ist, welche Folgen hat sie? Die Ahnung, dass Solingen Synonym wird, so wie Mannheim Synonym wurde, dass in der nächsten Woche Solingen ganz oft auf politischen Podien zu hören sein wird, von Wahlbühnen auf Marktplätzen ertönen wird. Das Fest hieß »Festival der Vielfalt«, auch das wird genannt werden, sehr oft wird es genannt werden, zynisch wird es genannt werden, als Beleg dafür und dafür. Es ist ein Denken nicht über eine Tat, sondern wie eine Tat sich einreiht, wie sie als Strategie benutzt werden wird, soweit ist es schon.

25. August | auf der Kippe

Dreh in Erfurt auf der Demonstration »Thüringen auf der Kippe«. Start am Anger, keine 48 Stunden nach der Messertat in Solingen. Gleich zu Beginn eine Schweigeminute, eine Minute Stille am Anger, im Laufe der nächsten Stunden immer wieder Verweise darauf, dass eine Demonstration gegen Extremismus auch eine Demonstration gegen Islamismus sei. Und auch klar, wer das anders sehen will, wird das anders sehen wollen.

Am Anger die Omas gegen rechts mit Vuvuzelas, Luisa Neubauer mit einer Rede, am Laternenpfahl hängt ein Plakat der AfD mit dem Slogan »Geschichte schreiben«. Der Zug setzt sich in Bewegung. Als ich eine unserer Protagonistinnen im Gespräch mit Ricarda Lang angele, kommen ihre Personenschützer und wollen wissen, wofür wir drehen. Unsere Protagonistin erklärt, wir dürfen weitermachen. Später sagt sie, dass es vorkomme, dass rechtsextreme Youtuber mitfilmen, etwas, das auf den entsprechenden Kanälen lande, man müsse vorsichtig sein. Schilder, die hochgehalten werden: »AfD omg«, »AfD wählen ist so 1933«, »Björns gegen Höcke«, »guter Bernd (das Brot) – böser Bernd (Höcke)«, und omnipräsent in verschiedenen Varianten ist »Björn Höcke ist ein Nazi«. Viel Energie auf eine Person geleitet, was letztlich beiträgt zu einer Prominenz, dessen Wirkung am Freitag in Suhl zu beobachten war.

Der Zug unterwegs Richtung Landtag, vorbei am Bahnhof, die S-Bahn-Schienen entlang, in den zum Stillstand gezwungenen S-Bahnen ruhen die Fahrer in den Fahrerhäuschen. Vor dem Landtag eine Bühne aufgebaut, auf dem Hügel beim angrenzenden Eissportzentrum Erfurt sammeln sich Menschen, 4500 sagt die Polizei, 7000 die Organisatoren. Musik, dann die Sprecherinnen, die Sprecher, Jens-Christian Wagner von der Gedenkstätte Buchenwald, der kürzlich 350.000 Briefe an nicht Social-Media-affine Menschen verschicken ließ, um zu warnen, wie die AfD Nationalsozialismus salonfähig macht, dessen Konterfei auf eine Todesmarschstele in Mittelbau-Dora geklebt wurde, zitiert Personen aus dem blauen Umfeld und belegt damit. 4500-7000 Anwesende, die nicht in ein autochthones Deutschland gehören würden, so, wie es sich die Partei vorstellen würde, diese Demonstration auch Selbstverteidigung.

26. August | Mutter aller Probleme

Man überschlägt sich, man kommt gar nicht mehr raus aus dem Überschlagen.

