Fleischwende


1. Mai | Rausnehmen

Wie immer am 1. Mai Seifenkistenrennen in Weimar. Ein Nachmittag in der Sonne, 90er-Jahre-Lieder, Nudeln in Feuerwehrsoße, Schorle, alles außer der Frage, welche Seifenkiste die schnittigste ist, unwichtig. Ein Tag lang Seifenkisten als Priorität. Ein Tag ohne: dass in Gera zur gleichen Zeit tausend Rechtsextreme ein Familienfest feiern. Dass die USA mit der Ukraine ein Abkommen über Rohstoffe schließt.

2. Mai | gesichert

Der Bericht des Verfassungsschutzes, der seit Monaten geschrieben ist, wird öffentlich gemacht. Auf 1200 Seiten wird begründet, weshalb die AfD gesichert rechtsextrem ist.

Eine daraus folgende Utopie.

Deutschlandweit nun Diskussionen über den gesicherten Rechtsextremismus der Partei. Talkshows, Titelseiten, wochenlanges Sprechen darüber, dass die größte Oppositionspartei des Landes gesichert rechtsextrem ist, dass die Partei, die in Umfragen momentan die meisten Stimmen erhält, gesichert rechtsextrem ist.

Alle als nicht gesichert rechtsextrem eingestuften Parteien erklären, dass sie mit der als gesichert rechtsextrem eingestuften Partei nicht zusammenarbeiten werden. Parteigänger, die sich bisher öffentlich für eine Zusammenarbeit und Normalisierung ausgesprochen haben, erklären ihren Irrtum. Alle Medienvertreterinnen berichten über die Partei unter der Prämisse gesichert rechtsextrem. Alle Interviews mit Mitgliedern der Partei geschehen im Bewusstsein, dass das Gegenüber Mitglied einer Partei ist, die gesichert rechtsextrem ist. Die Mehrzahl der Wählerinnen und Wähler der als gesichert rechtsextrem geltenden Partei erklären erstaunt, dass sie nicht geahnt hätten, dass die Partei gesichert rechtsextrem ist und versichern beschämt, dass sie zukünftig selbstverständlich keine als gesichert rechtsextrem geltende Partei wählen werden. Die, die sie weiterhin wählen, erklären, dass sie eine gesichert rechtsextreme Partei wählen.

3. Mai | Thüringentag

Thüringentag in Gotha. Blaulichtmeile, Mobilitätsmeile, Landwirtschafts- und Forstmeile, Politik-und Europameile, viele Meilen. Bei der Energiemeile braten die Gebrüder Weisheit auf einem Drahtseil Eierkuchen, der Ministerpräsident überreicht ihnen ein Geschenk, eine kleine Rede, viel von Thüringen ist die Rede, aus Thüringen, geboren in Thüringen, Thüringer Institution, stolz auf Thüringen, Thüringen repräsentieren, viel Thüringen an diesem Thüringentag.

Auf Thüringer Stadtfesten immer auch die Frage, welche T-Shirts häufiger getragen werden: Frei.Wild oder was von Bud Spencer& Terence Hill. In Gotha an diesem Tag Rammstein. Aber auch einige Mal Spencer&Hill. Und jede Menge Tattoos, die gerade so am Hals enden oder unter kurzen Ärmeln hervorlugen.

Auf dem Innenhof von Schloss Friedenstein, auf der Familien- und Sport-Meile, dann jemand in einem schwarzen Jogging-Anzug mit Wehrmachtsadler über dem Herzen, das Hakenkreuz im Eichenkranz nur ganz knapp nicht zu erkennen. Er läuft neben die Bühne und bleibt viele Minuten stehen, schaut, wie die KiKa-Show das 25jährige Jubiläum von Bernd das Brot feiert. Der Mann mit dem Adler beobachtet, wie Biene Maja, Heidi, Vicky und ein Schlumpf tanzen, Moderation Singa gemeinsam mit dem Tanztapir das Tanzalarmlied singt. Ich beobachte ihn, wie er beobachtet, wie eine Kindertanzgruppe einen Schultanz aufführt, in dessen Lied es heißt, dass alle mittanzen sollen, jeder ist willkommen, jeder gehört dazu. Denn das muss dem Weltbild des Wehrmachtsmann widersprechen; kein Ausschluss, sondern etwas Verbindendes. Auf der Bühne das eine, im Publikum der Joggingadler, Gegensatzpaare auf dem Thüringentag.

