Chronozentrismus


1. Februar 2025 | Apolda

In der Apoldaer Stadthalle löst sich heute die Junge Alternative auf. Zur Gegendemonstration kommen um die 1500. Es fühlt sich auch heute hier als der falsche Protest an, als wäre dazu alles gesagt, wo es doch notwendiger wäre, gegen das auf die Straße zu gehen, was sich die vergangenen Tage in JA-Stimmen gefunden hat, auszudrücken, was damit in Gang gesetzt ist.

2. Februar 2025 | Ukraine

Eigentlich über die zweite Woche USA schreiben wollen, dann nachmittags über den Theaterplatz laufen. Ein Klagelied hören, das mich, ohne die Worte zu verstehen, mit voller Wucht trifft, eine Flut von Schmerz, dunkle Stimmen.

Ein Stand der Initiative »Für Frieden und Solidarität mit der Ukraine« ist aufgebaut, davor 20-30 Menschen. Ein Redner begrüßt einen ukrainischen Soldaten, der momentan in einem Weimarer Krankenhaus behandelt wird. Der Redner erinnert an Mittwoch, einen Gedenktag, an dem einem früheren Krieg mit Russland gedacht wird. Spricht über die Rede des Holocaust-Überlebenden Roman Schwarzmann, der ebenfalls am Mittwoch im Bundestag sprach, kurz vor der Abstimmung CDUFDPAFD, zitiert, wie Roman Schwarzmann beschreibt, wie russische Flugkörper seine Wohnung zerstörten.

Eine ukrainische Kriegsjournalistin wird zugeschaltet. Sie dankt den Anwesenden dafür, dass diese jeden Sonntag ihre Zeit dafür aufwenden, zusammenzukommen, wie wichtig das sei, wie die Fotos in die Ukraine gehen. Einer der Anwesenden fragt nach Saporischschja, seiner Heimat, wie es um die Stadt steht. Die Journalistin berichtet, dass die russische Armee viele Männer schickt, die Verluste hoch sind, aber die russische Armee vorwärtsdringt, leider, übersetzt der Redner. Sie sagt, angesichts der Weltlage haben Informationen aus der Ukraine ein paar Minuten Zeit, Erinnerungsfetzen in meinem Kopf, ein Wohnblock beschossen, ein Schulgebäude, hundert unter den Trümmern, was ist diese Woche noch vorbeigerauscht?

Es ist eine leise Veranstaltung. Kein Schreien, keine geballten Fäuste, nicht mal Wut. Gehoben die Stimmen nur bei Slava ukraini. Trauer und Schmerz, tief eingegraben in diese Stunde in Weimar, Grieve. An diesem kalten, sonnigen Februarnachmittag ist der Krieg hier, das Grausame, das Reden von der Front und den Raketen am Sonntagsspaziergang neben dem Eis und den Familien.

Der Redner berichtet, für was die nächste Spendensumme genutzt werden soll – ein Gerät, das ukrainische Soldaten vor der Erkennung durch Infrarot schützt – und weist darauf hin, dass die Verwendung der Spendengelder eingesehen werden können. Anschließend wird die Europäische Hymne eingespielt, Freude schöner Götterfunken, danach die ukrainische Nationalhymne. Dann sammeln sich die Anwesenden vor dem Denkmal für ein Gruppenfoto, der Soldat auf Krücken steht in der Mitte, jemand baut vor ihm die blau-gelbe Fahne auf. Im Hintergrund das Transparent, das seit 2022 auf dem Balkon des Deutschen Nationaltheaters hängt: »Diplomatie! Frieden! Jetzt«.

3. Februar 2025 | Kategorien der zweiten Woche

Ziel der Einträge soll es eigentlich sein, festzuhalten, was geschieht. Eher stoisch als umfassend. Das fällt gerade schwer angesichts des rutschenden Nebeneinanders. Und auch klar, dass das Meiste viel zu weit weg, um ein adäquates Festhalten zu gewährleisten, dass es viel sinnvoller wäre, so wie gestern zu schreiben, über das Nahe, das Erlebte, etwas, bei dem ich anwesend bin. Aber so funktioniert eine politische Gesellschaft ja nicht nur, das lässt sich nicht durchhalten.