26. August (2) | Inhalt Performance

Eine Beobachtung beim Anschauen der FaktistWahlArenaThüringen: Wenn man die Kandidatinnen und Kandidaten schon mehrmals auf Podien u.ä. gehört hat, kennt man ganz gut deren Positionen, die Argumente, mit denen sie diese Positionen vertreten, die Worte, in die die Argumente gekleidet werden (Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr, 10% Schulausfall, IHK Südthüringen, 1500 neue Polizisten…), notwendige Wiederholungen, die beim mehrmaligen Hören deutlich werden. So gehe ich bei weiteren Debatten nicht mehr inhaltlich mit, sondern schaue auf das Performative: Wer präsentiert wie in welcher Intensität? Wer geht wen deswegen auf ungewohnte Weise an? Wer variiert das Gesagte, ist das effektiver, weniger effektiv als die bisherige Routine? An welcher Stelle kommt ein neuer Zungenschlag dazu, eine weitere rhetorische Figur? Wer wirkte müde, wer lieferte ab? Vielleicht eine zwangsläufige Entwicklung, die mir hilft zu verstehen, warum Politik so aufbereitet wird, wie sie aufbereitet wird, weil ich an mir selbst erlebe, wie ich in der Wiederholung schaue höre einordne.

27. August | Tag des nationalen Notstands

Foto: Y. Andrä

Am Tag, als Friedrich Merz den nationalen Notstand ausruft, kommt der Kanzler nach Jena. Es ist ein sonniger Tag, so viel Sonne, dass es den gar nicht mal restlos gefüllten Marktplatz in zwei Bereiche gliedert: Licht und Schatten. Viele ziehen den Schatten vor, nicht nur metaphorisch. Der Thüringer Spitzenkandidat der SPD hat den Kanzler eingeladen, etwas, was gar nicht so selbstverständlich ist: der Kanzler als Wahlhelfer.

Auch offiziell ist der Platz in verschiedene Zonen aufgeteilt, für die jeweils Taschen kontrolliert und der Body gescannt wird. Einige Gegendemonstranten stehen am Gitter und packen ihre Gegendemonstrantenaccessories aus; eine in eine Deutschlandfahne gehüllte Vuvuzela, Pappschilder »Olaf!!! Wieviel tote deutsche Mitmenschen möchtest du noch?«, darunter ein Messer gezeichnet, seltsamerweise ist die Klinge in afdhellblau gemalt.

Die Musikauswahl ist symbolisch. Zwischen den ersten Rednern läuft FOREIGNER. Als Einlaufmusik hat der Kanzler »Paradise City« ausgewählt, weil Jena / Paradies. Zum Abschluss spielt »Zusammen« des Erfurter Clueso. Carsten Linnemann hatte zum Tag des nationalen Notstandes verkündet, die wichtigsten Probleme des Landes seien »Migration, Migration, Migration«. Für den Kanzler kommt heute ein viertes hinzu, Migration.

Weiter hinten wird die Vuvuzela angeworfen, Lügner, Verräter etc. gerufen. Jemand auf den Bierbänken wirft in unregelmäßigen Abständen in die Rede »Schmeiß doch ne Taurus«. Als der Kanzler am Ende doch über die Ukraine spricht und verschiedene Friedenskonferenzen zum Zwecke der Diplomatie erwähnt und weiter gepfiffen wird, sagt er: »Da buht ihr? Ich dachte, ihr seid immer happy, wenn das Wort fällt.« Dann Selfie, dann nach Delitzsch, sich zu Solingen verhalten, darum geht es heute.

28. August | Spatenbild beim Weltmarktführer

Dreh in Weimar, fast vor der Haustür, bei einem der vielen, auf den Podien oft erwähnten Hidden Champions, ein Weltmarkführer in der Nachbarschaft, Sicherheitstechnik für explosionsgefährdete Bereiche. Der CDU-Ministerpräsidentenkandidat, der Weimarer CDU-Landtagskandidat für den Weimarer Wahlkreis, der CDU-nahe Weimarer Bürgermeister und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sind eingeladen, den geplanten Neubau einer Halle zu feiern. Anfangs ein Spatenbild. Erde aufgehäuft, darin stecken so viele Spaten, wie Männer (und eine Frau) heute Spaten repräsentativ in die Erde stecken und Erde ausheben sollen. (Zehn)

