zu den bisherigen Coronamonaten

Februar-Juli 2020 | August-Dezember 2020 | Januar-August 2021


20. Juli | Abnahme

Heute habe ich die Leine abgenommen, die sich seit Anfang 2021 in meinem Zimmer spannte. Daran hingen, jeweils an bunten Klammern, zwei Wochensätze FFP2-Masken, zum Auslüften. Wann ich zuletzt eine Maske abnahm und mir aufsetzte? Es kann nicht dieses Jahr gewesen sein. Ich nehme ab und Platz wird frei im Zimmer, die Wand dahinter, das Bild, das dort hängt, nicht länger von den Masken verdeckt.

In Wien sah ich alle drei Straßenbahnfahrten jemanden mit Maske. Ab und an jemanden auf der Straße, in geschlossenen Räumen, kaum insgesamt. In Wien schoss ich weiterhin beflissen und neugierig Fotos, wenn Coronasymboliken in der Öffentlichkeit auftauchten, die geschlossenen Testorte, die Hinweisschilder, Masken an Pfahle gebunden, das Übliche eben, nur kaum insgesamt.

Die Abnahme der Maskeleine, so sage ich mir, ist auch ein symbolischer Akt, einer, der für ein weiteres Ende der Coronapandemie steht, vielleicht ein weiteres meiner Enden. Ist es sowieso längst schon. Die Einträge hier nach dem 24.2.22 waren spärlich, aus gutem Grund.

Ein paar Stimmen habe ich mir erhalten, Stimmen, die meinen sozialen Kanälen regelmäßig in die Enden hineinkrachen und hauptsächlich von Post-Covid schreiben, manche tägliche, manche von den fehlenden Mitteln, die gerade jetzt nicht bereitgestellt werden, über das Desinteresse an etwas, das dennoch weitergeht, Desinteresse, dessen Verlauf sich ja auch in diesen Einträgen nachverfolgen lässt.

Heute schreibt Frédéric Valin: »das kann doch nicht sein, dass all die kritischen Leute sich damit jetzt gar nicht mehr auseinandersetzen und einfach akzeptieren, was gerade passiert … Und außerdem fällt mir auf, dass viele offenbar alles ausblenden, was mit Corona zu tun hat. Das finde ich schon interessant, weil das auch Leute tun, die viel zum Klimawandel posten zum Beispiel oder zum Rechtsextremismus in Deutschland; also Dingen, die sich stetig verschlechtern.« Und Daniel Schulz antwortet: »Ich glaube, Menschen ertragen nur ein begrenztes Maß an Kämpfen, Hoffnungs- und Auswegloskeiten und im Zweifel befassen sie sich mit denen, mit denen sich auskennen, von denen sie denken, sie betreffen sie mehr, wo sie glauben, da ließe sich noch etwas machen.«

Gestern habe ich einen Podcast mit Joseph Vogl gehört, über »Polykrise«, er rät zu »pessimistischem Realismus.« Ich merke, habe längst gemerkt, dass mich andere Krisen viel stärker, unmittelbarer berühren, die Angst dort, der Wille, etwas zu tun, zumindest darüber nachzudenken, manchmal darüber zu schreiben, viel ausgeprägter ist. Die Corona-Pandemie ist längst Auslöser, Verstärker, Beschleuniger gegenwärtiger Krisen, Krisen die gegenwärtiger erscheinen, so, wie es Corona vor dreieinhalb Jahren war.   

Und auch deshalb verdrehe ich das Lesen. Nicht mehr das Aktuelle steht oben, sondern der Beginn, eine Chronologie in der Laufrichtung, die mir gerade angemessen erscheint, vom Anfang zu den Enden.

2. Juni | Einstellen

Nachdem gestern die Corona Warn-App in den “Schlafmodus” versetzt wurde, stellt das RKI heute das Covid-19-Dashboard ein. Ein informelles Ende von Corona, ein weiteres Ende.

21. März | Marderhunde

Wissenschaftler haben in einer Datenbank für Virussequenzen neue Einträge gefunden, die vom Markt in Wuhan stammen. Eine Tierart fällt besonders auf: die Marderhunde (raccoon dog), die auch Wirt für SARSCoV1 waren.

20. März | Laschet im Nachhinein

Armin Laschet, einer der Protagonisten des zweiten Coronajahres, sagt in einem Interview, dass damals in der Gesellschaft zu wenig über Impfschäden informiert wurde: »Im Nachhinein hätte man sagen müssen, offen, klar: Es gibt auch Nebenwirkungen. Man hat’s nicht gesagt, man hat’s nicht kommuniziert.« Und das ist etwas, was ganz sicher nicht stimmt, ein Wort nur, AstraZeneca.

19. März | 90 Milliarden Euro

»Hoher Krankenstand kostet Unternehmen bis zu 90 Milliarden Euro« im Jahr 2022, lautet eine Überschrift, »Laut der IW-Studie trugen erheblich mehr Atemwegserkrankungen zu dem hohen Krankenstand bei, darunter neben Covid-19 auch die normale Grippe.« Oder auch: 90 Milliarden Euro vs. Prävention

18. März | Bergamo

Jahrestag des Bergamofotos. Im Rückblick vielleicht das folgenreichste Bild. Heute ist das Foto ein Code mit zweifacher Bedeutung. Der Konvoi mit den Särgen als der Moment, der die mögliche drastische Letalität des Virus offenbarte: Corona kann viele Opfer fordern. In der Folge die Disziplin des ersten deutschen Lockdowns. Der zweite Code ist: Das Bild stimmt nicht, weshalb es keine Maßnahmen gebraucht hätte. Das Foto ist gelogen, weil es nur 13 Fahrzeuge zeigt, weil – anders als sonst – alle Toten verbrannt wurden. Deshalb die Masse. Sie täuscht. Der Code ist: das Foto ist eine Manipulation und Deutschland hat sich manipulieren lassen. Beide Codes werden bleiben, auch wenn die Zahl der Übersterblichkeit in Bergamo die Antwort gibt, welche Betrachtung stimmen könnte.

13. März | Post-Vac

Karl Lauterbach verspricht in einem Interview Hilfen für Menschen mit Langzeitfolgen nach einer Corona-Infektion oder -Impfung. Was dann erst einmal hängen bleibt: Offensichtlich gibt es Langzeitfolgen nach einer Coronaimpfung. Das wird entsprechend gefeiert, die Bezeichnung Post-Vac nach oben gebracht, verwiesen auf die Debatte um Kimmich, auf alte Äußerungen zahlreicher Corona-Protagonisten zu Spätfolgen von Impfungen. Ich bin irritiert. Weil das ja etwas war, das auch in Coronamonaten stattfand, damals im März 2021, die Beschäftigung mit Spätfolgen, die Schlussfolgerung, dass diese sehr unwahrscheinlich sind. Später dann der oder andere Bekannte, der nach Impfung mit mehr zu tun hatte als dem Impfarm. Und jetzt, einfach so, gibt es offiziell diese Schäden, gleichberechtigt neben dem unbestreitbaren LongCovid. Ich verstehe es nicht, wieder der Versuch einer Neuschreibung der Pandemie? Oder tatsächliches Revidieren? Was dann? Später wird es doch klarer: 333.492 gemeldete Verdachtsfälle für Nebenwirkungen, davon 253 Anträge auf eine Entschädigung wegen schwerer unerwünschter Nebenwirkungen der Coronaimpfung, Stand Ende Januar 2023. Das ist die Verhältnismäßigkeit. 253. Post-Vac als Begriff ist dennoch in der Welt und wird als Beweisführungsmittel da verbleiben.

3. März | Coronafeuer

Lese von einem Coronafeuer in einem Kindergarten. Wie beim Osterfeuer ein großes Feuer, in dem alle ihre Masken verbrennen. Und danach um das Feuer tanzen, um das Ende der Pandemie zu feiern.

1. März | Schritt zur Normalität

Ab heute sind die Corona-Schutz-Verordnungen außer Kraft gesetzt, »nach knapp drei Jahren und insgesamt 63 Verordnungen auslaufen lassen und damit einen weiteren wichtigen Schritt in Richtung Normalität gehen können», sagt die sächsische Gesundheitsministerin, von einer bedeutenden Zäsur spricht der bayerische Staatskanzleichef. Bundesweit läuft die Maskenpflicht für Beschäftigte und Bewohner in Pflegeheimen und in Kliniken aus.

27. Februar | erste Phase 

Ein Artikel mit einer Zahl, die mir unglaubwürdig hoch erscheint: in den ersten neun Monaten 2022 in Bayern 350.000 Fälle von Long-Covid. Doch die Zahl wird bestätigt. Vor ein paar Tagen den Satz gelesen, dass wir jetzt erst beginnen zu verstehen, dass die ersten Jahre der Pandemie die erste Phase von Covid gewesen seien. Sehe kurz vor dem Schreiben hier ein Foto eines T-Shirts mit dem Satz »after ten infections all the mice were dead« und weiß nicht, ob diese drei Beobachtungen in einem Eintrag stehen sollten.

24. Februar | Jahrestage

An diesem Tag vor drei Jahren kaufte ich eine Maske in Erwartung des unwahrscheinlich erscheinenden Kommenden. Vor zwei Jahren beendete ich das Schreiben, weil, es war ja vorbei. Vor einem Jahr war ich angesteckt in Quarantäne und der Krieg begann. Und an jedem 24. Februar nehme ich Bezug darauf, addiere ein Jahr und so und so viele Verschiebungen dazu und schreibe immer ungläubig: Das alles scheint aus einer anderen Zeit.

Die Sache ist: Es ist eine andere Zeit. Lange schon. Die Trennstriche sind klar, selbst die ersten Phasen der Aufarbeitungen sind mittlerweile schon Material für Historikerinnen. Das Verwirrende ist, dass ich glaube, überhaupt schreiben zu müssen, selbst in dieser maximal reduzierten Version, die ich seit drei Monaten betreibe.

Doch auch da sind so und so viele Einträge zusammengekommen, weil ich weiterhin nicht zusammenbekomme, was eigentlich geschieht, wie was zusammengehört und sich bedingt und ineinanderfließt. Die Zahlen der Übersterblichkeit so deutlich über dem erwartbaren Wert, dass es einer der Hauptgesprächsthemen sein müsste. Gestern 113 als Coronatote vermeldete Fälle, weiterhin, immer noch. Und zugleich das letzte Mal eine Maske getragen im Zug, auf Veranstaltungen nicht.

Heute Jahrestag des Angriffskriegs, Russland führt aus der Ukraine verschleppte Kinder auf der großen Bühne vor, von roten Fahnen über Berlin wird gerappt, China bietet Russland Kamikazedrohnen an. Morgen die dreiste, unredliche »Aufstand für…«-Demonstration in Berlin, auf der wieder lagerübergreifend die kleine weiße Friedenstaube geschwenkt werden wird, mit Protagonistinnen, die so oft so komplett falsch lagen mit ihren Annahmen über den Krieg und die nicht einmal eine Sekunde innehielten und in sich gingen, sondern plärren, bereitwillig jeden Applaus mitnehmen, den sie kriegen können. Dabei kann ich das nicht, will nicht, die Rückblicke und Zusammenfassungen lesen, den Jahrestag begehen, weil er eben nichts abschließt, sondern ein Zeichen der Hoffnungslosigkeit, Trostlosigkeit, Verzweiflung ist, weil es weitergeht, es über den Jahrestag hinaus Hoffnungslosigkeit, Trostlosigkeit, Verzweiflung geben wird, kein Zeichen, dass sich etwas ändert, sondern ein nächster Jahrestag kommen wird, an dem weiterhin nichts beendet ist, selbst wenn es beendet ist, ist nicht vorbei, sondern Jahrzehnte nachwirken, so viel zerstört und aus der Welt genommen seit dem Tag, der heute Jahrestag ist, keinen Grund, diesen Tag zu begehen, ihm Aufmerksamkeit zu widmen.

Und dieser letzte Abschnitt hat nichts mit dem ursprünglichen Anlass dieser Einträge zu tun und irgendwie doch, weil die Zeiten, die Wut und Symbole, die Angst und Unsicherheit, das Umkehren von Positionen ineinanderfließen, sich wiederholen in der Form, während weitergeht, was sich verändert und bleibt.

19. Februar | Übersterblichkeit

Einige Beiträge beschäftigen sich mit der weiterhin hohen Übersterblichkeit in Deutschland. Im Dezember die Zahlen deutlich, im Januar immer noch 13 Prozent über den mittleren Wert der Jahre 2019 bis 2022, die Coronajahre schon dabei. Dieser Eintrag ohne Verweis auf Erklärungsversuche, als Feststellung der Zahlen.

16. Februar | Regeln befolgen

Einige Male Zug gefahren. Kaum jemand trägt Maske, ein Satz, der kein moralisches Urteil sein soll. Sondern: Bis zum 2. Februar tragen beim Zugfahren fast alle Maske. Weil es die Regeln vorschreiben. Und fast alle tun es, obwohl sie es offensichtlich nicht für notwendig halten, da ab dem 2. Februar fast alle keine Masken mehr tragen.

14. Februar | Long-Covid-Coach

In einem Warteraum gesessen. Auf einem Screen wird für einen Long-Covid-Coach geworben. Google danach »Dieser Coach soll Betroffene, Interessierte und Angehörige über die Erkrankung Long-/Post-COVID informieren und bei der Bewältigung dieser Krankheit unterstützen.« Auf der weiß gehaltenen Webseite ästhetische Fotos; ein erschöpfter junger Mann, eine junge Frau, die sich mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht an die Schläfe fasst, ein aufmerksam zuhörender junger Mann mit Maske, eine junge Frau hoffnungsvoll im Abendlicht, ansprechende Fotos, Erklärungen zu Symptomen, Rehabilitation, Prognosen, gut, dass es das gibt, der Long-Covid-Coach Bestandteil der Leistung einer Krankenkasse wie Prämienprogramme, Hilfe bei Rückenbeschwerden, Mittelohrentzündung.

