24. Februar | Scham

Ich stehe vor der Apothekerin und schäme mich. Eben habe ich nach Atemschutzmasken gefragt. Ihr Blick scheint zu sagen: »Wieder einer von denen.« Sie meint, sie habe zwei Marken im Angebot und beide würden nicht vor einer Infektion schützen. Wofür ich die denn brauche? Wegen der Grippe und dass man sich zuhause nicht ansteckt, Kleinkind, Sie verstehen, lüge ich, weil es selbstverständlich um Corona geht.
An diesem Morgen habe ich Hamsterkäufe beschlossen. Ich las von Wuhan, welches immer noch genauso weit weg ist wie seit einigen Wochen und ich las von Italien, was viel näher liegt und las Einschätzungen von Experten und musste zu dem Schluss kommen, dass die Veränderung der Situation hier sehr wahrscheinlich ist. Daraus die Folgerung, für eine mögliche Verknappung von Lebensmitteln gerüstet sein zu müssen, ergo Hamsterkäufe, auch in medizinischer Hinsicht.
Nun stehe ich der Apothekerin gegenüber und weiß, dass ich im Grunde nicht bereit dafür bin. Intellektuell und emotional. Ich weiß kaum etwas über die Funktionsweise von Atemschutzmasken und fühle mich wie ein Prepper, ein Panikmacher, einer, der Lust hat an der Katastrophe. Schließlich nehme ich einen 10er Pack der günstigen Marke, dazu eine kleine Packung Desinfektionstücher und verlasse die Apotheke.
Anschließend im Supermarkt erscheint mir das Vorhaben weiterhin absurd. Soll ich tatsächlich Toilettenpapier, Reissäcke und 25kg Mehl in den Wagen packen? Ich stehe vor den Dosensuppen und denke: Wenn ich falsch liege, dann werde ich das nächste halbe Jahr schlechte Gulaschsuppe essen müssen. Der Form halber kaufe ich zwei Packungen Spagetti und ansonsten leicht verderbliche Nahrungsmittel, die innerhalb zwei Wochen verzehrt werden müssen. Um die Inkonsequenz perfekt zu machen, gehe ich nachmittags erst zu einem Kinderfasching und anschließend auf ein Konzert ins Theater.
25. Februar | Atemschutzmasken
Zumindest ein Informieren über Atemschutzmasken. Weder schützen sie mich oder andere. Erst ab einer bestimmten Preisklasse entsteht ein gewisser Schutz. Die Atemschutzmasken aus Papier verhindern höchstens, dass man sich ins Gesicht fasst und damit Krankheitserreger von der Hand an Mund oder Tränenkanal überträgt. Ich denke an die Fotos der letzten Wochen, mit denen der Coronaausbruch in Wuhan, wie überhaupt die meisten Texte über Viren, bebildert werden: Menschen mit Atemmasken. Was die Fotos damit sagen: So ist Schutz eine Illusion.
26. Februar | Händewaschen
Das Bedürfnis ist da, sich über Händewaschen zu informieren. Eigentlich sollte es ja bekannt sein, wie man sich die Hände ordentlich reinigt. Offensichtlich ist das doch etwas komplizierter. Ich sehe das Video einer iranischen Ärztin, die ihre Hände mit Farbe einreibt und daran zeigt, welche Stellen man leicht übergeht (Handrücken, Fingerzwischenräume, Fingernägel). Faust(!)regel: dreißig Sekunden einseifen, reiben, abwaschen. Nehme mir vor, dies – anders als nach Zahnarztbesuchen, nach denen man sich aus schlechtem Gewissen vornimmt jetzt, aber wirklich jedes Mal gründlich zu putzen und dieser Vorsatz dann doch im Alltag verloren geht – umzusetzen.
29. Februar | Indien in der Rhön

Gestern eine Lesung in einem kleinen Dorf in der Rhön, 65 Einwohner. Der Ort liegt am Ende eines Tals, nur eine Straße führt hinein. Schnee ist gefallen, die Welt ist still und sehr weit weg. Der Ort selbst scheint von Haus aus schon in Quarantäne zu liegen. Hier sind wir sicher. Aber natürlich: Wir sind hier.
Wir sind eine Stunde gefahren, kommen aus einem anderen Landstrich, können den Erreger längst in uns tragen und genau an diesem Abend verbreiten. Einer der Anwesenden hat heute ein Auto aus Fürstenwald geholt, 130 km entfernt liegt das. Wie könnte man annehmen, ein Ort wäre geschützt? Nach der Lesung sitzen wir mit dem katholischen Pfarrer zusammen. Er stammt aus Indien, ist letztes Jahr nach Deutschland auf Mission gekommen. Wir sprechen über das Kastensystem, die aktuellen, politisch initiierten Morde an Muslimen, von Schlangen am Feldrand, Tamil, ein kleines Dorf am Ende eines Tals, mitten in der Welt.