Spatenbilder sind ein Genre für sich. Als ich Stadtschreiber im österreichischen Wels war, war ebenfalls gerade Wahlkampf. Kaum ein Tag verging, ohne dass nicht jemanden, der irgendwie politisch aktiv war, ein Spaten in die Hand gedrückt wurde. Dann stand man als politischer Aktiver mit Helm auf dem Kopf und Spaten in der Hand oder Spitzhacke oder Pressluftbohrer und hob dynamisch Erde aus und schlug dynamisch die Hacke in den Boden und ein Foto wurde gemacht, das den abstrakten Prozess der Planung in ein symbolisches Bild überführen sollte. Ein Bild, das, muss man auch sagen, später niemanden irgendetwas gab. Niemand sagte später: Der oder der hat einen Spaten in der Hand, den wähle ich. Eher schaute man auf den schiefsitzenden Bauarbeiterhelm auf dem Kopf. Und trotzdem war so ein Spatenbild effektiver, als wenn jemand eine Stunde lang schilderte, wie es dazu gekommen war, dass etwas gebaut werden würde.

Und trotzdem ist es so, dass heute ein Verantwortlicher in der Rede zum Spatenstich erklärt, dass die Genehmigung für den Hallenbau in Rekordzeit erfolgte, dass die Halle klimaneutral gebaut wird, eine PV-Anlage mit so und so Watt im Peak aufs Dach gesetzt wird, und so und so viele Arbeits- und Ausbildungsplätze werden geschaffen und im gleichen Satz wird deutlich gemacht, dass hier niemand unter einer AfD-Regierung, unter einem Herrn Höcke arbeiten und leben möchte.

Überhaupt ist der anschließende Empfang mit Podiumsdiskussion angenehm solide. Jemand wie Carsten »Migration, Migration, Migration« Linnemann, der sich in seinem Reden immer wieder energetisch entäußert, wirkt da fast deplatziert. Weil es den Anwesenden an diesem Abend im Grunde darum geht, neue Hallen zu errichten und dabei möglichst wenig Bürokratiezeugs erledigen zu müssen (Lieferkettengesetz) und genügend Leute zu finden, die fleißig in die steuerbefreiten Überstunden hineinarbeiten. Idealerweise haben diese Leute in einer Schule gelernt, wo es ab der zweiten Klassen Kopfnoten gab und als Sahnehäubchen haben die bei den Bundesjugendspielen nicht nur Teilnahmeurkunden erhalten, sondern Plätze belegt.

Aber wichtig ist, dass diese Leute da sind und dass diese Leute in Anstellung arbeiten. Und woher diese Leute kommen (Migration, Migration, Migration), ist den Anwesenden bei diesem Hidden-Champion-Empfang letztlich auch ein bisschen egal, wichtig eben das leistungsbezogene Arbeiten hinein in die schon erwähnten steuerbefreiten Überstunden. Und wenn man in dieser Halle noch ein paar letzte Stimmen von anwesenden FDPler mitnimmt, um so besser.

So ist es hier alles ziemlich stimmig, so, als ob die Wogen der Gegenwart an den Hallenwänden des Weltmarktführers wirkungslos brechen, ein geschützter Raum, in dem die CDU als das konserviert ist, was sie auch einmal war und wieder sein könnte, wenn sie sich nur ließe.

29. August | Wüstentage

In Gera, am Wahlkampfstand des BSW, nahe der Fußgängerzone. Vormittags ist die Spitzenkandidatin da. Ohne Umschweife geht sie auf die zahlreich vorbeieilenden Passanten zu, spricht an, versucht zu überzeugen.

Dabei ist das gar nicht notwendig. Die meisten kommen von selbst, treten ans Zelt, an den Tisch mit dem Inhaltsflyer, auf dessen Titel Sahra Wagenknecht die Arme ausbreitet für den Neustart für Thüringen. Die Passanten sagen, dass sie Katja Wolf gut finden, Fan sind von Sahra, dass sie sowieso schon wissen, wen sie wählen. Ein Lokführer im »Paris 2024«-Shirt will gar nicht über den Krieg sprechen, sondern über regionale Fragen; Ärzte auf dem Land, die Zweigleisigkeit von Thüringer Bahnstrecken, Lehrermangel. Am häufigsten angesprochenes Thema, wird uns geschildert, sei der Krieg, gleich danach, mit wem man koalieren werde, Bildung auch, Soziales, Gesundheit, Energie. Die Stimme einer Helferin heiser, vom vielen Reden, sagt sie.