11. Februar | Definition von gut

Interview mit Drosten und Lauterbach, letzterer schreibt dazu: »Gemeinsame Bilanz nach 3 Jahren Pandemie: Insgesamt zwar gut durchgekommen, was die Zahl der Toten betrifft. Aber die Gesellschaft ist heute stärker gespalten als vorher.« Fast synchron tauchen die Karten auf, welche die Coronatoten pro Millionen Einwohner zeigen. Und die Frage lautet angesichts der Kurven: Wie definiert sich gut? Zu was setzt man sich dafür in Vergleich?

10. Februar | im Zug

Mehrmals Zug gefahren, mit Maske, ohne Maske, das Tragen hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, Logik ist keine davon. Wenn ich keine trage, denke ich kaum darüber danach, erst später, als ich einen Eintrag für die schwindenden Coronamonate benötige.

6. Februar | auf die Straße

Vor dem Fenster wieder die Montagsspaziergänger. Sie laufen – gegen was eigentlich noch? Maßnahmen? Die Coronadiktatur? Die Transformation ist abgeschlossen, was von Anfang an war, ist weg und wiederhin die Kraft, sie werden laufen, jeden Montag werden sie das tun, wir sind das Volk, die Fahnen, die Trommeln, auf die Straße, auf die Straße, das Ziel ist ja klar.

2. Februar | Endeendeh5n1

Seit heute gilt die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht mehr. Gestern starben 154 Menschen an Covid. Ich verstehe, ein Ende der Pandemie nach drei Jahren und verstehe die Berichte über die Folgen einer Infektion, sehe das Wochenmittel, 104 Tote am Tag. Als Feststellung: Ein Ende sieht anders aus. Ich lese zu viel von H5N1 und welche Säugetiere gerade daran sterben und habe eigentlich nicht vor, die Vogelgrippewochen zu schreiben. Das wäre eine Dystopie, auf ich gern verzichten würde.

31. Januar | rüffeln

Karl Lauterbach rüffelt wenig verborgen Christian Drosten für dessen Coronaratgeberschaft ab, im konkreten Fall den Rat zur Schulschließung. Das Umdeuten der Pandemie wird damit fortgesetzt. In einer Auswertung wird deutlich, dass sich die Deutschen selten so entspannt und entschleunigt gefühlt haben wie in den ersten Lockdownwochen.

28. Januar | ÖBB

Zugfahrt nach Wels, Österreich. In den Regionalzügen keine Masken, seltsam erstmal. Die erste Fahrt lang ohne Maske, die übliche Scham, der einzige zu sein, der tragen würde, die Fahrt zurück doch wieder mit.

27. Januar | Fehlerschau

Vielleicht eine subjektive Beobachtung (was sonst in den Coronamonaten), aber vermehrt Texte und Artikel, die einen Rückblick auf die Pandemie zum Thema haben, verbunden mit einer Fehlerschau, dem Benennen, was »wir« falsch gemacht haben, z.B. der ZEIT. Findet gerade eine Neubewertung der letzten drei Jahre statt? Wie sieht diese aus?

26. Januar | enthoben

Der Richter am Amtsgericht Weimar, der 2021 die Maskenpflicht in Schulen aufhob, wird sein Amt vorerst nicht weiter ausüben. Vorwurf der Rechtsbeugung, u.a. dass die bestellten Gutachter alle maßnahmenkritisch gewesen seien.

25. Januar | Dashboard

Nach 1064 Tagen nimmt die ZEIT das Corona-Dashboard von der Startseite ihrer Onlinepräsenz. »Der wichtigste Grund dafür: Die Fallzahlen bilden das Infektionsgeschehen immer schlechter ab.«

24. Januar | 3 Fehler

Lese, wie jemand die ihrer Meinung nach größten Fehler in der Pandemiebekämpfung benennt: Am Anfang nicht zu erkennen, dass es nur eine richtige Option im Umgang mit Sars-CoV-2 gab, für welche sich das Handlungsfenster rapide schloss, nämlich: Ausrottung. | Solange zu behaupten, man müsse nichts tun bis man behaupten konnte, man könne nichts mehr tun. | In Zielkonflikten zu denken statt Synergien zu erkennen (Gesundheitsschutz gegen Freiheit/Bildung/Wirtschaft  ausspielen statt es als ermöglichende Bedingung zu begreifen)

23. Januar | Long Covid Studie

Am Anfang der Pandemie gab es keine, dann wenige und schließlich so viele Studien. Die Frage im dritten Jahr der Pandemie, welche der Studien in die Öffentlichkeit findet. Diese schon: »Mindestens zehn Prozent aller Infizierten weltweit kämpfen mit den Spätfolgen einer Corona-Infektion.«

18. Januar | Pandemieende in Davos

Schon einen kleinen Eintrag wert: Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos ist Zutritt nur mit einem negativen PCR-Test möglich, Luftfilter sind in den Räumen großzügig verteilt.

17. Januar | previously on the good fight

Die erste Folge der fünften Staffel von »The Good Fight« gesehen. Die Staffel davor konnte wegen der Pandemie nicht wie geplant beendet werden und brach die Geschichte abrupt ab, ohne die Handlungsfäden aufzulösen. Die erste Folge der fünften Staffel heißt dann auch »previously on« und zeigt in der Form einer Zusammenfassung zurückliegender Geschehnisse, die Serienfolgen oft vorangestellt sind, was im Jahr 2020 passiert, eben das Jahr, in dem nicht nur und nur im begrenzten Maße gedreht werden konnte.

Das erste Coronajahr im Zeitraffer, mit dem Fokus auf die Arbeitswelt; da ist was aus China, Masken, Zoom, Home-Office, Entlassungen, gesperrte Flüge, (dazu das amerikanische Jahr mit George Floyd, der Wahl, auch einbezogen der 6.1.2021.) Eine Abfolge von Ereignissen, die so komprimiert (natürlich) vertraut wirken und zugleich auch gescriptet, diese unwirklich anmutende Anhäufung. In »previously on« ein Verweisen auf Symbole dieser Krisen, ohne diese auszuformulieren, die Andeutung genügt, zumindest im zeitnahen Blick zurück. Und auch das Gefühl: Da wird eine Ausnahmesituation geschildet. Die überwunden wird / werden muss, die Pandemie ebenso, damit es weitergehen kann, vielleicht, weil sich eine Geschichte in einer dauerhaften Pandemie schwerer erzählen lässt als über Andeutungen hinaus.

16. Januar | Kraken

Erstmals vom »Kraken« gelesen, ein Name für XBB.1.5, vorgeschlagen von einem kanadischen Biologieprofessor, Kraken, eine Bezeichnung, die so auch im Englischen verwendet wird.

13. Januar | Herztode

Lisa-Marie Presley ist gestorben, Herzstillstand, es verbietet sich zu spekulieren. Dennoch und vielleicht aus dem falschen Zusammenhang nehme ich das zum Anlass zu schreiben, was ich die letzten Tage zumindest aufnotiert haben wollte; dass in Berichten doch auffälliger als sonst Mitteilungen vom Tod Menschen unter 60 aufgrund plötzlichen Herzversagens die Rede ist. Ob das anekdotisch oder diese Auffälligkeit mit meinem Aufmerksamwerden zu begründen ist, kann ich nicht sagen. Jedenfalls muss ich notieren, dass der Hashtag #DasSterbenDerGeimpften mit den Herztoden in Verbindung gebracht wird, natürlich muss ich schreiben und: Natürlich von den erwartbaren Stimmen. Und ich außerdem Texte lese, die verstärkt auf die Folgen – selbst sogenannter milder – Covid-Erkrankungen hinweisen: das Angreifen und Schädigens des Herzens. Dazu die Übersterblichkeit, zehn Prozent Abweichungen, die als Zahl steht, klar und unheimlich. Und was, wenn die Pandemie beendet ist und das Sterben geht außerdem weiter, auch anders als die Bilder, die sich mit Covid verbanden, dem auf den Bauch gedrehten Sterben, wenn die Folgen der Erkrankungen zum Tode führen und doch nicht in Verbindung gebracht werden, und man bemerkt das nicht oder will es nicht bemerken oder kann. Heute lese ich: 1100 Covidtote pro Woche und ich bin erstaunt, erschrocken über diese Zahl, weiß nicht, ob es angemessen ist zu schreiben: mögliche Herztode nicht eingerechnet.

12. Januar | abgeschafft

Ab Februar ist die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln abgeschafft, auch in Thüringen und ich frage mich, wie ich das handhaben werden auf den anstehenden längeren Zugfahren. Nein, eigentlich frage ich das nicht.

11. Januar | Banshees

»The Banshees of Inisherin« gesehen. Im Abspann mit vier Personen vermerkt: Covid Officer, Covid Counsellors. Satellitenbilder sollen beweisen, dass chinesische Krematorien stärker arbeiten als sonst.

6. Januar | Vermutungen über China

Offiziell sind seit Dezember 22 Menschen an Corona in China gestorben. Eine Schätzung schreibt von 14.000 Toten am Tag, 2 Millionen Infizierten am Tag. Mehrere prominente Chinesen sind gestorben, die Angabe der Todesursache bleibt vage. In Deutschland wird der Test von Einreisende aus China verpflichtend.

4. Januar | ungesehene Bilder

Bilder aus England, den überlasteten Notaufnahmen, Kranke auf den Gängen. Bilder aus China, wo Menschen die Leichname ihrer an Covid gestorbenen Angehörigen zwischen Hochhäusern verbrennen, weil die Krematorien ausgelastet werden. Das wäre ein Bild für einen gegenwärtigen Zustand, ein Symbol, etwas, das die Schwere der Situation illustriert, auch etwas Neues. Aber in diesem vierten, eigentlich fünften Coronajahr, verbleibt das Bild zwischen anderen, hebt sich nicht raus, wird nicht gesehen, erhält keine Bedeutung. Man wird später nicht im Rückblick anhand dieses Bild den Januar 2023 aufrufen können in Gefühlen und Erinnerungen, sich für einen Moment zurückversetzen können in eine andere Zeit. Das Bild bleibt unbesehen, auch das aus England. Dort, auch weil es kein neues Bild ist, die überlastenden Notaufnahmen sind Dauerzustand. Diese Zeit von Corona hat keine Bilder.

3. Januar | XBB15

XBB15 heißt die Variante aus New York, noch ansteckender, entkommend der Impfungen und des Schutzes, ein neues Delta, doch jetzt eine neue Stufe der Pandemie? Erst mal nur Zeichen als eine Art Überschrift. Schreibe, was ich schrieb, als die Varianten noch griechische Buchstaben erhielten: Wie soll ich wissen, ob ich besorgt sein soll, wenn so wenig bekannt ist bekannt ist mir nur dass ich nicht besorgt sein will, schon gar nicht im vierten Jahr.

1.  Januar | Sommernächte

Von Raunächten habe ich vor einem Jahr geschrieben und auch wenn es wie eine Floskel klingt, scheint dieser Tag viel länger zurückzuliegen als die Kalenderzeit; eine Infektion, ein Ende der Coronamonate, der Angriff Russlands auf die Ukraine, der Krieg der Krieg der Krieg, der Sommer, das Vergessen, das Verschwinden, so viel dazwischen, so ein Wegrutschen der Pandemie, immer noch weiterhin, ein Verschieben des Weiterschreibens, ein mühsames, abgehacktes Aufnehmen, weiterhin ein Vermeiden, in die alte Routinen des Aufgeschrecktwerdens, des Eintauchens in die verlässliche Schwere der Informationen, der Widersprüche, das Mühselige, das Lockende, das Hoffen auf ein Abschließen und am Jahresende doch ein Zurückkehren fühlt es sich weiterhin unnütz an, einen ersten Januar 2023 zur Pandemie, die ja beendet ist, zu beschreiben.

30. Dezember | Einreise

Mehrere Länder führen verpflichtende Corona-Tests für China-Reisende ein. Deutschland gehört nicht dazu. Die Coronasituation in China ist wenig in der Öffentlichkeit, letztlich muss ich aktiv suchen, um Informationen zu bekommen.

29. Dezember | Überschuss

Die Rentenkasse erwartet für das Jahr einen Überschuss von zwei Milliarden Euro. »Die Ausgaben waren etwas geringer als noch vor einem Jahr geschätzt, sagte Roßbach weiter. So gebe es nach Informationen des Statistischen Bundesamtes einen langsameren Anstieg der Lebenserwartung, was sich auch auf die Rentenausgaben auswirke. Ein Grund ist aktuell auch die Corona-Pandemie, die zu einem Anstieg der Sterblichkeit gerade bei älteren Menschen geführt hat.«

28. Dezember | weiterhin Ende der Pandemie

Wenn man mehr als die Überschrift des Drosten-Interviews zum Ende der Pandemie liest, verdichten sich die Aussagen zu: Endemie heißt nicht Ende der Gefahr. So sagt er: »Derzeit bekommen Immunologen Befunde, die suggerieren, dass diese Alterung des Immunsystems bei Kindern nach Coronainfektion viel fortgeschrittener ist, als man es erwarten würde. Man kann sich nun zugespitzt fragen, ob ein ungeimpftes Kind nach Infektion vielleicht mit 30 das Immunsystem eines 80-Jährigen haben wird. Die Durchseuchung der Kinder wäre dann ein riesiger Fehler gewesen.«

Doch bei aller Differenzierung (auch über seine öffentliche Rolle) im Interview bleibt eben die Überschrift, die vom Ende der Pandemie. Das ist, was sich in diesen Tagen transportiert, bereitwillig transportiert wird: Corona ist vorbei. Und nach drei Jahren Pandemie gibt es doch Erkenntnisse, wie sich Aussagen von Wissenschaftlerinnen aufbereiten lassen sollten. Diese Überschrift gehört nicht dazu.

Und vielleicht ist es, dass es in diesen neuen Einträgen hier genau darum geht: Den Übergang vom dreijährigen Ausnahmezustand hin zu einem Übergang zu begleiten, wie die Folgen, das Immernoch wirkt hinein in die Tage, die Gegenwart, die Zukunft. Nach dem Ende das nächste zu sehen.

26. Dezember | Ende der Pandemie, Version Drosten

Christian Drosten erklärt die Pandemie für beendet, » Wir erleben in diesem Winter die erste endemische Welle mit Sars-CoV-2, nach meiner Einschätzung ist damit die Pandemie vorbei«, sagt er in einem Interview, eine Aussage, die der Justizminister umgehend zum Anlass nimmt, die Abschaffung aller verbleibenden Einschränkungen zu fordern. Und da Drosten nicht irgendeine Stimme, die sich zu Corona äußert, ist anzunehmen, dass diese Äußerung noch diskutiert, von verschiedenen Seiten in Beschlag genommen wird.