Deshalb der Versuch, die zweite Woche Trump in Kategorien zu verstehen. Unterteilt in eins: weitestgehend Kulturkampfthemen: Verbot der Verwendung von Pronomen in staatlichen Mails, Festschreibung der Geschlechter, Verweigerung von Pässen für Transpersonen, Anweisung zu »patriotischen Bildungsprinzipien«, das Abschalten verschiedener Regierungswebseiten etc., lauter Themen, bei denen es auffällt, dass die deutschen Meinungsmacher, die ansonsten im Wochentakt Pieces zur Begrenzung der Meinungsfreiheit durch woke Universities schrieben, wenig zu schreiben haben.

Kategorie: dystopisch, wie ein Schwarzenegger-SF-Film aus den 80ern; das Abschieben, das filmische Begleiten und Inszenieren dieser Abschiebungen, das Präsentieren der besonders bösen Abgeschobenen in einer Art Online-Pranger, die Reels, in denen über die Abschiebungen gesprochen wird, aber nicht akustisch, weil die Algorithmen das rausfiltern würden, sondern durch das Hochhalten von beschriebenen Zetteln.

Kategorie: Wirtschaft: die Handelszölle, die Verteuerungen, das Gegenteil dessen, was versprochen war, das Einstellen von Zahlungen und damit staatlichen Leistungen, auch medizinischer Unterstützung, was ganz konkret Todesfälle zur Folge hat.

Und schließlich: der Austausch von Kontrollinstanzen, Entlassen von Staatsanwälten, Beamten in Bundesbehörden. Musks DOGE, der Zugriff erhält auf quasi alle relevanten Daten, die der Staat von seinen Bürgern haben kann, das Runterladen dieser Daten.

Expertinnen und Experten fassen das als ein Coup zusammen, eine Übernahme des Staats. Dafür, dass dies passiert, dafür, was ansonsten oft für die große Aufmerksamkeit sorgt, geschieht diese Übernahme erstaunlich geräuschlos und unbeteiligt.

3. Februar 2025 | Bart

Was sich heute so zugetragen hat: Vor dem ehemaligen Marstall in Weimar, der heutigen Gedenkstätte für Zermahlene Geschichte, läuft ein Mann. Das Haar an den Seiten rasiert, der Bart weitestgehend rasiert, nur unterhalb der Nase steht ein strammer, schwarzer Balken, deutlich, an wen damit gedacht sein soll. Hinter dem Imitator läuft eine Frau. Beim Vorbeigehen sagt er zu ihr: »Wenn erstmal alle die NSDAP wählen…«, der Rest des Satzes verliert sich im Februarvormittag.

4. Februar 2025 | Hutschnur, geplatzt

Chroniken schildern weiterhin die Etappen, mit denen es zur Abstimmung kam und was danach geschah. Am Anfang steht die »Hutschnur«, die Friedrich Merz »geplatzt« sei, als er von der Aschaffenburg hörte, die Geschichte, wie er »emotional äußerst angefasst« war, als Vater, als Großvater.

Mir geht es nicht darum, diese Reaktion in irgendeiner Weise zu missdeuten. Im Gegenteil. Ich kenne niemanden, den die Tat kalt gelassen hat, niemanden, der nicht auch erschüttert und betroffen war. Der Ausdruck »Hutschnur geplatzt« ist die Formulierung, mit der operiert wird, um darzustellen, dass bei Erschütterung etwas übergelaufen ist, soll Ausdruck sein für den Beginn eines Agierens.

Eine solche Geschichte findet sich bei vielen Entscheidungsträgerinnen. Bei Angela Merkel Fukushima, bei Gerhard Schröder die Agenda 2010, bei Helmut Kohl die Einheit – Entscheidungen, die auch aus der Emotion heraus getroffen wurden, die damit besondere Dringlichkeit und Authentizität bedeuten. Nicht der Kopf, sondern das Herz als Ursprung einer politischen Handlung.

Ich frage mich, wann die Hutschnur platzt und wann nicht. Mehrere Kinder sind in den vergangenen Tagen bei Unfällen im Straßenverkehr gestorben, mehrere Frauen bei Femiziden getötet, die Prognose von zehntausenden Toten durch die höheren Temperaturen im Januar. Alles Anlässe zum Platzen, alles Anlässe, Fühlen als Grund für eine politische Handlung zu nehmen. Und wieder geht es mir nicht darum, Tragödien gegeneinander auszuspielen oder zu relativieren. Vielmehr ist es der hilflose Versuch zu verstehen, wann etwas platzt.