Wenn ich Euch wähle, habe ich dann auch wieder die CDU an der Backe?, fragt eine Passantin mit Hund. Einer am Stand erzählt, wie er mehrmals von Rechtsextremen angegriffen wurde, erzählt von den Rechtsextremen, die in den Garagen vor seinem Haus kleine private Kneipen eingerichtet haben, sich dort mit Hitlergruß begrüßen, das Syltlied singen, die Polizei rufen lohne sich nicht, manche Beamte würden sich dazu setzen, abends gehe er nicht mehr weg, und habe entschieden, dass er sich engagieren wolle, deshalb stehe er hier.

Immer wieder Passanten, Gesprächsinseln bilden sich, eine kribblige Neustart-Vorfreude in der Luft, viele verblieben lange auf den Inseln. Jedem wird eine Tüte Gummibärchen, auf die der Name des BSW geklebt ist, gereicht. Der Griff danach erfolgt automatisch, ein Interessent = Tüte Gummibärchen, wie Kostbarkeiten werden die Tüten überreicht. Am schnellsten sind die Kugelschreiber weg, auch die Flaschenöffner gehen gut.

Am Nachmittag Fahrt nach Jena, auf einen Kaffee mit Robert. Neben Schillers Gartenhaus ein Gartenlokal, draußen sitzen im Schatten und mit Limo, wie eine Oase, auch metaphorisch. Wenn es etwas gibt, auf das man sich auf dem Thüringer Land einigen kann, dann, dass man sich die Grünen unter fünf Prozent wünscht, ein Konsens dort. Und das ist noch der harmlose Konsens. Hier aber ist Stadt, eine der Städte, wo die Grünen zweistellig gewählt werden.

Es ist heiß heute, sehr heiß, vielleicht hätte es heißen sollen Auf einen Kopfsprung mit Robert. Vielleicht auch deshalb beginnt der Vizekanzler mit einem Verweis auf die »Wüstentage«, Tage, an denen es mehr als 35° hat und wie viel häufiger es diese Wüstentage gab in den letzten Jahren und geben wird, gerade in Thüringen. Er spricht über den Namen, sagt, dass die meisten anderen Parteien drei Buchstaben haben, seine Partei einen sperrigen Namen trägt und es schon Versuche gab, das »Bündnis 90« rauszustreichen, das aber stets verhindert wurde, zum Glück sagt er und, dass er viel habe lernen müssen über Ostdeutschland. Es fällt auf: Am Anfang seines Redens klingt seine Stimme belegt, das Belegte löst sich im Verlauf, am Ende, als er lauter wird, ist es gänzlich verschwunden.

Anschließend nach Weimar, ein ähnliches Format. Ähnlich wie bei dem Empfang der CDU kürzlich frage ich mich, warum es diese Stunden gibt. Es ist ja ein Reden vor Menschen, die in überwiegender Zahl schon entschieden haben, schon überzeugt sind. Würde man nicht effizienter Stimmen gewinnen können, wenn man in der Fußgängerzone Eis verteilte? Ein Eis von Robert Habeck in die Hand gedrückt und dann wähle ich grün? Ein Gummibärchen von Katja Wolf und ich wähle BSW? Ein Senf mit dem Konterfei von Mario Voigt und ich setze mein Kreuz bei der CDU? Wie funktioniert das mit dem Überzeugen?