25. Dezember | Gläserne Zwiebel

Weiterhin interessant, wie die Pandemie in fiktionalen Erzählungen auftaucht. Aktuelles Beispiel: »Glass Onion: A Knives Out Mystery«, das in den ersten Monaten der Pandemie spielt. Die Charaktere der Figuren werden eingeführt durch ihr unterschiedliches Verhalten im Lockdown, auch durch die Art, Masken zu tragen. Das alles geschieht nebenbei, ist kein zentraler Punkt der Geschichte. Beim Betrachten das Gefühl, auf vergangene Epoche zurückzublicken, die popkulturell ebenso erschlossen bzw. mit dem Symbolischen fest definiert ist wie die 1980er.

In der Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten, in dem es um die Lasten und Opfer geht, die wir, das deutsche Volk, leisten, wird mit keinem Wort die Pandemie erwähnt.

24. Dezember | anders als in den letzten Jahren

Anders als in den letzten beiden Jahren ist es nirgends Thema, Weihnachten wegen der Pandemie anders zu gestalten, gar zu verzichten; keine Plakate an Litfaßsäulen, die zum Lüften auffordern.

23. Dezember | Exportstopp

Wegen der hohen Covidzahlen und der damit verbundenen erhöhten Nachfrage nach fiebersenkenden Mitteln stoppt China den Export von Ibuprofen und Paracetamol. Ich weiß nicht, ob diese Meldung einen eigenen Eintrag wert ist, weil versichert wird, dass für die Mittel für »uns« mehrheitlich nicht aus China stammen.

21. Dezember | Medikamentenflohmarkt

Seit Tagen schon kursiert der Vorschlag, angesichts der Medikamentenknappheit Medikamente privat zu tauschen. Der Gesundheitsminister schlägt vor, dass bestimmte (Kinder)-Medikamente in Deutschland teurer verkauft werden dürfen, um deren Produktion für Anbieter attraktiver zu machen. Vielleicht pragmatisch gedacht, in erster Linie natürlich eine Bankrotterklärung des Systems Gesundheitswesen und wofür es da ist.  

20. Dezember | löse deine zunge

Heute die Radioausstrahlung von »löse deine zunge deine hand«. Im September zwei Lesungen mit B., in der Weimarer Jakobskirche, in Jena in der Villa Rosenthal. B. liest Lyrik und Essays über die Pandemie, ich aus den Coronamonaten. A. spielt dafür komponierte Stück. Als er damals das zweite Stück spielte, schloss ich die Augen und, auch wenn es pathetisch klingt, floss Energie zurück in mich, die ich beim Lesen der Tagebucheinträge abgab.

Beide Lesungen an diesen kalten Septemberabenden waren nicht gut besucht. Versuch verschiedener Erklärungen. Ich denke auch: Corona ist allen widerfahren, ist so umfassend so grundsätzlich, dass jeder jede dazu einen Bezug hat, haben muss und damit auch zu den Geschichten, die darüber erzählt werden, so grundsätzliche menschliche Empfindungen, es geht gar nicht anders als daran Anschluss finden zu können. Vielleicht sind wir zu früh dran. Die Pandemie geschieht noch, wir beschäftigen uns täglich damit, weshalb braucht es da eine künstlerische Bearbeitung?

Hier zum Hören.

19. Dezember | jeden Tag die Gegenwart

Seit dem Sommer mehrmals der Antrieb, das Schreiben an den Coronamonaten wieder aufzunehmen: als Biden die Pandemie für beendet erklärt, der Blackout als neues Schreckensgespenst, die Welle im Herbst, das Fallen der Maskenpflicht, das Fallen der Isolationspflicht, die Übersterblichkeiten, als viele um mich herum krank werden, der 150.00 Tote in Deutschland, die Oktoberfestwelle, wann ich Maske trage und warum meistens nicht, meine vierte Impfung etc.

Die Coronamonate sollten ja nicht nur dafür sein, zu beschreiben, was ohnehin außergewöhnlich ist, sondern auch das Dazwischen, die Pausen, das vermeintliche Entspannen, das Langwierige und damit eine Art Prozess, eine Bewegung festhalten, nicht nur die Endpunkte.

Warum ich nun wieder einsteige, wie lange ich das tue, in welcher Form – ich weiß es nicht. Geändert hat sich ohnehin vieles im Schreiben im Vergleich von vor 33 Monaten: für ein Ansonsten reicht weder meine Zeit noch die Lage, die Pandemie ist längst zu dem geworden, was ich mir schnell wünschte: ein Teil von Vielem im Informationsfluss, eingereiht und abgenutzt. Und dennoch geht es weiter, das Infizieren und Erkranken und Sterben und das Einwirken auf die Gesellschaft, die Gegenwart. Ob es noch notwendig ist, das festzuhalten; ich werde es mich eine Zeit lang jeden Tag fragen und für oder gegen einen Eintrag entscheiden.

16. Dezember | Katar

Mehrere Spieler des WM-Fußball-Finalteilnehmers Frankreich sind krank, eine Atemwegssache, MERS, Covid, Spekulationen, die Wettquote ändert sich.

15. Dezember | China

China gibt die restriktive Coronapolitik auf, öffnet sich dem Virus. Dabei wirken die chinesischen Impfstoffe deutlich unzulässiger als die mRNA-Typen, gab es deutlicher weniger Dritt- und viertimpfungen, sind weniger Intensivbetten vorhanden, geschrieben wird, China ist nicht vorbereitet sei auf das, was kommt. Die Zahlen steigen rasant drei Jahre im Zeitraffer im Milliardenland, naiv anzunehmen, es würde nur China betreffen.

14. Dezember | Ende des Anfangs

Ich lese: »Was gerade geschieht, ist nicht das Ende der Pandemie, es ist das Ende des Anfangs.« Was in den letzten Monaten war, bekannt wurde, deutlich: die Zahlen zur erhöhten Übersterblichkeit, die vielen LongCovid-Fälle, die durch die Covid-Infektionen geschwächten und angegriffenen Immunsysteme, einer der Gründe für den derzeitigen Seuchenherbst und -Winter. Der Anfang war die Pandemie, die Mitte sind die Folgen, es wäre möglich, dass wir da jetzt stehen, mit dem Erkennen, nach der Prävention.

13. Dezember | Immunschuld

Immunschuld. Wie ich dieses Wort verabscheue. Wie beispielhaft es doch steht für die letzten drei Jahre; für die Vereinfachung, die Umdeutung, die Fehlleitung.

3. Juli | Leichter Sommer

Sommer, 30 Grad, gelbes Gras, wenig Regen, Freibad, kurze Hosen. Die Erkenntnis aus zwei Pandemiesommern war, dass der Pandemiesommer die Pandemie in eine Pause versetzt: Aerosole treiben weg, Zahlen sinken, Entspannung tritt ein. Diesmal ist es anders.

In diesen Sommerbeginn kracht die Omikron-Subvariante BA.5, die eigentlich einen eigenen Namen verdient hätte. Fast zeitgleich werden die kostenfreien Tests abgeschafft. Ein Bericht erscheint, der die bisherigen deutschen Coronamaßnahmen evaluiert. Dessen öffentliche Wahrnehmung tendenziell eher verheerend, von einer »Klatsche für Team Vorsicht« wird geschrieben, dass wenig etwas gebracht haben, Masken unwirksam gewesen seien, der Blick auf die Fehlstellen gerichtet. Bei näherer Betrachtung ist es durchaus nicht ganz so eindeutig. Es geht auch darum, dass viele Daten nicht erhoben werden konnten, ein Beispiel. Ein anderes: Die Besetzung der Kommission, die nicht unbedingt eine wissenschaftliche Diskussion möglich machte. Zumindest eine recht klare Erkenntnis: Im Laufe der Zeit verlieren viele einschränkende Maßnahmen ihre Wirkung.

Im Zusammenspiel all dieser Dinge – starke ansteckende Variante, nachlassender Impfschutz, weniger Tests, weniger Vertrauen in Maßnahmen – scheint der Sommer zu einem Herbst zu werden. Was der Herbst dann wird, keine Ahnung.

Ich lasse mich im Friedrichsdorfer Bahnhof ein letztes Mal kostenlos testen, negativ sagt die Mail fünfzehn Minuten später. In der Schule dort sind zehn Prozent der Lehrerinnen angesteckt, die Verläufe zum Teil heftig. Querdenker diskutieren die These, dass sich aktuell nur Geimpfte anstecken etc.

Dabei war uns doch mal ein Ende der Pandemie versprochen, zumindest ein weiterer leichter Sommer. Aber der Subtyp und Stellungskrieg in der Ukraine und die steigenden Energiepreise und die Inflation und die Dürre und die Infrastrukturen, die zeitweise kollabieren, weil das Personal fehlt oder ausfällt und die Globalisierung, die sich einigelt und der Oberste Gerichtshof in den USA, der die Uhren gerade hundert Jahre zurückdreht und zugleich die juristischen Voraussetzungen für eine Autokratie schafft und Hongkong, das eingehegt wird und all das in diesen ersten Julitagen, ein Viertel der 2020er Jahre sind vorbei und es gibt nicht gerade viel Anlass zur Vermutung, dass sich in den nächsten Monaten grundsätzlich etwas drehen wird, dass sich das zweite Viertel der 20er Jahre großartig vom ersten Viertel unterscheiden könnte, eher anders, eher, dass die Dynamik in Gang kommt und dass das Bild der 2020er im Grunde schon geprägt sein könnte, im Rückblick ein Jahrzehnt des freien Falls.

Und bei diesen dunklen Gedanken, die eigentlich eher Beobachtungen der Gegenwart als schon Mutmaßungen der Zukunft sind, der Gedanke, dass in dem, was kommt, das Leichte fehlen wird, dass Corona vielleicht tatsächlich einmal als der große Trenner zwischen zwei Zeiten gesehen werden könnte.

Juni | es wären Affenpocken gewesen

Hätte ich einen Eintrag für den Coronamai 2022 geschrieben, dann hätte er Affenpocken geheißen. Denn darum ging es, ein neuer, vielleicht alter Virus, die Aufmerksamkeitsmechanismen Corona ließen sich darauf lustvoll anwenden, ein einprägsamer Name, und dann doch recht schnell die Information, dass eine Affenpocken-Pandemie eher unwahrscheinlich schien. Dazu der Vermerk, dass die Zahlen weiter sinken, immer wieder der niedrigste Stand seit.

Vielleicht deshalb kein Schreiben. Und ein Schreiben Mitte Juni, weil die Zahlen wieder steigen, der R-Wert bei 1.3, eine Untervariante Omikrons aus Südafrika oder Portugal ersetzt die bisherige Untervariante, ansteckender, offenbar auch krankheitserregender. Aber das läuft neben Tankrabatt und Neun-Euro-Ticket und Sylt und Inflation und immer-noch-Ukraine eher unauffällig her. Man macht sich keine große Sorgen – und in diesem man ist auch ich eingeschlossen – und die Feste werden größer und die Festivals stehen offen und die Masken sind unten und ich verhalten vollkommen irrational; gehe auf Lesungen, Abschiedsfeiern, Konzerte, Kinos (so, wie damals in den 10er Jahren), umarme, stehe dicht, atme aus und noch mehr ein und beim Betreten des Supermarkts setze ich die Maske dennoch auf, eine letzte Reminiszenz an die vergangenen beiden Jahre, eine letzte Barriere, pflichtschuldig, warum auch immer.

Ich fahre mehr Zug, dort die Maske, die drei Stunden nach Berlin oder Frankfurt, nur für den Dean&David-Wrap heruntergezogen und so richtig Sinn ergibt das nicht und eine erneute Ansteckung wäre Unannehmlichkeit – fünf Tage keine Termine einhalten können dürfen oder sind es nur noch drei Tage Selbstisolation, ich kenne den Stand nicht – aber nichts, weshalb ich mich sorge und ich müsste auch mal schauen, wie lange Tests eigentlich haltbar sind.

Aber doch, eine Sache gibt es. Am Bahnhof von Friedrichsdorf steht ein Testzentrum. Wenn ich dort bin, habe ich Zeit und in dieser Zeit gehe ich ins Bahnhofsgebäude und lasse mich testen, das Ergebnis wird mir fünfzehn Minuten später aufs Smartphone geschickt. Ich tue es weniger, weil ich meinen Gesundheitsstand wissen möchte, es ist Langeweile, vor allem, weil ich den beiden Test-Arbeiterinnen zusah, sie standen, ihre Körper gehüllt in Schutzkleidung, draußen in der Sonne, sie warteten und warteten und warteten und niemand kam und ich ging zu ihnen, weil ich dachte, noch sinnloser als sich testen zu lassen wäre ein Testzentrum, in dem sich niemand testen lässt und sie waren so freundlich und hilfsbereit und schoben das Stäbchen genauso lange und genauso tief in meine Nase, wie es sein muss – kurz vor den Tränen – und sie gaben mir zum Abschied eine Maske mit. Alle zwei Wochen komme ich in Friedrichsdorf und ich werde mich testen lassen, solange das Testzentrum dort offensteht und wenn ich zurückfahren, muss ich erst durch die Unterführung laufen, an deren Wand jemand ein Stencil gesetzt hat – »Contergan war gestern, die Corona Kinder kommen!«

Und das ist mein Coronajuni 2022, zumindest bis zur Hälfte, die Welt hat gerade andere Sorgen und dennoch las ich erstaunt, dass im März/April 2022 genauso viele Menschen an Corona starben wie im März/April 2021, ich war erstaunt und auch getroffen, weil, das vergisst man dann doch; es können verschiedene Zustände zugleich existieren, vorbei und weiterhin zum Beispiel.

7. April | vom Tisch

Es fällt weiterhin schwer, Gedanken auf die Pandemie zu richten, gerade nach den letzten Tagen, den entsetzlichen Berichten aus Butscha, soviel Grauen und Abgrund, die Nachrichten von den mobilen Krematorien und deren Verwendungszweck, wie soll daneben ein Eintrag bestehen, dass der Gesundheitsminister Anfang der Woche die Isolationspflicht nach einer Infektion aufheben will und diese Aufhebung Stunden später per Twitter zurücknimmt?