4. Mai | gesichert und was

Zwei Tage seit dem Gutachten. Ich schaue interessiert, wie darauf reagiert wird. Am selben Tag zwei Brennpunkte, in denen jeweils der ausführlich der Parteivorsitzende zu Wort kommen darf und sein Narrativ setzen kann. Der amerikanische Außenminister bezeichnet Deutschland wegen des Gutachtens als Tyrannei. Björn Höcke zitiert den Außenminister und schreibt dazu: »Man kann den Angestellten des VS nur dringend raten, sich eine neue Arbeit zu suchen. Am Ende wird es wie immer in der Geschichte heißen: Mitgehangen – mitgefangen.« (und löscht das wieder, vielleicht, weil ihm klargeworden ist, dass es Äußerungen wie diese sind, die in den 1200 Seiten des Gutachtens als Belege aufgeführt sind)

Einmal quer durchs mediale Spektrum geschaut, fällt auf, dass es recht viele Verteidigungs- oder Beschwichtigungsreden gibt: Falscher Zeitpunkt der Veröffentlichung. Nicht alle sind so. Müssen politisch gestellt werden. Gutachten ist politisches Manöver. Gutachten ist kontraproduktiv, weil es Opferzählung bestärkt. Demokratie bedeutet, Parteien wie die AfD zu akzeptieren. Protest kann man nicht verbieten etc.

Es fällt auf, dass sich außer der Partei selbst niemand so richtig erstaunt zeigt, dass die Partei rechtsextrem ist. Das Rechtsextreme selbst wird selten in Frage gestellt. In diesem Zusammenhang sind die Reden dann doch erstaunlich. Weil: Wenn es so ist, müsste man nicht zuerst das Rechtsextreme benennen und dann überlegen, wie der Einfluß verhindert werden kann? Oder ist die Frage etwa nicht, ob die Partei rechtsextrem ist, sondern wie viel Rechtsextremismus die Gesellschaft zulassen soll?

5. Mai | Papst & Jedi

Donald Trump postet ein KI-generiertes Foto, das ihn als Papst zeigt. Der Account des Weißen Hauses repostet das Foto. Donald Trump postet ein KI-generiertes Foto, das ihn muskelbepackt als Jediritter zeigt. Der Account des Weißen Hauses repostet das Foto. Beides geschieht in Abstand von wenigen Tagen, Papst sein, Jedi sein. Beides ist Beispiel für Aneignung und Umdeutung und KI und Ästhetik und Hybris und Troll. Vor allem ein Beispiel für Ablenkung. Weil: Wenn ich mich damit auseinandersetze, setze ich mich nicht damit auseinander, dass die Finanzierung für die NPR und PBS gestrichen ist, Grönland militärische Gewalt angedroht wird und der Papst Jedi Präsident erklärt, dass die Verfassung nicht unbedingt für ihn bindend ist etc Newsticker USA.

6. Mai | Zapfenstreich

Gestern noch Zapfenstreich für den Bundeskanzler der Regierung, die mehr Wahlversprechen umgesetzt hat als die beiden Koalitionen davor. Olaf Scholz wünscht sich zum Abschied das »2. Brandenburgischen Konzert«, »In My Life« und »Respect«. Christian Lindner bleibt der Zeremonie fern, »Heute Abend gehen väterliche Pflichten vor«, schreibt er erleichtert.

Und da jede neue Bundeskanzlerwahl den Zapfenstreich schon in sich trägt, braucht die Bundeskanzlerwahl heute zwei Durchläufe. Beim ersten Mal fehlen 18 Stimmen zur Mehrheit. Mit Unterstützung der Grünen und der unvereinbaren Linken wird ein zweiter Wahlgang angesetzt. Diesmal fehlen nur drei Stimmen, die Mehrheit ist erreicht, der zehnte deutsche Bundeskanzler heißt Friedrich Merz.

7. Mai | Kanzler Merz

Kanzler Merz. Kanzler Merz. Kanzler Merz. Man muss sich das immer wieder aufsagen, Kanzler Merz, Kanzler Merz, Kanzler Merz, so oft aufsagen Kanzler Merz Kanzler Merz Kanzler Merz, bis die beiden Worten in dieser Kombination flüssig über die Lippen gehen Kanzler Merz Kanzler Merz Kanzler Merz. So ist das jetzt. Kanzler Merz Kanzler Merz Kanzler Merz. Ein Lernprozess, wie es 2021 einer war, nicht mehr Kanzlerin Merkel sondern Kanzler Scholz wie es 2005 einer war nicht mehr Kanzler sondern Kanzlerin nicht mehr Kanzler Schröder sondern Kanzlerin Merkel wie es 1998 einer war nicht mehr Kanzler Kohl sondern Kanzler Schröder, heute Kanzler Merz Kanzler Merz Kanzler Merz, ein paar Tage wird es brauchen, um zu verinnerlichen, um sich zu überzeugen, um zu manifestieren, dass es diese Worte sind, mit denen in den nächsten wahrscheinlich vier Jahren ein Zustand der Führung beschrieben werden wird.