Hier in der Notenbank Weimar ist es sicher auch ein Dank an die Wahlhelfer, eine Belohnung – Robert Habeck zu Gast. Aber ist es auch Hilfestellung. Die verschiedenen Reden sind Argumentationshilfen. Wenn noch einmal chronologisch aufgeschlüsselt wird, wie der Ablauf war bei: Gas aus Russland. Wärmepumpe. Schuldenbremse.

Alles auch Inhalt und rhetorische Figuren, um morgen beim Wahlschlussspurt in der thüringischen Kleinstadt, an deren Ortseingangsschild ein Galgen mit Ampel aufgebaut ist und jemand schreit, dass der Habeck mir die Heizung aus dem Haus reißen will, etwas Inhaltliches rhetorisch so sagen zu können, dass Weltbilder wenigstens einen Moment regungslos in der Luft hängen. Oder beim Grillen am Samstagabend, im Freibad am Freitag, Orte eben, wo Politik auch verhandelt wird, vielleicht sogar hauptsächlich.

30. August | Prominenz

In Bad Heiligenstadt, die Halle einer mittelständischen Metallbaufirma. Gegen 11.00 Uhr wird Mario Voigt erwartet. Er verspätet sich, so lange spricht der Firmeninhaber mit uns. Er sagt: »Die Kleinigkeiten sind die Wahrheit.« Und zählt dann auf; Firmen-Parkgebühren, die die Mitarbeiter übernehmen müssten, steuerfreie Überstunden, Bürokratie. Er sagt, hier im Eichsfeld gehe es um CDU oder AfD, er habe die CDU eingeladen, er würde ihnen als Unternehmer natürlich nichts vorschreiben wollen, aber anhören sollen seine Mitarbeiter, was die CDU so zu sagen habe.

Dann kommt der Spitzenkandidat der CDU. Er hält keine Rede, es zieht ihn gleich zu den Mitarbeitern in die kleinen Gespräche. Die Themen, die wir in den letzten Wochen auf den Podien hörten, ergeben sich hier fast zwangslos von selbst; Wirtschaft (Leistung), Bildung (Leistung), Migration, ländliches Leben. Zum Teil differenzierter als auf den Podien; bei Bildung merkt jemand an, dass gar nicht um das Herkunftsland geht, sondern soziale Schicht, bei Migration meint jemand, dass es viele Probleme nicht gäbe, wenn es viel früher eine Arbeitserlaubnis gäbe.

Der größte Disput ergibt sich bei der Frage, ob die Bratwurst, die ein Freund des Firmeninhabers auf einem extra in die Halle geschobenen Megagrill brät, Eichsfelder oder Thüringer Bratwurst heißen sollte. Die Eichsfelder Bratwurst, wird erklärt, sei besonders, weil sie aus einer warmen Schlachtung stamme, für das es im Eichsfeld eine Sondergenehmigung von der EU gebe. Mario Voigt sagt wieder, dass er in den letzten drei Tagen hundert Bratwürste gegessen habe, eine anwesende Journalistin notiert mit, regionenspezifisches Geplänkel, das uns alle auch liebenswert erscheinen lässt, wir Thüringer und die Bratwurst, eines der wenigen Dinge, die gerade unpolitisch sein können, ich lasse mir später auch eine Bratwurst zwischen Brötchenhälften legen und gebe den Wahlkampfsenf hinzu, der reichlich vorhanden ist.

Zwischendurch rauscht Julia Klöckner in die Halle. Sie ist unterwegs – wie viele andere auch – um die Kollegen im ostdeutschen Wahlkampf zu unterstützen. Gerade noch war sie in Brandenburg und merkt wie viele Journalisten doch unterwegs seien, um den Osten zu erklären. Ein kleines bisschen entrüstet klingt sie dabei auch. Am frühen Abend gehe es weiter nach Suhl, dort werde der »Söder Markus« zur Unterstützung erwartet. Wäre der »Markus« hier, sagt Julia Klöckner, hätte er sicher als erstes ein Foto von sich mit einer Bratwurst gemacht.