Doch fand heute die Coda eines der zentralen Reizthemen der Pandemie statt: die Abstimmung über die Einführung einer Impfpflicht ab sechzig Jahren. Es fühlt sich auch so aus der Zeit gefallen an, viele Monate zu spät erscheint dieser Versuch zu finalisieren, was solange schon triggerte. Eine Debatte aus dem letzten Jahr, die nun erst entschieden wird, all dieser zähe Vorlauf ist einer der Gründe dafür, dass die Impfpflicht – wie erwartet, möchte ich schreiben – abgelehnt wird. Vom Tisch ist damit eine Coronaimpfpflicht, heute und morgen auch.

Es gibt kaum Argumente gegen das Impfen, einige gegen eine Pflicht, einige dafür. Doch rückblickend das Gefühl, dass die Diskussion darüber immer überhitzt war und auch deshalb gescheitert ist. Auch zu sehen, wie ungeschickt zum Teil, wie häßlich ideologisch zum anderen Teil die politische Diskussion geführt wurde, wie die Politik versuchte, die Diskussion in eine Politik überführen, wie sie damit scheiterte, kläglich möchte ich schreiben mit all den Ansprüchen und Reputationen, die in Waagschalen geworfen wurden, heute zu sehen, wer sich wie darüber freut, wer die Faust nun grinsend reckt und hämisch jubelt, ist irgendwie auch die Essenz von zwei Jahren Pandemie in diesem Land.

Weil die Entscheidung von heute wirkt wie eine, die gestern hätte getroffen werden müssen und deren Folgen auf morgen wirken werden. Und das Gefühl, dass es alles ganz anders hätte laufen können und so läuft es weiter wie bisher, ein Versagen aller irgendwie, eine komplette Niederlage, nicht zwingend die Entscheidung, sondern der Weg dahin, die Art und Weise, wie sie getroffen wurde.

Und während sich dieser Tag deshalb auch wie ein Kotau vor dem Querdenken anfühlt, währenddessen eine echte Coronadiktatur, eine Dystopie wie aus dem Lehrbuch, in Shanghai gerade, wo der chinesische Staat 26 Millionen Menschen in einen wahrhaftigen Lockdown bringt; patrouillierende Roboterhunde, die auf den leeren Straßen laufen und Regeln verkünden, Drohnen, die vor die Fenster singender Menschen fliegen und per Lautsprecher schnarren: »Kontrollieren Sie den Wunsch Ihrer Seele nach Freiheit. Öffnen Sie nicht das Fenster und singen Sie nicht«, Kinder, die vom Staat von ihren infizierten Eltern getrennt werden, zu geringe Lebensmittelverteilung, regierungstreue Nachbarschaftskomitees, die Quarantänebrecher verprügeln.

4. April | klarkriegen

Nachdem drei von sechs Parteien für das Auslaufen vieler Maßnahmen stimmten, gilt zumindest in Thüringen Maskenpflicht in vielen öffentlichen Orten nicht mehr. Das Tragen von Masken erfolgt nun eigenverantwortlich, ich werde keinen offiziellen Grund mehr haben, von maskenlosen Gesichtern irritiert zu sein.

Gestern der Besuch in einem der Perlenketten-Dörfer. Zwei Jahre hat sich das Dorf das gesamtgemeinschaftliche Feiern versagt. Vor zwei Wochen ein Polterabend, zu dem alle Bewohner eingeladen waren, 2G Plus. Ein Superspreadereignis, anschließend ist ein Großteil der Anwesenden und damit ein Großteil des Dorfes infiziert. Die Verläufe, so der Stand nach zwei Wochen, nicht schwer.

Klar kriege ich es nicht, dass das Abschaffen der Coronamaßnahmen von einigen als Freiheit gefeiert wird und diesen Freiheitsbegriff gegen die Bilder aus Butscha setzen zu müssen. Klar kriege ich ebenfalls nicht die Demonstrationen und Posts und Hashtags gegen die Coronadiktatur, wenn ich diesen Diktaturbegriff gegen die Geschichte von Mariana aus Mariupol setze.

Und die Lebensmittelhändler erhöhen die Preise um einen zweistelligen Prozentsatz und die Energiepreise verdreifachen sich für Haushalte und in Katar, wo mehr als 6500 Menschen beim Bau von Fußballstadions starben, werden die Gruppen für die Fußball-WM ausgelost und es ist weniger schlecht, zukünftig Gas aus diesem Land zu kaufen, weil es schlechter ist, den russischen Krieg mit dem Kauf von russischem Gas zu finanzieren und schlechter ist als eine große Rezession in Deutschland und in Afghanistan verbieten die Taliban Mädchen das Lernen und in Ungarn erhält Orban fast zwei Drittel aller Stimmen und für Frankreich schließen einige Analysten einen Sieg Le Pens nicht mehr aus und in der Arktis liegen die Temperaturen bis zu vierzig Grad über dem Normalwert und in der Antarktis auch und währenddessen läuft die Pandemie weiter, so viele und so viele hunderttausend Ansteckungen am Tag und die Maßnahmen setzen aus und die Verläufe sind für die meisten mild und für einen Teil nicht und weiterhin sterben zweihundert Menschen am Tag daran, das ist die Zahl, auf die wir uns geeinigt haben und all das nebeneinander, gegeneinander, ineinandergreifend, so richtig klar kriege ich das nicht Anfang April.

März 2022 | Freedom Day

Vor einigen Wochen habe ich aufgehört, die Coronamonate zu schreiben. Es schien mir obszön und unangebracht, über Inzidenzen Einträge zu verfassen, während Raketen auf Geburtskliniken abgefeuert werden. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, die Wucht, das Leid, das Unfassbare überlagerte alles, war der Blick, waren auch meine Worte (hier einige Gedanken zum Lesen). Wo zwei Jahre lang die Pandemie gewesen war, war nun der Krieg. In einem frühen Eintrag hatte ich überlegt, wann Corona vorbei wäre. Wenn es nicht mehr in den Nachrichten ist, schrieb ich damals. Nun hätte ich damals nicht gedacht, dass die Pandemie nicht im Zentrum steht, weil Krieg ist. Und: Corona ist ja nicht vorbei.

Im Gegenteil. In den letzten Wochen Höchststände bei den Neuinfektionen, 300.000, jeder zweite Test positiv. Es wird sich angesteckt, objektiv lässt sich das an den Zahlen ablesen, subjektiv sehe ich das im nahen Umfeld: viele Isolationen. Damit tritt auch ein, was prognostiziert wurde: viele Ausfälle, gerade im Gesundheitswesen.

Zeitgleich zu diesen Ansteckungen findet der Freedom Day statt, ein Name, der aus vielerlei Gründen so unpassend ist: das Beenden der Maßnahmen. Erst mal ein technischer Vorgang, vor allem ein Symbol. Die Politik betrachtet das Virus nicht mehr als Bedrohung für die Gesellschaft und handelt entsprechend.

Ich schreibe das nüchtern, weil ich nicht weiß, was ich davon halten soll. Ich denke an die Inzidenz von 30 zurück und wie es verboten war, ein Buch auf der Parkbank zu lesen. Heute steht die Inzidenz in Weimar bei 2700 und die Maske auf halbmast. Ich verstehe das, weil sich die Umstände geändert haben; so viel mehr stecken sich an und so viel weniger werden krank, der Impfungen wegen, wegen der Mutante. Doch im Durchschnitt sterben weiterhin über zweihundert Menschen am Tag, in den USA sind es tausend Tote am Tag, weiterhin, immer noch. Wie sich verhalten angesichts eines solchen ansteckenden Virus, nach zwei Jahren Pandemie, mit der Möglichkeit des Schutzes, den Sterbenden, dem Abwägen? Die Entscheidung ist längst getroffen: Corona lenkt nicht mehr das öffentliche Leben. Die Last, die die Krankheit verursacht, wird an den Rand gelegt, wieder wenigen aufgebürdet.

Der Kindergarten hat wieder vollumfänglich geöffnet, ich bin froh darüber, betrachte das regelmäßige Testen als lästig und okayen Preis für den Gegenwert einer freien Bewegung. In der ersten Kriegswoche verließ ich die Isolation, die Infektion hatte ich ohne nennenswerte Erkrankung überstanden. Ich las vom Krieg, sah die TikToks von den Panzern, sprach darüber, konnte nicht fassen, was geschah, diskutierte die Wahrscheinlichkeiten eines Atomschlags etc. Corona aber, so schien mir, ist kein Thema mehr. Weder für die Welt noch für mich, besonders für mich. Ich hatte zwei Striche auf meinem Teststreifen gesehen, ich hatte Kopfschmerzen bekommen, hatte acht Tage in der Wohnung verbracht. Nun war ich darüber hinweg. Ich hatte es geschafft. Ich war frei. Termine trudelten ein, die Pläne für den Sommer verfestigten sich. Ich kannte nicht mehr die Inzidenzzahlen, nur hin- und wieder von Reinfektionen. Ich fühlte mich sicher vor dem Virus, ich hatte dennoch Angst um die Welt, so war mein März im dritten Coronajahr.

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Ab dieser Stelle vorerst kein neuer Eintrag mehr, es fühlt sich momentan nicht richtig und wichtig an, an den Coronamonaten weiterzuschreiben.

26. Februar | Kulissenwechsel

Wenig überraschend schiebt sich das Querdenken nahtlos über den Putinkrieg. Das Muster, das bisher für die Pandemie galt, wird nun auf die Ukraine gestülpt. Die Kulisse ändert sich, die Bühne bleibt, diese Umkehr des Denkens. Nicht in einer guten, produktiven Weise, die einen zwingt, die eigene Position zu NATO, Militarisierung, Ostpolitik, Medien, Energiepolitik kritisch zu hinterfragen, sondern dumpf, bockig, wehleidig, offensichtlich manipuliert, maßlos. Auch klar: Sowie Putin seinen Krieg verloren haben wird, wird die nächste Kulisse aufgebaut werden.

Ansonsten: Ab heute beginnt in Deutschland die Impfung mit dem proteinbasierten Impfstoff Novavax.

25. Februar | schreiben könnte ich

Schreiben könnte ich, dass heute, am vorletzten Abend meiner Isolation, der Schnelltest weiterhin einen zweiten Strich anzeigt und ich nicht so recht weiß, was ich von dieser positiven Information halten soll, es erscheint irrelevant, jede Information über Corona scheint unwichtig, wie etwas von gestern, überholt, zu den Akten gelegt angesichts der weiterhin unwirklichen Nachrichten aus der Ukraine – Häuserkampf in Kiew, selbstgebastelte Molotowcocktails gegen russische Soldaten, rollende Panzer, Väter, die sich weinend von ihren Kindern verabschieden, um in den Kampf zu ziehen, 20000 Maschinengewehre, die Zivilisten überreicht werden, erhöhte Strahlungswerte im eroberten Tschernobyl, Metrostationen, in denen Menschen Zuflucht suchen, Raketensperrfeuer, Deutschland, das 5000 Helme Richtung Osten schickt.

24. Februar | die Zukunft, die graue

Heute vor zwei Jahren stand ich in einer Apotheke und kaufte Masken, weil ich die vage Befürchtung hatte, die Zukunft könnte diesen Kauf notwendig machen. Hätte ich damals geahnt, dass ich genau zwei Jahre später das Virus in mir trage und deshalb in Isolation bin, während eine Pandemie über sechs Millionen Opfer gefordert hat, hätte ich geahnt, dass genau zwei Jahre später Putin seine Soldaten die gesamte Ukraine angreifen und zerstören lässt, dann…

Es ist unwichtig, was ich dann gemacht hätte. Ich, diese Einträge sind es angesichts der Nachrichten. Dabei ist heute alles – trotz dessen, dass es die Welt betrifft – auch ich, weil die furchtbaren Ereignisse – ein Krieg – durch mich gehen und ich sie irgendwie verarbeiten muss, etwas, das schlicht unmöglich ist. Wie will ich die Information, dass ein Krieg beginnt, die unzähligen, unkontrollierbaren Informationen, die aus dieser Tatsache folgen, mit irgendwas in Einklang bringen? Soll ich fühlen, Worte wie »furchtbar« schreiben? Soll ich versuchen zu verstehen? Auf dem Laufenden bleiben? Es ist alles zugleich und zugleich ist es nichts, ist alles leer bei jedem Gedanken daran.

Vor zwei Jahren hätte ich niemals angenommen, dass so etwas wie eine Pandemie geschehen könnte. Noch weniger hätte ich angenommen, dass sie zwei Jahre meines Lebens, aller Leben bestimmt. Genauso wenig hätte ich angenommen, dass Putin Raketen auf Kiew schießt. Beides war unvorstellbar. Nein, nicht unvorstellbar. Immer gibt es Szenarien. Es gibt Szenarien von weltweiten Virenausbrüchen, gibt Szenarien von Kriegen. Das Schlimme ist vorstellbar. Es ist nur unvorstellbar, dass es Realität wird, Teil der nicht mehr gestaltbaren Zeit.

In der Pandemie ging und geht es unablässig darum, die nahe Zukunft zu kennen. Das war möglich und war es zugleich nur bedingt. Einher ging die Erkenntnis, dass trotz aller Prognosen, allem Wissen das Handeln eingeschränkt ist, das das Wissen um die Zeit nicht das bestmögliche Handeln garantiert. Nichts Neues unter dem Himmel, alle Zyniker finden sich bestätigt. Ich wollte niemals zynische Einträge schreiben.

Ja, eigentlich ist heute der Tag, an dem ich diese Coronamonate beenden wollte. Sollte. Zwei Jahre sind genug Worte dafür. Ich weiß nicht, wie es weitergehen wird. Schreibe ich bis Sonntag, bis ich die Isolation verlassen habe, ist das mein persönliches Ende der Pandemie, ein privater Schlusspunkt als universeller Schlusspunkt?