Auch Mehrheiten werden ins Spiel gebracht. Eine Mehrheit ist für eine andere Migrationspolitik. Die Frage soll nicht sein, was anders heißt oder die nach der Wirksamkeit der Maßnahmen oder danach, was nicht zu den 5 Punkten gehörte, sondern: Welche Mehrheit im Volk lässt die Hutschnur platzen. Eine Mehrheit möchte eine andere Migrationspolitik. Eine Mehrheit möchte Maßnahmen gegen den Klimawandel. Eine Mehrheit möchte ein Tempolimit, das viele Tote im Jahr verhindern würde. Selbst für eine geringere Schere zwischen Arm und Überreich existiert eine Mehrheit. Welche Mehrheit lässt die Hutschnur platzen.

Angeführt wird auch, dass sich keine Mehrheiten auf den Demonstrationen finden, nur 200.000 in Berlin, nur 700-800 Tausend in den letzten Tagen, nicht mal jede Hundertste auf der Straße. Welche Demonstration bringt die Mehrheit der Deutschen auf die Straße, 42 Millionen mit Transparenten. Welchen Demonstrationen werden welche Aufmerksamkeiten geschenkt, welcher Gang auf die Straße macht es notwendig, ernst genommen zu nehmen, wobei platzen Hutschnüre?

Wo sie platzen: bei Caren Miosga. Die fragt Alice Weidel, Frau Weidel was für ein Deutschland hätten Sie denn gern und Frau Weidel rollt mit den Augen bei der Frage nach dem Holocaust-Gedenktag, weil die »Holocaust-Anheftung« an die AfD finde sie »nervtötend«, da platzt ihr die Hutschnur.

5. Februar 2025 | kleine Bausteine großes Bild

Eine kleine Gruppe junger Männer erhält im Namen Elon Musks Zugang zu den Daten, die der amerikanische Staat von seinen Bürgerinnen besitzt. Die jungen Männer laden diese Daten runter, schreiben neuen Code, bauen KI ein, verfügen so bald über die Möglichkeit, Zahlungen, die der Staat tätigt, zu kontrollieren. Schlagwortlisten werden angelegt, mit deren Hilfe die Förderung von wissenschaftlichen Studien gestoppt wird. Amerikanische Institutionen wie NASA werden angewiesen, alle Informationen zu ändern und zu löschen, die speziell Frauen, Diverse, Indigene ansprechen. Donald Trump kündigt die Besetzung des Gaza-Streifens durch amerikanische Soldaten an, eine palästinenserfreie Zone soll entstehen, »die Riviera des Nahen Ostens«. Die USA treten aus dem UNO-Menschenrechtsrat aus.

Nachdem das Präsidium des Zentralkomitees der deutschen Katholiken die aktuelle Migrationspolitik der CDU kritisiert hat, beendet Annegret Kramp-Karrenbauer ihre Mitgliedschaft dort. Julia Klöckner beklagt ein »hemmungsloses Aufhetzen« gegen die CDU. Beatrix von Storch spricht in der zweiten Talkshow, zu der sie innerhalb weniger Tage eingeladen ist, von zwei Gruppenvergewaltigungen täglich durch Asylbewerber. Alice Weidel spricht von tausend Mitgliedern, die der Verein »Juden in der AfD« habe, Recherchen ergeben, es sind 22. Recherchen ergeben, dass die den Grünen zugeschriebene Beschädigung hunderter Autos durch Bauschaum auf das Konto russischer Auftraggeber geht. Laut dem aktuellen RTL/ntv-Trendbarometer ist für die Befragten das wichtigste Wahlkampfthema »Schutz der Demokratie/ Bekämpfung des Rechtsextremismus (62 %)«, auf Platz 5 liegt »Zuwanderung/Geflüchtete (36 %)«.

Heute gelesen: »Meinem Gefühl nach sind Medien oft schlecht darin, sich entwickelnde Ereignisse angemessen zu greifen. Wenn zahlreiche kleine Bausteine ein großes Bild ergeben, wird das unmittelbar oft verpasst.«


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