Hendrik Wüst unterstützte schon im Wahlkampf, Carsten Linnemann auch, Boris Weil, am Dienstag kam der Kanzler, am Donnerstag der Vizekanzler, heute Annalena Baerbock im Kaisersaal, Gregor Gysi auf dem Anger, morgen Alice Weidel auf dem Domplatz – lauter prominente Namen, die helfen sollen, wobei eigentlich? Aufmerksamkeit zu generieren, um damit eine Bühne zu schaffen, auf der Ideen präsentiert werden, die bestenfalls in einer Stimme münden. Wie verhält sich die Prominenz von Politikerinnen zur Prominenz von Schauspielerinnen, Sportlerinnen, Musikerinnen? Warum will man jemanden mal gesehen haben? Wie bemisst sich das? Reicht es, Markus Söder gesehen zu haben, ist es der Unterhaltungswert, muss er auch inhaltlich liefern?

Auf dem Weg vom Eichsfeld nach Erfurt auf den Anger zu Gregor Gysi vorbei an Plakaten, die werben für 90s Eskalation-Parties. Auf dem Anger eine Bühne, darauf die Vorredner, einer sagt, dass die Wahl vom 1. September entscheide, welches Menschenbild wir hier die nächsten 5 10 15 Jahre haben werden. Menschen bitten Bodo Ramelow um gemeinsame Fotos, Ulrich Schneider, ehemaliger Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes spricht über seine Band, die später hier beschließen wird.

Davor betritt Gregor Gysi die Bühne. Für ihn sind fünfzehn Minuten Redezeit eingeplant, weshalb er bittet, dass ihm nach 10 Minuten Bescheid gegeben werde, damit er in den letzten fünf Minuten zusammenfassen könne. Dann beginnt das Reden, weniger Rede als Vortrag. Er ist auch eine Maschine, die so effizient wie möglich einen Themenkomplex (russischer Angriffskrieg, Gazakrieg, Mieten, Demokratiegefährdung, Zusammenhalt) benennt, in drei Sätzen das Problem erklärt und in weiteren fünf Sätzen prägnant erläutert, vieles davon in einem Konjunktiv, der I oder II sein könnte. Ließe man ihn heute hier zwei Stunden reden, er würde die komplette Welt und wie sie zu retten ist erklären.

Bodo Ramelow wird in seiner Rede erst am Ende emotional, als es gegen die »braunen Arschlöcher« geht. Davor benennt er in zahlreichen Beispielen ein besseres Thüringen. Parteigenossen betreten hinter ihm die Bühne, vor der Bühne entrollt die Linke Jugend ein rotes Banner. Klatschen, lange, anhaltend, »Bodo, Bodo«, eine Frau ruft »Danke für alles«. Das ist mehr als Beifall für eine Rede, es ist Beifall für zehn Jahre, und es fühlt sich auch an wie ein Abschied, eine Respektbekundung, eine Danksagung, weil es sein kann, dass die Linke hier für lange Zeit zum letzten Mal auf großer Bühne gestanden haben wird.

 

31. August | Abschlusskundgebung

Dreh in Erfurt, die Abschlusskundgebung der AfD auf dem Domplatz. Der Einlass gestaltet sich schwierig, der Zugang zum Gelände wird wegen der Ankunft von Björn Höcke und Alice Weidel zwischenzeitlich gesperrt. Die Ankommenden reagieren ungehalten, vermuten einen von oben orchestrierten Ausschluss von der Veranstaltung, »Damit der Platz vor Euren Kameras leer aussieht«, »Für wie blöd haltet Ihr uns?«.

Auf dem Gelände läuft eine Art Rockversion des DDR-Lieds »Unsere Heimat«, gleich nach Wir Sind Helden mit »Müssen nur wollen«, auch Andreas Bourani, »Ein Hoch auf das, was vor uns liegt«. Bei den Bäumen stehen die hellblauen Wahlstände, neben der Bühne, die in einigen Metern Sicherheitsabstand zum Publikum aufgebaut ist, eine Leinwand. Dahinter erhebt sich der Dom, links daneben eine weitere Sicherheitszone, Leerraum als Puffer zur Gegendemonstration.