Vielleicht, vielleicht nicht. Jedenfalls das niederschmetternde Gefühl, dass die Pandemie weiterhin ist und sein wird und dennoch von jetzt an etwas Neues den Blick bestimmt, nicht ganz so nah, nicht ganz so komprimiert, noch undurchsichtiger, noch invasiver, ein Schnitt in der Zeit, unumkehrbar, etwas, das lange bleiben wird, das die nächsten Jahre, die 20er Jahre bestimmen wird, die Zukunft, die graue.

Ansonsten: welches Ansonsten?

23. Februar | ich bin die Gefahr

Nach vier Tagen wieder die Wohnung verlassen. Draußen allerorts Frühblüher, dazu ein Gefühl wie im März vor zwei Jahren. Ich schlage weite Bogen um Passanten. Doch diesmal nicht, weil sie mir gefährlich werden könnten. Für sie bin ich die Gefahr. Einmal die Frau mit dem Hund angeatmet, den kinderwagenschiebenden Vater mit Vorbeigehen mit meinen virenhaltigen Aerosolen gestreift, in Richtung der Familie gehustet. Ansonsten fühlt sich draußen an wie immer, wie sollte es auch anders sein. Im vertrauten Coronaabstrichstützpunkt läuft erneut Punkmusik, ein junges Team nimmt den Abstrich zum Freitesten.

Wenig überraschend erfolgt fünfzehn Minuten später die vermutete Bestätigung: weiterhin positiv, ein Befund, mit dem ich auskommen kann. Wirklich Dramatisches erwarte ich nicht mehr. Drei weitere volle Tage drinnen werden folgen, ab Sonntag darf ich dann sein, wo ich sein will. Das hat, erfahre ich, nicht unbedingt medizinische als vielmehr rechtliche Gründe. Länger als zehn Tage kann ich nicht in Isolation gehalten werden. Als Rückweg nicht der direkte Weg zurück, sondern ein abschweifender Schlenker über die Felder, ein bisschen von draußen mitnehmen für die verbleibende Coronainnenzeit.

22. Februar | Kokon

Heute Mattigkeit, auch Niedergeschlagenheit, was weniger am Isolationskokon liegt. Putin lässt seine Soldaten in der Ukraine einmarschieren, konstruiert Gründe, weil er keine Demokratie in seiner Nähe ertragen kann, ein Anachronismus, wie eine vulgäre Tat aus einem anderen Jahrhundert, nichts für die Gegenwart. Und doch geschieht es.

Niedergeschlagenheit, weil der Krieg unabwendbar schien und scheint. Alle Puzzlestücke aus den letzten Monaten deuten auf dieses Ziel hin. Dennoch fällt es schwer, das Unvermeidliche auszusprechen, das Schlimmste anzunehmen, weil es unvorstellbar scheint, ein Krieg 2022. Doch führen die Ereignisse zu einer Art Zwangsläufigkeit des Geschehens, mit offenen Augen in die erwartete, gefürchtete Zukunft, eine Dynamik, wie sie aus der Pandemie bekannt ist, die prognostizierten Kurven, die Warnungen, später das Eintreten, trotz des Wissens, dass es so kommen wird. Livegetickerter Determinismus, das Wegrutschen der Gegenwart in Echtzeit, die eigene Ohnmacht alle fünf Sekunden aktualisiert.

Eine weitere Niedergeschlagenheit. Das Hoffnungsvolle der Pandemie – bei allen Fehlern, bei allen Auslassungen, bei allen Boshaftigkeiten – die Mehrheit hat versucht, sich zurückzunehmen, um damit die Schwachen zu schützen, letztlich ein Akt der Solidarität. Dagegen nun das Einbrechen der nächsten Krise, der nächsten Ausnahme, dem nächsten Extrem, diesmal das Scheitern der Hoffnung, dagegen die Panzer und Soldaten, die beschossenen Kraftwerke, ukrainische Mütter, die ihren Kindern Aufkleber auf die Kleidung kleben, auf denen die Blutgruppe angegeben ist. Das Schlimme hat sich durchgesetzt, Schlimmeres wird geschehen, das kommende Leid ist unabwendbar. Heute bin ich froh, im Kokon zu sein, nicht teilhaben zu müssen an dieser Welt.

Ansonsten: Nach der Omikron-Untervariante BA.1 breitet sich nun der infektiösere Subtyp BA.2_H78 aus und könnte im März auch in Deutschland die vorherrschende Mutante sind. Der Iran schickt 800.000 Impfdosen zurück nach Polen, weil diese ursprünglich aus den USA stammen. In England müssen sich Infizierte nicht mehr isolieren.

21. Februar | Licht und Luft

Die ersten Isolationstage, könnte man sagen, muteten an wie ein langes, ruhiges Wochenende. Spätestens am Montag, als das Surren der geschäftig die Straße entlangfließenden Automobile, das Wegbringen der Kinder am Morgen und das Eilen in den Park vom Fenster aus zu erkennen ist, wird klar, das ist Montag, eine neue Woche beginnt. Draußen eilt die Zeit weiter, während sie drinnen gefroren ist. Und irgendwie wäre ich schon gern Teil davon. Dafür soll zumindest Licht und Luft in das Geschlossene fließen, Vorhänge auf, Fenster ebenfalls, ein kurzes Rauslehnen in die Welt.

Freunde statten einen Isolationsbesuch ab, stellen Selbstgebackenes und einen Endzeit-Roman von Margaret Atwood vor die Tür, bieten beim Balkongespräch das Holen von Nahrungsmitteln an. Telefonate, private und berufliche, Updates, Genesungswünsche, der Schnupfen zieht in die Nebenhöhlen, die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Freitestens übermorgen sinkt mit jedem zerknüllten Papiertaschentuch, das Tagesprojekt mäandert, alles in allem in gemächliches Eintauchen in den Isolationsrhythmus. Ich sehe auf die heute veröffentlichte Coronainformationstafel der Stadtverwaltung Weimar, 182 Neuinfektionen am Wochenende, 1104 Fälle, ich bin eine Zahl davon, einer von 60 gerade in der Stadt.

Ansonsten:  In Wellington bewerfen Impfgegnerinnen die Polizei mit Fäkalien. Die Bundesregierung beschließt, eine 10-Euro-Sammlermünze »Pflege« zu prägen.

20. Februar | Virus in mir

Schon erstaunlich, dass in der Woche, in der ich die Coronamonate mit dem 2. Jahrestag der ersten Eintragung beenden wollte, die Infektion geschieht, so, als es drängte das Virus unbedingt noch in die Aufzeichnungen hinein, als wolle es das Schreiben über den kommenden Donnerstag hinaus verlängern.

Was natürlich eine sich selbst überschätzende Annahme ist, weil das Virus nichts will, nichts kann, nicht mal Leben ist, nicht mal Nichtleben ist. Jedenfalls ist das eine, um das die letzten beiden Jahre kreisten, das, was ich vermeiden wollte, nun da. Das Virus in mir. Was klingt wie der Titel eines New-Metal-Songs aus den späten 90ern ist eine seltsame Form des Wissens.

Ich weiß, dass in mir ständig Prozesse ablaufen, sonst gäbe es mich nicht. Ich weiß auch, dass ständig versucht wird, diese Prozesse zu stören und dass mein Körper Mechanismen entwickelt hat, gegen die Störungen anzugehen. Ständig ist in mir ein Ringen. Aber dieses Ringen, dieses Virus, von dem ich nach zwei Jahren mehr weiß – nicht im Sinne einer tiefergehenden Kenntnis von Zusammenhängen, aber immerhin weiß ich vom Spikeprotein und Virenlast und Omikronmutationen – als über die meisten anderen Fremdkörper in meinem Körper, ist bizzar.

Auch, weil es ein Wissen ist, aber kein Spüren. Ich weiß, Sars-CoV-2 ist gerade in meinem Körper, es breitet sich aus oder wird zurückgedrängt, es versucht anzudocken und einzudringen und zu stören, das Virus ist in meinem Blut, in meinen Zellen, ich atme das Virus aus. Aber ich spüre das Virus nicht. Das Virus ist unsichtbar, unfühlbar, und doch ist es da. Was ich fühle, sind die Reaktionen meines Körpers.

Die Reaktionen sind bisher mild, jedenfalls milder als nach den Impfungen, besonders im Vergleich zur zweiten Impfung. Die Symptome sind mild und ähnlich der Impfnachwirkungen; Kopfschmerzen, Mattigkeit, leichtes Husten, Kältegefühl, gerade in den Abendstunden. Ich horche in mich hinein, überprüfe mich, analysiere meinen Zustand mit meinem laienhaften Wissen. Ebenso laienhaft schlussfolgere ich: Das wars schon. Das Virus hat sein Pulver in mir verschossen. Beschwingt denke ich: Jetzt nur noch sieben Tage ausharren. Die Artikel über Long Covid, die Berichte über die Folgen, die Wochen und Monate nach der Infektion eintreten können, lese ich wohlweislich nicht.

Heute verspüre ich kein Verlangen nach draußen zu gehen. Drinnen ist okay. Auch, weil sich der nächste Sturm angekündigt hat, von Z wie Zeynep springt es auf A wie Antonia, das Orkanalphabet ist gerade aktiver das Mutantenalphabet.

Es ist auch okay, weil ich denke: Danach ist es wirklich vorbei, Maßnahmen lockern hin oder her. Danach werde ich »es« gehabt haben. »Es« hat es versucht, aber hat mir nichts getan. In diesen Momenten empfinde ich meinen gegenwärtigen Zustand als befreiend. Das Vermeiden war sinnvoll. Jetzt ist das Nichtvermeidbar geschehen. Jetzt ist die Pandemie eine private Auseinandersetzung mit mir, das Globale ist in das mir nächste geholt, in meinen Körper.

Meine Stimmung an diesem Sonntag ist, dass ich diese Auseinandersetzung gewinne, dass ich die Pandemie in mir selbst besiege. Ist das ein unzureichender Gedanke, auch dumm? Vermutlich. Das Virus ist in mir, zwei Jahre Informieren, Ausharren, Vorbereitungen finden gerade ihr Finale, unsichtbar für alle, auch mich.

Ansonsten: Die Queen ist infiziert. Weil das Kreisgesundheitsamt Gütersloh die Fleischwerke Tönnies als »Spezialfall« behandeln, können sich die Mitarbeiterinnen schon nach zwei Tagen aus der Quarantäne freitesten.

19. Februar | nach dem Coronaabstrichstützpunkt

Nach der Nacht mit Orkan Zeynep vormittags der Test im Coronaabstrichstützpunkt. Der liegt an den Gleisen, war lange auf dem Gelände eines Sportplatzes beheimatet, jetzt sind auf dem Parkplatz davor Container aufgestellt. Eine knappe Viertelstunde nach Ankunft die offizielle, wenig überraschende Bestätigung: positiv. Eine eher formale Ansage, das Aushändigen eines Papieres, weitere Anweisungen, was ich nun zu tun habe, bleiben aus, weil ohnehin klar ist, was folgt: häusliche Selbstisolation. Am Nachmittag meldet sich das Gesundheitsamt am Telefon, fragt dies und das nach, schickt schnell einen Termin für die Freitestung am Mittwoch. Sollte der Test dann weiterhin positiv sein, bleibt die volle Isolationszeit bis Samstag. Ich denke daran, dass vor einiger Zeit eine Frist von zwei Wochen galt und weiß, dass ich mich da schon glücklich schätzen kann.

Eine Lehre aus den bisherigen Lockdowns und Kinderquarantänen, um das Wohlbefinden zu erhalten, ist, gemeinsam Projekte suchen für die einzelnen Tage. Und, noch wichtiger: gutes Essen. Das sind die wichtigen Pläne. An diesem ersten offiziellen Tag fühle ich mich energetisch, fast schon motiviert. Ich lese in einige tagebuchähnliche Beschreibungen von Coronaisolationen hinein, weiß, dass ich nicht mehr allzu sehr ins Detail gehen muss. Es sind die eigenen vier Wände, der Kühlschrank ist voll, natürlich wird es eng werden, aber es ist kein dramatisches Theaterstück. Es ist eine Woche in der Wohnung. Der Husten ist zurückgekehrt, das kann ich schreiben, meine Sorgen halten sich in Grenzen, das hoffe ich in einer Woche weiterhin schreiben zu können, bin dankbar, dass ich wegen der Impfung so schreiben kann.

18. Februar | zwei Striche

Man hat das ja schon oft gemacht: die Testutensilien aus der Verpackung geschält, den Abstrichtupfer sachgemäß verwendet, im Probenahmeroh ausgedrückt, vier Tropfen auf das Probenloch der Testkassette gequetscht, zusehen, wie die Flüssigkeit langsam den Teststreifen entlangquillt. Und jedes Mal die Erwartung, dass sich ein Strich abzeichnet, bei C. Wenn nun ein zweiter Strich auftaucht – bei T –, ein ungläubiges Kopfschütteln. Es kann nicht sein. Eine andere Welt.

Nach 15 Minuten ist sicher: da sind zwei Striche, die bleiben auch und damit ein positives Testergebnis. Nicht bei mir (auf meinem Streifen zeichnet sich nur ein Strich ab), aber Omikron ist im Haushalt. Zuerst ein Wegschieben dieser Erkenntnis, alle paar Minuten erneut auf den Streifen schauen, so, als würde der zweite Strich wegsehen lassen. (Das Gegenteil geschieht: Nach zwei Stunden bildet sich in meiner Testkassette ein zweiter Strich.)

Jedenfalls: Positiv. Und tatsächlich Symptome seit diesem Tag, den Tag davor schon: mildes Fieber beim Kind, milder Schnupfen, milde Kopfschmerzen, milde Mattigkeit, alles mild, aber vorhanden. Jetzt heißt es irgendwie damit umgehen. Informieren, worin der Unterschied zwischen Quarantäne und häuslicher Selbstisolation besteht. Ob die Quarantäne für die geimpfte, negativ getestete Kontaktperson gilt? Was ist mit Kindern? Wo treibt man in Zeiten der großen Auslastung schnell einen PCR-Test auf?