Ansonsten die Diskussion weiterhin darüber, ob der zweite Wahlgang Kanzler Merz Kanzler Merz Kanzler Merz beschädigt hat, die Regierung schon vor Beginn beschädigt hat, die Demokratie beschädigt hat oder ob dies ein normaler demokratischer Vorgang war, in dem ein zweiter Wahlgang ausdrücklich vorgesehen ist und das Herbeireden einer Krise, die explodierenden Liveticker zwischen Wahlgang 1 und Wahlgang 2 erst die Krise schafft. Kanzler Merz Kanzler Merz Kanzler Merz legt danach den Eid ab und fliegt nach Frankreich, fliegt nach Polen und gleich die Frage im Regierungsflieger: Wie hat sich Kanzler Merz geschlagen?

8. Mai | Weißer Rauch

Verwirrung, ob Kanzler Merz an diesem 8. Mai eine nationale Notlage bei der Migration ausruft. Weißer Rauch in Rom: ein neuer Papst ist gewählt, Leo XIV, moderat heißt es, das konservative Lager sei enttäuscht, vor allem: ein Amerikaner, was in diesen Monaten auch ein Zeichen ist, ein Papst, der in Tweets Stellung gegen Trump bezogen hat, ein Aufbruchssignal wird gemutmaßt, was Leo XIV über Frauen sagt, wird berichtet, welche Staatsbürgerschaften er innehat, lauter Teile, die man schnell zusammentragen muss, um sich ein erstes Bild von einem Menschen zu machen, der urplötzlich zu einer Person der Zeitgeschichte geworden ist und zu dem man sich in irgendeiner Weise verhalten muss.

9. Mai | heimlich & still

Klarheit, welche nationale Notlage Teile der Regierung bei der Migration ausgerufen haben, die »härte Grenzkontrollen« ermöglicht: die sogenannte »heimliche Notlage«. Sogenannt auch: Ein Gericht entscheidet, dass bis zu weiteren Gerichtsverfahren der Verfassungsschutz die AfD nicht mehr als »gesichert rechtsextrem« bezeichnen darf, eine sogenannte »Stillhaltezusage«.

10. Mai | Dürre

Einen Eintrag, den ich schon seit Ende April immer wieder verschiebe, ist der über die Dürre, die Information über den trockensten Frühling seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, dass in den ersten Monaten des Jahres 68% weniger Niederschlag fiel als in den vergangenen dreißig Jahren. Und vielleicht ist dieses Verschieben ja das Typische an diesem Thema: dass man glaubt, ein Verschieben wäre möglich.

11. Mai | habeas corpus

Der amerikanische Präsident erwägt, ein Geschenk des Königshauses des Emirats Katar – einen Luxusjet im Wert von 400 Millionen Dollar – anzunehmen, zur neuen Air Force One zu machen und nach dem Ende seiner Amtszeit in seinen Privatbesitz zu überführen. Die amerikanische Regierung erwägt, habeas corpus, der Teil der US-Verfassung, der jeder inhaftierten Person das Recht gibt, eine Überprüfung der Haft anzufordern, aufzuheben.

Jedes Mal wieder überlege ich, ob ich Meldungen wie diese noch aufführen soll. Weil es ja längst offenbar ist, zwischen welchen beiden Polen sich die aktuelle Regierung bewegt: zwischen banaler Korruption und bösartiger Abschaffung der Demokratie, dazwischen Ablenkungen wie dem Papstfoto. Aber dann ist es die schiere Größe der Pole (eine Bestechung, die nicht unbemerkt in $TrumpCoin stattfindet, sondern als Luxusjet vor aller Augen | Abschaffung von Freiheitsrechten und autoritäre Willkür), die diesen Eintrag tragen.

12. Mai | Taschentuch & Löffel

Am Wochenende reisten die Regierungschefs von Frankreich, Deutschland, UK und Polen in die Ukraine, um den ukrainischen Präsidenten ihre Unterstützung zu versichern, forderten von Russland eine sofortige Waffenruhe »ohne Vorbedingung«. Der russische Präsident lehnte diese ab, Medwedew schrieb: »Shove these peace plans up your pangender arses!« Stattdessen der Vorschlag für ein Friedensgespräch »ohne Vorbedingung« in Istanbul. Hundert russische Drohnen griffen zeitgleich Kiew an. Der amerikanische Präsident forderte den ukrainischen Präsidenten auf, der russischen Forderung nachzukommen, er kam nach und will am Donnerstag zu Friedensgesprächen in Istanbul sein.