Fähnchen werden verteilt (Kein Fähnchen im Wind), auf den Shirts Wikingersymbolik, der Ring der Nibelungen, verschiedene AfD-Ortsverbände tragen ihren Ortsverbandsnamen auf der Brust, auf einem Shirt steht »AfD Fan Boy«, auf einem anderen ist ein blauer Schlumpf neben »Heimat« zu sehen, »Für Deutschland: alles«, viel »Ostdeutschland«. Junge Männer in schwarz, die verfassungsfeindlichen Symbole nur nachlässig verborgen, ältere Männer in Karohemden, junge Frauen in Röcken, ältere Damen mit Flyern, eine Abordnung aus einer mittelgroßen bayrischen Stadt, die für ihre Veranstaltung »Schluss mit der N_zikeule« wirbt, sie haben ebenfalls ein Banner mitgebracht, »Alice meine Kanzlerin« hängen sie an den Gitterzaun. Deutschlandfahnen, Deutschlandfahnen mit eisernem Kreuz, Deutschlandfahnen, auf denen »Wir sind das Volk« steht, Wirmerfahnen, Thüringenfahnen, Fahnen der Jungen Alternative, AfD-Fahnen in allen Größen, ein Plakat »Freiheit statt Willkür«. Bevor die Reden beginnen, die Rufe: »Abschieben«, »AfD«, »Alles für Deutschland«, auch das Syltlied wird gesungen, am prominesten aber »Ost Ost Ostdeutschland«.

Warum ich das so ausführlich aufschreibe, etwas, das sich auch auf Videos nachschauen ließe? Vielleicht, um mir eine Distanz einzureden, um meine Anwesenheit zu begründen. Ziel des Aufenthalts auf dem Domplatz ist das Festhalten, das Aufnehmen von etwas, das Teil einer Geschichte ist. Ich beobachte. Das ist die Perspektive, die Rechtfertigung. Grundsätzlich weiß ich viel zu wenig über die Strukturen hier, kann Symbole und Äußerlichkeiten nur bedingt einordnen. Wie ich mich fühle? Ich versuche, die Anwesenden anhand dieser Äußerlichkeiten einzuschätzen. Fernhalten von den offensichtlich äußeren Nazis. Da sind die äußerlichen Normalos, da die Normalos mit kurzer Zündschnur, die den kleinsten Augenkontakt für einen Übergriff halten würden, da die Normalos mit Banner oder Fahne, die aussehen wie Normalos, aber eine Mission haben.

Da die, deren Anwesenheit erst einmal irritiert. Jemand mit großer Israelflagge und AfD-Hut. In der ersten Reihe eine Frau mit vietnamesischem Migrationshintergrund. Die russischstämmige Volkswirtin, die den Umstehenden lauthals verkündet, dass sie russischstämmige Volkswirtin sei. Die Familie mit Kleinkind auf dem Arm vor den krachenden Lautsprechern. Der PoC im hellblauen »Ortsverband Bonn«-Shirt, der missmutig beäugt wird, bis ihm die Hand geschüttelt und auf die Schulter geklopft wird, »Gibs ja gar nicht«, wird erfreut festgestellt.

Die Gegendemonstration kommt später, die Pfiffe und »Alerta«-Rufe nur schwach hören, die Zonen zu weit voneinander entfernt. So beginnen die Reden. Der erste spricht die »Teddywerfer« und »Bahnhofsklatscher« von 2015 an, sagt, Das Einzige, bei dem wir klatschen, ist, wenn die Flugzeuge abheben. Dafür machen wir hier in Erfurt auch die Startbahn länger. Passend dazu ein Wahlkampfgimmick: ein Heliumballon in Form eines blauen Remigrationsflugzeugs.