Zumindest letzteres klärt sich schnell. Eine Mail ans Gesundheitsamt geschickt, kurz darauf ein Anruf, kurz darauf die Fahrt ins Testzentrum, kurz darauf ein PCR-Schnelltest, kurz darauf das offizielle Ergebnis: positiv. Damit verbunden die Informationen, dass die nun verordnete Isolation sieben Tage seit Symptombeginn gelten, ein Freitesten ist ab Dienstag möglich, wenn 48 Stunden zuvor keine Symptome auftraten.

Als nächstes ein Überlegen. Woher stammt die Ansteckung? Eine ruhige Woche, kaum längere Kontakte. Außer im Kindergarten. Ja, der Kindergarten ist der wahrscheinlichste Ort. Was wenig überraschend ist. Die wenigen Kontakte werden informiert. Dann beginnt das mentale Einstellen auf die nächsten Tage, die engen Räume, auf das Fernhalten der Welt.

Später mache ich einen zweiten Test. Diesmal zeichnet sich sehr schnell ein zweiter Strich ab, sehr dünn zwar, aber sichtbar. Ich recherchiere, ein wenig hoffnungsvoll noch, ob dieser dünne Strich vielleicht ein harmloses Artefakt sein könnte. Aber dünn = dick, ein positives Ergebnis muss angenommen werden. Ein Telefonat mit dem Gesundheitsamt später steht ein Termin für morgen Vormittag, ein Termin, der aller Wahrscheinlichkeit nach das positiv bestätigen wird. Unabhängig davon beginnt sie jetzt schon, die häusliche Selbstisolation.

Ansonsten: Nachdem der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis auf einer Pressekonferenz das Ende der meisten Coronamaßnahmen erklärte und [lachend] seine Maske abnahm, ist er nun infiziert. Der »Quarantäneaufschlag« bei Hotels auf Bali entpuppt sich als Touristenabzocke, Behörden sprechen von einer »Visa- und Quarantänemafia«. In sechs afrikanischen Ländern soll patentfreier mRNA-Impfstoff hergestellt werden. Gäste der Oscarverleihung Mitte März werden einen Impfnachweis sowie und zwei negative PCR-Tests vorlegen müssen.

17. Februar | Orkangleichnisse

Orkan Ylenia fegt über Deutschland, was Anlass ist für mehrere Gleichnisse; der Sturm nimmt dabei die Rolle Coronas ein. Die Sturmböen wehen mit 1-2 Knoten weniger als vorhergesagt, es wird Zeit, dass die Springer-Presse alternative Meteorologen zu Wort kommen lässt. Oder: Den Wind können wir nicht sehen. Gibt es ihn wirklich? Oder: Da ist ein Baum umgefallen. Aber er wurde nicht vom Sturm umgeweht sondern nur während des Sturms.

Und weil in einigen Bundesländern des Sturms wegen die Schulen geschlossen werden, um die Kinder zu schützen, weisen zahlreiche Gleichnisse auf den Widerspruch des Umgangs mit Schulen bei Sturm und bei Corona hin: Das ist diese Kultur der Angst. Kinder haben nunmal Risiken. Oder: Dieses Jahr ist noch kein einziges Kind wegen eines Sturmes gestorben. Zudem sind Wettervorhersagen manchmal unzuverlässig. Diese anlasslosesen Wetterprognosen und pauschalen Schulschließungen müssen sofort enden. Schulen sind aus Beton gebaut und damit sicher. Oder: Es fliegen nur Kinder weg, die schon vor dem Sturm zu leicht waren. Kinder haben schwere Schultornister und daher ein sehr geringes Risiko weg geweht zu werden. Die Schulen müssen offen bleiben.

Und so sehr die letzten Gleichnisse meine Sympathie haben und in der Sache richtig sind, gehen sie nur halb auf. Weil der Orkan eine Sache von ein, zwei Tagen ist, die Pandemie von zwei Jahren.

Ansonsten: Studie Wer geht zu den Coronademonstrationen?

16. Februar | Freedom Day

Heute Treffen der Entscheider, die Corona-Entscheidungen treffen. Nur widerstrebend, eigentlich nur für diesen Eintrag, lese ich hinein in die geplante Rücknahme der Maßnahmen, den zukünftigen Öffnungen. Nicht, weil ich diesen ablehnend gegenüberstehe, es ist eher ein persönliches, letztlich egoistisches Motiv: Ich habe nicht das Gefühl, dass sich dadurch mein Alltag erst einmal entscheidend ändern könnte; 2G, 3G, Privattreffen, Genesenenstatus, Obergrenze Privattreffen, Großveranstaltungen, Abstandsgebote, Impfnachweise, Hochrisikogebiet, Überbrückungshilfen, Homeofficepflicht.

Beschlossen wird ebenfalls: Ab dem 20. März entfallen alle »tiefergreifenden Schutzmaßnahmen«. Als Freedom Day wird dieser 20. März, ein Sonntag, betitelt, und dieses Framing stößt mich bei aller Freude über das Ende der Pandemie in vier Wochen bei näherer Betrachtung dann doch einigermaßen ab.

Ansonsten: Als österreichischer Freedom Day wird der 5. März beschlossen, ebenso wie das Aussetzen der eben erst eingeführten Impfpflicht in Aussicht gestellt. Pandemie der Gewalt.

15. Februar | OmikronPingPong im Kindergarten

Ein Gegenentwurf zu den Worten der letzten Einträge, von wegen geschafft und Aufbruchsstimmung. Im Kindergarten heute die Nachricht, dass auch in der verbliebenen Gruppe ein Fall »wahrscheinlich« sei, morgen komme die Information, ob die Gruppe für eine Woche geschlossen werde, morgen, wenn die anderen Gruppen sich freitesten können.

Ein nahtloses Anschließen der Verdachtsquarantänen, ein Ineinandergreifen der Ausfälle, ein Omikronpingpong, nun in der dritten Woche. Umdisponieren, organisieren, eigentlich bei Quarantäne kein Spielraum fürs Organisieren außer alles Geplante verwerfen. In den Elterngruppen volle Aufregung, die Kindergärtnerinnen am Limit, viel Kommunikation, viel zu viel Kommunikation, Entscheidungen treffen, zum Teil mehrmals am Tag Informationen, die neuer Entscheidungen bedürfen, das Abwägen zwischen Sorge und Alltag, auch die offensichtlichen Widersprüche: Wenn ich heute von dem Fall höre und morgen erst die Entscheidung kommt, wäre es nicht vernünftig, das Kind schon heute aus der Gruppe zu nehmen? Wenn das Geschwisterkind in Quarantäne ist, müsste das andere Kind nicht auch zuhause bleiben? Die Antworten auf diese Fragen sind eindeutig. Und doch handeln die meisten Eltern so, dass ein zusätzlicher Tag herausspringt. Weil zu viele Tage in den letzten beiden Jahren geschlossen waren.

Für die morgige Freitestung hat der Kindergarten eine Testung im Kindergarten organisiert; fast 50 Kinder von 8.00 – 11.40 Uhr im 5-Minuten-Takt testen. Anschließend könnte der Betrieb weitergehen, wenn nicht über die Hälfte der Betreuerinnen fehlen würde; krankheitsbedingt, in Quarantäne, Kinder in Quarantäne, Kur. Deshalb schreibt der Kindergarten, dass nur mit geringer Kinderzahl die Betreuung aufrechterhalten werden könne und appelliert an alle Eltern, nach Alternativen zu suchen. Und fügt, spieltheoretisch geschickt hinzu, dass der gesamte Ü3-Bereich schließen müsse, falls das nicht gelinge. In den Elterngruppen dann die, die von »frech« sprechen und sofort rufen, dass sie unter keinen Umständen eine Alternative finden können, des unnachgiebigen Arbeitgebers wegen. Und solche, die überlegen, was gehen könnte, die nachfragen, und schauen.

Und natürlich sind alle unter Druck und jeder hat zwei Jahre Pandemie hinter sich und Verständnis ist da für jedes Gefrustetsein und trotzdem schaut man hin, wer für sich ruft und wer nach anderen schaut und trotzdem denke ich, es liegt nicht an den Eltern, es liegt am ewigen PingPong, liegt an den Arbeitgebern, liegt an Kommunikation, daran, welche Bedeutung diese Einrichtungen innerhalb der Pandemie zugewiesen wird. Und am Ende klappt alles irgendwie, Kinder werden im Kindergarten betreut und noch mehr zuhause, irgendwie findet sich ein Weg, zumeist durch Verzicht, aber das kann doch kein Zustand für länger sein.

Es ist nicht so, dass ich es nicht verstehen würde. Eine offensive Durchseuchung, wer will das schon. Und im Kindergarten – anders als in Schulen – spielen Masken oder Sitznachbarn keine Rolle. Die Enge des Miteinanderspielens macht eine Übertragung in einer Gruppe wahrscheinlicher als sonstwo. Die Quarantäne ist angemessen. Und zugleich nicht. Diese Verdachtsquarantänen, die sieben Tage andauern, sie zerren an allen möglichen Enden des Lebens, das man sich ja irgendwie zurechtgelegt hat. Zerren am Miteinander von Eltern, Kindern, Kindergarten, machen die Kindergärtnerinnen müde, die Eltern müde, die Kinder müde, alle verärgert, alle unter ständiger Anspannung, auch wütend, unklar, wogegen sich diese Wut richtet.

Das sind Fragen, die von außen gar nicht mal so bedeutsam scheinen, dann ist das eben ein paar Wochen so, haben wir alle hinter uns. Aber ein nagendes Gefühl von Ungerechtigkeit schwingt mit, hier die Verdachtsquarantänen, lauter Lockdowns, während draußen schon die Freedom Days verkündet werden.

Ansonsten: Beim Treffen mit Wladimir Putin lehnt Bundeskanzler Scholz einen durch russische Beamte durchgeführten PCR-Test statt, das Gespräch findet deshalb an einem sehr langen Tisch statt. Gegen die Truckerproteste wendet der kanadische Premier Notstandsbefugnisse an. Erstmals seit Jahresbeginn ist die Zahl der durchgeführten PCR-Tests rückläufig. Der Gesundheitsminister hält den Höhepunkt der Omikron-Welle für überschritten. Der Arbeitgeberpräsident fordert einen »Öffnungs-Booster«. Der Tennisspieler Novak Djoković erklärt, keine Grand-Slam-Turniere mehr spielen zu wollen, wenn er dafür geimpft sein muss. Um die Proteste gegen Coronamaßnahmen vor dem Parlament in Neuseeland zu zerstreuen, werden Lieder von James Blunt gespielt.

14. Februar | Angst X

Ein alter Mann hinkt die Schillerstraße entlang. Auf seinem Rollator hat er einen Kassettenrekorder platziert, darauf spielt er Heavy Metal der 1970er Jahre, so laut, dass die Gitarren vom Denkmal bis zum Markt zu hören sind. Gegen die Fassade des Hauses der Weimarer Republik gelehnt sitzen etwa zwanzig Studentinnen in der Sonne und knabbern an Süßkartoffelpommes von Fritz Mitte. Vor den Eiscafés Schlangen, auf den Wiesen im Park ausgebreitete Picknickdecken, die Temperatur leckt an kühlen zehn Grad. Der 14. Februar fühlt sich an wie Apriltag ohne Pandemie, Aufbruchstimmung, ein Abschütteln der letzten beiden Wellen. Nur im Kindergarten wird gebeten, trotz der Freitestung Mitte der Woche die Kinder bis Ende der Woche nach Möglichkeit zuhause zu lassen, weil die Mehrzahl der Erzieherinnen ausfällt.

Trotz des letzten Satzes eine wenig originelle Beobachtung: Corona hat seinen/ihren Schrecken verloren. Neun Einträge habe ich im Laufe von zwei Jahren über die Angst vor dem Virus verfasst. Der zehnte (und letzte Eintrag zur Angst) erzählt davon, wie durch die Impfung, mehr noch aufgrund der »milden« Mutante Omikron kollektiv die Angst geschwunden ist. Man steckt sich an, ist schlimmstenfalls etwas krank, dann geht es weiter. Corona ist Grippe geworden, das ist der Tenor der Tage. Wenn jemand, den ich kenne, sich infiziert – und das sind etliche in den letzten Wochen – dann bange ich nicht. Dann wünsche ich den kolportierten milden Verlauf und denke, neidisch insgeheim, dass genesen den Verzicht auf die lästige Quarantäne bedeutet.

Corona ist ein unvermeidliches Ereignis geworden, das nervt, aber keine Beklemmung auslöst, damit in Widerspruch steht zu dem, was lange Zeit die Vorstellung vom Virus geprägt hat. Der Paradigmenwechsel fand gleitend statt, die Gedanken haben sich unmerklich umgedreht, die Angst hat sich verwandelt in ein Schulterzucken. Ob es davon eine Rückkehr geben kann, sofern Mutanten entstehen, die weiter voranschreiten im griechischen Alphabet, Mutanten gegen den Impfstoff?

All diese Worte über die abgeschüttelte Angst, die bestenfalls noch leichte Sorge ist, trifft nicht zu auf jene, die seit zwei Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung kaum stattfanden; die Schattenfamilien, die mit dem Risiko, jene, bei denen der Impfstoff keine Antikörper hervorbringt, die mit den verschobenen Operationen, jene, die täglich arbeiten im Kontakt mit dem Virus. Die geschwundene Angst ist für die Mehrheit, die draußen auf den Straßen, in der Sonne, uns, die wir irritiert die Metalgitarren in der Schillerstraße hören.

Ansonsten: Blockaden mit Fahrzeugen und Fahrzeugkonvois aus Protest gegen Coronamaßnahmen in verschiedenen Ländern.

13. Februar | wie viele Leben wir uns leisten können

Wie viele Coronatote können wir uns leisten, ist eine diskutierte Frage dieser Tage. Der Gesundheitsminister schreibt in einem vielbeachteten, mittlerweile gelöschten Tweet von einer vertretbaren Bilanz an Sterbefällen. Es wird gerechnet, aktuell 174 Coronatote im 7-Tages-Mittel, Tendenz wieder leicht steigend, gerechnet, etwa 2700 Menschen sterben pro Tag in Deutschland, wie nehmen sich da die 144 160 168 174 Coronatoten aus, die Coronatoten werden gerechnet gegen die anderen Toten gerechnet gegen die Infektionszahlen gerechnet gegen die Maßnahmen, die Toten sind Argument dafür, dass Omikron mild ist, die Toten sind Argument für Lockerungen.