Über was noch geredet wird: Macrons Taschentuch. Russische Offizielle / Medien / soziale Medien verbreiten Videos, in denen das Taschentuch als Beleg für ein Kokaintütchen genommen wird, schreiben: »Ein Franzose, ein Engländer und ein Deutscher stiegen in den Zug und … wurden high. Offenbar so sehr, dass sie vergessen haben, das Zubehör (ein Päckchen und einen Löffel) vor der Ankunft der Journalisten zu entfernen.« Der Élysée-Palast schreibt: »Das ist ein Taschentuch. Um sich zu schnäuzen.« Merz, Macron, Starmer und Tusk koksend im Wagen nach Kiew, Hoax, Desinformation, Propagandabots, Merz’ Rührstäbchen als vermeintlicher Schnupflöffel.

13. Mai | Stolzpass

Die ersten 49 weißen Südafrikaner, Flüchtlinge, die laut amerikanischer Regierung von Genozid bedroht seien, erreichen die USA. Der Landesverband der AfD in Sachsen-Anhalt stellt den Antrag, die Tourismuskampagne umzubenennen von »#moderndenken« in »#deutschdenken«, zum Besuch bestimmter Orte soll ein sogenannter Stolzpass animieren. Für eine Exkursion zum Bauhaus Dessau gäbe es allerdings keinen Stempel auf dieser »Straße der Deutschen«.

14. Mai | lichter Raps

Auf dem Weg nach Sachsen höre ich, wie Friedrich Merz in seiner Regierungserklärung von den Deutschen eine gewaltige Kraftanstrengung verlangt, »mit Viertagewoche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können«, sagt er. Ich sehe aus dem Zugfenster, draußen ziehen die gelichteten Rapsfelder. Ich denke:
Dem Raps beim Verblühen zuzusehen ist gewaltige Kraftanstrengung.
Dem Raps beim Verblühen zuzusehen ist wieder mehr arbeiten.
Dem Raps beim Verblühen zuzusehen ist Woke-Life-Balance.
Dem Raps beim Verblühen zuzusehen ist 5-Tage-Woche.
Dem Raps beim Verblühen zuzusehen ist Wohlstand erhalten.
Dem Raps beim Verblühen zuzusehen ist effizienter arbeiten.
Dem Raps beim Verblühen zuzusehen ist wettbewerbsfähiger.
Dem Raps beim Verblühen zuzusehen sichert Standort Deutschland.

15. Mai | gewaltige Kraftanstrengung

Später, nach dem Versuch, bundesdemokratische, marktwirschaftlichpolitische Sprache in Raps zu verwandeln, spüre ich eine Form von rechtschaffener Wut. Ich denke an die eingeforderte Kraftanstrengung des Kanzlers. Der überwältigende Teil der Menschen, mit denen ich zu tun habe, strengt sich an. Sie geben Kraft. Sie arbeiten die 5-Stunde-Woche, viele darüber hinaus, an den Wochenenden, in den Abendstunden, sie haben so und so viele Überstunden angehäuft. Sie haben Kinder, sie haben Familie, sie kümmern sich, wenn andere krank sind, sie stehen früher auf, sie gehen später schlafen. Manche sind selbst krank. Viele sind am Limit, seit Jahren schon, seit Corona, nach Corona. Ich spüre die Wut, weil ihnen unterstellt wird, sie würden sich nicht anstrengen, sie würden keine Kraft geben in Erwerbsarbeit.

Und wenn es so wäre, wenn sie sich mehr anstrengten, wenn sie mehr Kraft gäben, vier Uhr aufstehen und Samstag und Sonntag Mails beantworten oder noch mal raus an die Baustelle und die Schicht für die ausgefallene Kollegin übernehmen, wohin ginge die Leistung? In die Miete, die wieder 100€ gestiegen ist? Die Freibeträge für die Erbschaftssteuern? Die Fehlbeträge für die nicht nachgegangenen Steuerhinterziehungen?

Wieviel Leistung, wie viel Kraft kann denn gefordert werden? Wie viel Selbstausbeutung ist notwendig, damit der Kanzler mit meiner Leistung zufrieden ist, so dass er gefällig nickt, weil ich ausreichend performt habe in einem seinem Deutschland, in dem zehn Prozent der Haushalte über sechzig Prozent des Gesamtvermögens verfügen? Welche Kraft muss ich bringen, damit er mich nicht als faul bezeichnet?

Ich sehe auf den Raps, sehe das Verblühen, bin wütend über die immergleiche Floskel, über den immergleichen Leistungsgedankenbullshit, dieses linnemannische Mindset, diese neoliberalen Daumenschrauben, dieses Schuldigmachen, wie kann er sich in einem 10%-gehören-60%-Land hinstellen und sagen: Der Wohlstand kann nur bleiben, wenn du mehr mehr mehr.


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