Alice Weidel betritt die Bühne, sie ist die westdeutsche Prominenz heute. An einer Stelle nimmt sie den Begriff »Dunkeldeutschland« auf, fragt »Wo ist denn Dunkeldeutschland? Der Osten sicherlich nicht, liebe Freunde!« Klatschen, neben mir ruft jemand »Jawohl«, viele »Ost Ost Ostdeutschland«, jeder hat verstanden, dass sie von Hautfarben spricht. »Und das ist der Grund, warum wir erst den Osten blau machen und im nächsten Jahr den Westen.«

Schließlich Björn Höcke, rechtzeitig vom schlechten Schlaf genesen und wieder quicklebendig. Der Bildausschnitt der Kamera verändert sich, zeigt im Gegensatz zu den anderen Rednerinnen eine Totale, Jeans, weißes Hemd, vor dem hellblauen Hintergrund mit »Der Osten machts« in schwarz-rot-Gold, Höcke wird immer mittig davorstehen, vor Osten. »Ost Ost Ostdeutschland.«

Er erzählt von gestern, der »Simmi-Tour« durch seinen Wahlkreis Greiz, sagt, heute hier am Dom sei sein erstes Höhepunkt-Erlebnis, aber gestern, der Corso war das zweite Höhepunkt-Erlebnis seines Wahlkampfs, von dem er eigentlich nicht möchte, dass dieser aufhöre, so viel Zuspruch habe er erfahren, »wir wollen Simmi fahren keine Lastenräder, was denn sonst.« Der Osten machts. »Ich habe diese Jugend gesehen, die mich gestern begleitet hat, stabile Jungs, hübsche Mädchen, schön anzuschauen … den Blick auf den Horizont geheftet, die blauen Wölkchen hinter uns, wir haben die Freiheit gespürt, den Fahrtwind gespürt, wir haben uns in die Augen geschaut, die Jugend und ich, und wir haben gesehen: Wir gehören zusammen.«

Die »Wir sind das Volk«-Fahnen werden geschwenkt. Er sagt: Wir sind ein Volk. Nicht: das Volk. Ein Volk. Auch er spricht davon: Der Osten macht vor, was im Westen passieren wird. Ein Volk, das ist das Ziel. Er spricht von westdeutschen AfDlern, die ihren Jahresurlaub in Thüringen verbringen, um in die kleinsten Dörfer zur Unterstützung zu fahren. Er spricht von den Historikern, die in der Zukunft einmal den 1.9.2024 als Zäsur beschreiben werden: die Zeit davor und die Zeit danach, »morgen können wir Geschichte schreiben, werden wir.«

Die russischstämmige Volkswirtin klatscht bei jedem Ausrufezeichen, euphorisch ihre Zwischenrufe. Ein Youtuber will von vorn filmen, die Volkswirtin will für ihn ihren Platz in der ersten Reihe nicht aufgeben. »Du bist ein ungeficktes Weib«, brüllt der Youtuber, »wir schicken dich wieder dahin, wo du herkommst.« Er sucht sich einen anderen Platz, die Volkswirtin klatscht wieder, es geht um die Messermänner, den Verlust der Heimat, für wirkliche Demokratie, Ostalgie, die USA als Hegemon, eine neue multipolare Weltordnung.

Eine halbe Stunde spricht er, unterbrochen von »Ost Ost Ostdeutschland.« Am Ende kommen die Vorredner mit auf die Bühne, singen das von Band eingespielte Deutschlandlied. Es ist heiß gewesen, der Platz mit den 1200 Anwesenden leert sich schnell, die Besucher fließen ab in die Innenstadt. Einige stellen sich ans Gitter, richten sich aus in Richtung Gegendemonstration, rufen: »Sucht Euch Arbeit, Ihr Drecksbrut«, »Fotzen«, »Abschieben«, »Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen«, rütteln dabei außer sich am Gitter, recken außer sich die Fäuste zu den Gegendemonstrantinnen zweihundert Meter entfernt. Einer ruft lachend: »Wo sind die Scharfschützen, wenn man sie mal braucht?« Ein Mann aus Schnellroda geht an uns vorbei, morgen wird geerntet.


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