Die toten Kinder werden ebenfalls gerechnet. Als Entgegnung auf eine Feststellung, dass bisher in Deutschland 65 Kinder an Covid-19 starben, mehr als die Hälfte davon in letzten 4 Monaten, 17 tote Kinder in den letzten 4 Wochen, schreibt die christlich-demokratische Bildungsministerin Schleswig-Holsteins in einem vielbeachteten, mittlerweile gelöschten Tweet: »Bitte differenzieren: Kinder sterben. Das ist extrem tragisch. Aber sie sterben mit COVID_19 und nur extrem selten wegen COVID_19.«

Es sind Rechnungen. Es sind Fragen. Wie viele tote Kinder über welchen Zeitraum wären nicht mehr extrem selten? Wie viele tote Kinder wären nicht mehr tragisch, sondern würden ein anderes Handeln erfordern? 20 in 4 Wochen? 40? 100? Wie wären 100 an Covid 19 gestorbene Kinder zu bezeichnen? Welche Rolle spielen Vorerkrankungen bei der Erfassung der Zahlen? Sollten die vorerkrankten toten Kinder aus der Rechnung herausgenommen werden, weil Vorerkrankungen anders zählen und damit die Rechnung verfälschen? Wie werden die toten Kinder ins Verhältnis gesetzt zu den Kindern, die aufgrund der Maßnahmen psychisch erkranken, die Suizid begehen? Wie viele Coronatote pro Tag würden welche Maßnahmen wie verschärfen lassen? Wie lockern lassen? Sollte bei 100 Toten die Maskenpflicht fallen? Ab welcher Todeszahl gilt die jeweils aktuelle Mutante als »mild«? Wie muss für diese Beurteilung die Infiziertenzahlen ins Verhältnis gesetzt werden? Wie nimmt sich die aktuelle Zahl 175 Coronatote zu den Extremwerten aus; 0 Coronatote im 7-Tages-Mittel am 13. Februar 2020, 896 Coronatote im 7-Tages-Mittel am 13. Januar 2021? Wie viele Coronatote bedeuten die Rückkehr zur Normalität? Wie viele Coronatote sind normal?

Die Gesellschaft rechnet. Die Toten sind ein Element von vielen in dieser Gesellschaft; die Toten im Straßenverkehr, die Grippetoten, die Toten durch multiresistente Keime. Die Coronatoten sind ein weiteres Element in der Gesellschaft. Wir rechnen sie. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie wir dabei auf ein Ergebnis kommen. Wie wir was gegeneinander abwägen, ausloten, überschlagen, erachten. Wie der Entscheidungsfindungsprozess verläuft; bei den Entscheidern, bei den Vermittlern, bei uns allen. Irgendwie müssen die Rechnungen ja ablaufen. Irgendwie bilden wir uns alle ja eine Meinung zu den Zahlen, leiten daraus eine Haltung zu mild, keine Gefahr für Kinder, Präsenzunterricht, Öffnungen, das normale Leben ab. Irgendwie kommen anhand der Zahlen Entscheidungen zustande, die von vielen getragen werden. Wie rechnen wir? Das ist keine Frage, die in diesem Eintrag nur moralisch gemeint ist, sondern auch: Wie funktioniert das in diesem konkreten Fall? Wie leisten wir uns die Leben, leisten uns die Toten, leisten uns die toten Kinder?

Ansonsten: Alexander Gauland kann wegen eines nicht anerkannten Tests nicht an der Wahl des Bundespräsidenten teilnehmen. Wie im Jahr zuvor zahlt NRW seinen Karnevalsvereinen 50 Millionen Euro Coronahilfen. Nur noch wenige Coronafälle bei den Olympischen Spielen.

12. Februar | Ukraine

Kann es sein, dass die Diskussion über den prognostizierten Angriff Russlands auf die Ukraine gleichzieht mit den Diskussionen über Coronamaßnahmen, was Intensität der Diskussion angeht, auch der Absolutheit der Meinungen? Jedenfalls erhält die Krise in Osteuropa einen eigenen Newsticker, so, wie es ihn für die Pandemie seit zwei Jahren gibt.

11. Februar | innere Endemie

Ich lese den Begriff »innere Endemie«. Das beschreibt den Zustand, sich so zu verhalten, als wäre die Pandemie vorbei und die Maßnahmen deshalb minimalkonform einhält.

Diese innere Endemie, so scheint mir, ist der Zustand dieser Tage. Jene, die sich zwei Jahre mehr und minder den Regeln entsprechend verhielten, entscheiden nun, dass die Bedrohungslage nicht mehr wie bisher gegeben ist. Bei den allermeisten Geimpften ist die Wahrscheinlichkeit des Allerschlimmsten gering. Das Risiko wird gegen den Überdruss des pandemischen Verzichts gestellt. Der Überdruss gewinnt, er soll enden.

Die Haltung: Wer geimpft ist, ist in keiner großen Gefahr. Wer ungeimpft ist, begibt sich eigenverantwortlich in Gefahr, Rücksicht muss darauf nicht genommen werden. Also wird umarmt, die Maske abgelegt, sich getroffen. Die Infektionszahlen, welche Extremwerte sollen sie noch annehmen, damit ich sie überhaupt noch wahrnehme. Die anderen Zahlen bleiben beruhigend flach, zumindest bis gestern.

Mit der inneren Endemie kehrt der Alltag zurück, das Ausgehen, das Besondere. Die Entscheidung dazu treffen viele vielleicht gerade, oder sind im Begriff, das zu tun, entgegen der aktuellen Maßnahmen. Die Regeln stehen der inneren Endemie entgegen, sie wirken umständlich, nicht mehr der Zeit gerecht, hecheln der Gegenwart zwei Monate hinterher. Eine kollektive Abstimmung über den Umgang mit Corona findet statt, der Blick geht in die anderen Länder, wo innen mittlerweile außen ist.

Befinde ich mich in diesem Zustand? Bin ich längst in dieser inneren Endemie angelangt? Nein, ja, schon, sicher, manchmal. Ich würde es gern sein, ich bin es. Heute kam die PCR-Bestätigung des positiven Falls im Kindergarten, die Quarantäne für die nächste Woche damit festgezurrt. So ganz fehlerfrei funktioniert die innere Endemie dann doch nicht, solange außen die Pandemie noch tobt.

Ansonsten: Als Begriff dafür, dass die Omikronwelle in wenigen Tagen ihren Höhepunkt überschreiten werde, wird »scheiteln« verwendet, Omikron scheitelt. Long Covid ist aktuell die Hauptursache für die langfristige Abwesenheit vom Arbeitsplatz in UK. 12 Millionen Infizierte in Deutschland, die 12. Million wurde innerhalb von 5 Tagen erreicht. Angesichts der hohen Infektionszahlen erwägt NRW das Einstellen des Zählens der Infektionszahlen. Für die kommende Spargelernte setzen die Spargelbauern auf die Arbeitsquarantäne; die Arbeiter dürfen die Unterkunft nicht verlassen, aber arbeiten. Das Bundesverfassungsgericht bestätigt die Impfpflicht im Gesundheitswesen. Frankreich und Italien locken die Maskenpflicht. Um den korrekten Sitz von Masken zu gewährleisten, verbietet die Universitätsmedizin Greifswald das Tragen von Vollbärten. »Aus der Vergangenheit wüsste ich nicht, dass sich das Landeskriminalamt mit der Sicherheit des Ethikrates hätte beschäftigen müssen.«

10. Februar | wäre gewesen

Es wäre ein anderer Eintrag gewesen, heute, wenn nicht am Abend die Nachricht aus dem Kindergarten gekommen wäre; mehrere positive Fälle, zum Teil bestätigt, zum Teil mit »großer Wahrscheinlichkeit«, positive Geschwisterkinder etc. Jedenfalls Quarantäne bis nächsten Freitag, Möglichkeit zum Freitesten im Laufe der nächsten Woche. So wären die Tage gewesen, nun sind sie anders. In Weimar bewegt sich die Inzidenz auf die 1000 zu, bei den Ansteckungsursachen werden größtenteils Schulen und Kindergärten genannt, wo auch sonst.

9. Februar | die Pflicht

Nachdem Bayern die Impfpflicht für den Pflegebereich aussetzt, zieht Sachsen nach. Damit ist die eingeschränkte und vermutlich ebenfalls die allgemeine Impfpflicht passé. Und auch wenn ich weiß, von welcher Bedeutung die Impfung ist und die sogenannte »Impflücke« nicht klein genug sein kann, schreibe ich, dass alles seine Zeit hat, auch die Impfpflicht, und sich dieses Fenster gerade schließt, längst geschlossen ist.

Passenderweise hätte die Impfpflicht im letzten Sommer entschieden werden müssen, so, dass sie gegen Ende 2021 umgesetzt worden wäre, heute so gut wie alle geimpft sein müssen. Doch letzten Sommer glaubten wir, zwei Impfungen wären die Impfung und die Impflücke würde sich schon irgendwie schließen und Bundestagswahlkampf war und Omikron ein Buchstabe im griechischen Alphabet. Wäre da Platz gewesen für einen solchen Beschluss.

Durch Omikron haben sich die so lange gültigen Argumente für eine Pflicht verschoben und aufgehoben; die Impfung schützt nicht mehr sich und andere deutlich vor einer Infektion, die Überlastung des Gesundheitswesens findet nicht in dem Maße statt wie befürchtet, ich setze immer noch ein bisher zwischen findet und nicht. Was nicht bedeutet, dass die Impfung aller nicht notwendig und verantwortungsvoll und vernünftig und solidarisch ist.

Aber die Diskussion muss anders geführt werden als vor zwei Monaten und das betrifft auch das Gespräch über die Pflicht. Neben der konkreten Umsetzung steht die Frage, ob eine Pflicht gesellschaftlich zu erklären wäre in Zeiten der vergleichsweise niedrigen Zahlen, mit Blick auf das, was eine Impfung bei Omikron nicht zu leisten vermag. Ob die durch eine Durchsetzung der Pflicht entstehenden gesellschaftlichen Verwerfungen den Nutzen aufwiegen würden.

Und ich hasse es, diesen letzten Satz zu schreiben, weil er feige ist, eine Relativierung ist, ein gefühltes Zurück- und Aufweichen, ein unpassendes Gleichsetzen, als ob es von Bedeutung ist, ob die Montagsfackelträgerinnen gepleast werden, weil das wollen sie ja ohnehin nicht. Aber bei aller Sinnhaftigkeit und bei allem gesellschaftlichen Gewinn durch eine Impfung aller – das Fenster für die Pflicht scheint geschlossen.

Und vielleicht sieht es in einigen Wochen, Monaten, im nächsten Herbst wieder anders aus, die Mutante mit dem nächsten Buchstaben, deren Übertragung durch die 3-fach-Impfung zuverlässig verhindert wird, eine Mutante, die besonders bei Ungeimpften wütet, dann, wenn man sich wünschte, dass man damals in der Karnevalszeit 2022 die Pflicht durchgesetzt hätte.

Ansonsten: Zum dritten Mal fällt die Leipziger Buchmesse wegen Corona aus. Die kanadischen Truckerfahrer, die gegen die Maßnahmen protestieren, blockieren eine Brücke zu Amerika. In mehreren Ländern wird zu ähnlichen Protesten aufgerufen; in Frankreich zu sogenannten »Freiheitskonvois«, in Wien soll mit einem »Autokorso« mehrere Tage lang der Stadtring lahmgelegt werden. New York hebt die Maskenpflicht in den meisten geschlossenen Räumen auf. Über 3000 Coronatote in den USA.

https://twitter.com/hmmm_bot/status/1487893917379014661

8. Februar | Urlaub

Im Freundes- und Bekanntenkreis momentan eine auffällige Häufung von gerade absolvierten, gebuchten und geplanten Urlaubsreisen, auch weit weg. Und klar, ich kanns verstehen, ich will ja auch weg, sehr weit weg. Und klar, es scheint immer noch seltsam, inmitten einer globalen Krise am Strand liegen zu wollen und natürlich kann man während einer Pandemie an keinem Ort der Welt der Pandemie entfliehen, das liegt in der Natur der Sache. Aber es gibt eben die Orte, wo die Pandemie gerade weniger ist als hier und um ehrlich zu sein, fühlt sich die Pandemie auch hier nicht auf die gleiche Weise an wie eine Pandemie beispielsweise im Dezember 2020.

Das sollte der Rest von 2022 sein: Woanders hin, als man zwei Jahre lang war, andere Himmel, andere Wege, andere Blicke, den verschwundenen Horizont zurückgewinnen.

7. Februar | gerade ertragen

Ertrage die Diskussionen über Lockerungen nicht, ertrage die Vergleiche mit Dänemark nicht, ertrage nicht die Vorstellung, in den nächsten Tagen womöglich in Quarantäne zu müssen, nicht den Gedanken, dass ich mich infiziere oder meine Kinder. Ertrage nicht den Hashtag DerTestMussWeg. Ertrage den Gedanken nicht, dass es so bis Ostern weitergehen sollte. Ertrage es nicht, wenn Politiker süffisant fordern, den nächsten Schritt zu gehen. Ertrage es nicht, wenn ich stehenbleibe. Ertrage die Situation an Schulen nicht. Nicht in Kindergärten und wie das hingenommen wird. Ertrage nicht die Forderung danach, zurück zu einem »normalen Leben« zu kommen, was ist normal, war es das jemals. Ertrage nicht das Frohlocken jener, die immer gegen jede Maßnahme waren und nun das Zurücknehmen der Maßnahmen als Beweis für die Wahrhaftigkeit ihres Verhaltens sehen. Ertrage nicht die Strukturen, die einfach weiter machen wie bisher, weil so eben die Strukturen sind. Ertrage nicht das Besserwissen, wie man früher alles hätte anders machen müssen. Ertrage es nicht, dass »wir« die Impfkampagne nicht »auf Schiene« bekommen. Ertrage die dummdreisten Fackeln auf den Montagsmärschen nicht mehr. Ertrage es nicht, Ambivalenzen zu diskutieren; Bayern erklärt, die Impfpflicht für den Pflegebereich nicht umzusetzen und erklärt damit das gleiche, was der Landrat in Bautzen vor zwei Wochen vor Querdenkerinnen erklärte; was unterscheidet beide Absichtserklärungen, das wäre Aufgabe dieses Eintrags zu fragen, ich ertrage es nicht. Ganz grundsätzlich ertrage ich keine Gedanken über die Pandemie mehr, nicht diese Coronamonate ertrage ich gerade.

Ansonsten: Beim Eishockey-Vorrundenspiel Kanada gegen Russland in Peking tragen wegen mehrerer Coronafälle in der russischen Mannschaft die Spielerinnen während des Spiels Masken unter den Helmen. Israel streicht Pflicht zum Grünen Pass, den Nachweis für Geimpfte und Genesene, weitgehend. Bei der Einreise nach Griechenland und Portugal müssen Geimpfte keinen Test mehr vorzeigen. Laut eines Familiengerichts in Niedersachsen liegt die Entscheidung über die Impfung der eigenen Kinder bei dem Elternteil, das den Vorgaben der STIKO folgt. Aufgrund der anhaltenden Demonstrationen gegen die Maßnahmen durch Truckfahrer erklärt der Bürgermeister von Ottawa den Notstand aus. Seit Jahresbeginn wurde in Deutschland jedes zehnte Kind zwischen 5-14 Jahre infiziert.

6. Februar | Freiheit

Das Thema der morgigen Ausgabe von Hart aber fair lautet: »Wann kommt die Zeit, von Corona loszulassen?« und mich schaudert ein wenig bei dem möglichen Gesprächsverlauf, dem Auftrumpfen und vehementen Einfordern, dem Fallenlassen und Zurücknehmen und Vergessen. Dabei ist dieser Talk notwendig, gerade für Menschen wie mich eine der großen Aufgaben der nächsten Zeit: Wie lasse ich von Corona locker.

Marius Müller-Westernhagen stellt auf Instagram ein Foto ein, das ihn während des Impfens zeigt. Dazu schreibt er ein Wort: Freiheit. Foto und besonders Wort erfahren große Aufmerksamkeit. Es ist auch interessant. Westernhagen hält mit seiner Liveversion von Freiheit so etwas wie die emotionale Deutungshoheit über den Begriff inne. Das Lied wird auf den Querdenken-Demonstrationen gespielt, dort, wo Frieden, Freiheit, keine Diktatur erschallt.

Indem er sich nun positioniert, viel mehr noch, indem er das Wort Freiheit in einem anderen Zusammenhang stellt, deutet er es um. Er sagt: Freiheit bedeutet nicht, keine Maske zu tragen. Freiheit ist nicht, das eigene Befinden über alles andere zu stellen. Freiheit entsteht erst dadurch, indem man Verantwortung übernimmt, eine Entscheidung trifft für sich und andere. Erst wenn sehr viele diese Verpflichtung erfüllen, kann es Freiheit geben. Freiheit bedeutet bei ihm in diesem Fall nicht, frei von Staat und der Gesellschaft zu sein, sondern frei vom Virus.

Ansonsten: Laut Bundeskanzler ist Deutschland gegenwärtig gerade das erfolgreichste Land in Europa in der Frage des Umgangs mit der Pandemie. Jeder vierte deutsche Betrieb bewertet seine aktuellen Personalausfälle als »erheblich«. In Österreich tritt die Impfpflicht in Kraft. Mehr als 900.000 Coronatote in den USA.

4. Februar | ants from up there

Ich höre Ants From Up There, das neue Album von Black Country, New Road. Der Platte liegt ein Booklet bei. Darin stehen die Lyrics, daneben jeweils ein schwarzweißes Foto, das während der Aufnahmezeit entstanden ist, Sommer 2021. Neben dem Bread Song ein Bild, zwei Bandmitglieder auf der Isle of Wight. Sie blicken in die Kamera, heben ihre Hände, unter ihrem Kinn jeweils eine heruntergezogene OP-Maske.

Ich schaue auf dieses Detail, es beschäftigt mich, es wirft mich um. Eine Art Melancholie erfasst mich. Die Fotos zeigen eine nahe Gegenwart, die Musik erzählt davon und von Erinnerungen. Eine Erinnerung an gerade eben; die Maske, heruntergezogen, war Teil dieser Gegenwart, beiläufiges Accessoires, leichthin und zufällig wie eine in die Haare geschobene Sonnenbrille, eine über die Schulter getragene Gürteltasche, Armbanduhr, Schnurrbart, ein geflochtener Zopf, die Zigarettenschachtel in der Hosentasche, ein zu großer Ohrring, Baseballcap, ein angeschnittener Kuchen, ein erhobenes Weinglas, ein Strauß Blumen, der Blick in den Augen, den du nur mit den Menschen teilst, von denen du weißt, dass sie der Grund sind, dass du dich immer an diesen einen Sommer erinnern wirst.

Dazwischen diese unter das Kinn gezogenen Masken, die Gegenwart, die Erinnerung, immer dieser Sommer, immer diese zwei Jahre, gekrallt von den Fotos, die der Zeit den Moment abtrotzen und einschreiben, auf immer unter das Kinn gezogen, diese Zeit, das ist die Melancholie, die Gegenwart, die gerade nicht vergehen will und für immer Erinnerung sein will, Ants From Up There

3. Februar | freitesten

Der Kindergarten hat morgendliche Tests für alle Kinder jener Gruppen organisiert, in denen letzte Woche ein positiver Fall auftrat. Wer heute erfolgreich freigetestet wird, kann heute schon die Quarantäne verlassen und wieder den Kindergarten besuchen.

So erscheinen ab 8.30 Uhr in leicht zeitlich versetzter Folge Eltern mit ihren Kleinkindern im Weimarer Testzentrum am Mark, das offiziell erst zehn Uhr öffnet. Im Informationsschreiben ist der Test als nasaler Test angekündigt. Wie sich das wohl durchführen lassen wird, die Kinder und ihre Nasen sind klein und zart.

Die freundliche Ausführende verwendet das Stäbchen sacht und kurz in Nase und Mund. In meinem Kopf blitzt die Erinnerung an die Erklärvideos über die korrekte und damit wirkungsvolle Durchführung von Stäbchentest auf, dazu die Frage, wie aussagekräftig dieses Ergebnis sein wird. Aber im Prinzip sind wir Eltern dankbar, dass hier keine Schmerzen verursacht werden. Auf das Antigentestgehäuse wird die Uhrzeit geschrieben, zu der man den Test vorzeigen soll. 15 Minuten warten, bei den meisten ist schnell klar, dass es bei einem Strich bleiben wird. 8:59 Uhr zeige ich vor, erhalte ein offizielles Schreiben, welches das negative Kind bestätigt, das damit freigetestet ist.

Ansonsten: Die STIKO empfiehlt den proteinbasierten Impfstoff Novavax. 40 Prozent der Deutschen haben während der Pandemie fünf bis sechs Kilo im Durchschnitt zugenommen, besonders Kartoffeln und Nudeln waren beliebt, Ernährungsberater sprechen von einem Kohlenhydrate-Overload. Ein offener Brief von Schülervertreterinnen wirft der Politik vor, die Schülerinnen im Stich zu lassen. Mehrere Strafanzeigen gegen Björn Höcke, nachdem dieser in einer Rede im Thüringer Landtag die Coronaimpfung mit dem Holocaust verglichen hat.

2. Februar | was

Es fällt mir schwer, diese Tage mit eindeutiger Zuordnung zu versehen, fast so, als habe ich etwas verloren, was ich die gesamten Coronamonate über besaß: eine klare Haltung zum Umgang mit dem Virus.

Das, was Aufgabe in der Pandemie war – die besonders Gefährdeten zu schützen, eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden – scheint, wenn ich auf die aktuellen Zahlen schaue, momentan trotz gewaltiger Ansteckungsrate zu gelingen. Dennoch widerstrebt es mir zutiefst, die aktuelle Situation gut zu finden, gut zu heißen, was geschieht. Und das liegt nicht einmal an den Warnungen – dass die Überlastung komme, wenn die Infektionen im gleichen Maß steigen – nicht an den Berichten aus den Schulen, den Umgang mit den Kindern. Ein grundsätzliches Empfinden seit fast zwei Jahren, wie kann es gut sein, wenn das Virus sich verbreitet? Mein Kopf sagt, dass die Lage unter den Umständen zu akzeptieren ist, mein Bauch fühlt das Gegenteil, irgendwo dazwischen schreibe ich diesen Eintrag und die in den Tagen zuvor.

Vor ein paar Tagen bei Freunden. Sie haben ein Kind, das in die Kategorie besonders gefährdet fällt. Sie erzählen, wie sie damals im März 2020, als so wenig über Covid bekannt war, eine große Sauerstoffflasche kauften und in der Wohnung aufstellten, um für den Fall der Fälle vorbereitet zu sein. Ein anderes Kind, ebenfalls besonders gefährdet, fehlt seit Mitte Dezember im Kindergarten. Die Eltern haben es vorsorglich aus der Gruppe genommen. Daran muss ich denken, wenn ich die Zahlen sehe, wenn ich schreibe, dass die Lage unter den Umständen zu akzeptieren ist.

Ansonsten: Biontech beantragt in den USA die Notfallzulassung eines Coronaimpfstoffs für Kinder unter fünf Jahren. Knapp 210.000 Neuinfektionen, insgesamt hat sich jeder 8. Deutsche mindestens einmal infiziert. Karl Lauterbach bietet Joshua Kimmich an, ihn selbst gegen Corona zu impfen. Mehrere Länder kündigen an, ihre Maßnahmen zurückzunehmen.

1. Februar | das Verschwinden von Olaf Scholz

Das aktuelle Meme ist das Verschwinden von Olaf Scholz. »”Herr Scholz, können Sie diese Lücken in Ihrem Lebenslauf erklären?” “Ah, da war ich Bundeskanzler!”«. Oder: »Jemand muss Olaf Scholz sagen, dass er auf mute geschaltet ist.« Oder: »Werden wir zuerst erfahren wer Bansky ist oder wo Olaf Scholz sich versteckt?« Oder: »Hört auf, Olaf-Scholz-Abwesenheitsmemes zu machen. Das ist respektlos. Olaf Scholz schläft unter einem Berg und wird zurückkehren, wenn das Land ihn am meisten braucht!« Oder: »Olaf Scholz ist der ideale Baumarkt-Mitarbeiter.« Oder: »Olaf Scholz ist das Bielefeld der Bundeskanzler. Viele Deutsche rätseln, ob er wirklich existiert.« Oder: »Olaf Scholz ghostet Deutschland.« Oder: »Und dieser Bundeskanzler, von dem Sie seit Wochen in unseren Therapiestunden erzählen, dieser Olaf Scholz, wie Sie ihn nennen, ist der jetzt in diesem Raum?« Oder: »Zu euren Olaf-Scholz-Witzen kann ich nur sagen: Man lästert nicht über Leute, die nicht da sind.«

Grund aller Pointen der Eindruck, dass sich der Bundeskanzler nicht zur Omikronwelle verhält: keine Linie, kaum Ansagen, kein Einordnen, ein Wegtauchen und Durchwinken der Gegenwart. Mit dem Kanzler wird auch die gesamte, neu gewählte Regierung gemeint. Sie lässt die Welle laufen, die Entscheidungen erscheinen sprunghaft, willkürlich, wenig transparent, es sind Maßnahmen, die nicht die Absicht haben, die Welle ernsthaft zu unterbinden.

Eine Menge Enttäuschung schwingt in den Pointen mit. Über den Gesundheitsminister, der, bevor er das Amt antrat, Mahner war und nun im bürokratischen Klein-Klein verschwindet. Über den wissenschaftlichen Beirat, der wenig Raum bekommt oder sich nimmt. Das vermittelte Bild ist, dass alle unausgesprochen das Durchlaufen des Virus befürworten, deshalb verschwinden.

Kann es offen ausgesprochen werden, dass die Durchseuchung / das Gewährenlassen des Virus nun offizielle deutsche Pandemiestrategie ist? Was geschähe, wenn Olaf Scholz erklärte, dass der gesellschaftliche Einsatz für eine effiziente Eindämmung der Omikronvariante zu hoch sei und es deshalb der bessere Weg sei, die den aktuellen Zahlen nach ungefährlichere Mutante durchlaufen zu lassen? Was für eine öffentliche Diskussion würde entstehen, wer würde sich auf die Seite welches Argument schlagen, wer würde frohlocken, wer wäre entmutigt, wer wütend? Wäre nach zwei Jahren eine rationale Diskussion darüber möglich? Müsste sie nicht möglich sein, gerade in diesen Wochen voller Fragen, die viele Gewissheiten auf den Kopf stellen? Ist das Wegtauchen und damit das Vermeiden des Aussprechens des Offensichtlichen in dieser Situation die gangbarste Kommunikation?

Ansonsten: Bei einer Inzidenz von über 5000 hebt Dänemark von heute an alle Coronamaßnahmen auf. Laut WHO entstanden bisher in der Pandemie weltweit mehr als 200.000 Tonnen medizinischen Abfalls. Fachverbände gehen davon aus, dass die Impfpflicht im Gesundheitssektor nicht kontrolliert werden kann. Die Positivrate aller PCR-Test der letzten Wochen liegt bei 41%. Das von der Bundesregierung ausgegebene Ziel von 80% Geimpfter bis Ende Januar wurde um 5% verfehlt. Boostern wird zum Anglizismus des Jahres 2021 gekürt.

31. Januar | Bad News Overkill

Im Kindergarten heute ein Omikronfall. So beginnen die Informationen, das Gehörte, das Aufgeschnappte und Gewhatsappte zu fließen und sich zu dutzenden Fragen aufzutürmen: Welche Gruppe? Welche Gruppe noch? Wer hatte Kontakt zu wem? Wann wurde schnellgetestet? Wann mit PCR? Welche Kinder waren am Schnelltesttag in der Gruppe? Welche Erzieherinnen? Wo waren Kinder und Erzieherinnen später? Wann kommt der Anruf vom Gesundheitsamt mit den weiteren Anweisungen? Was sagen diese Anweisungen? Welche Gruppe wird geschlossen? Wie lange? Bedeutet das Quarantäne? Was ist mit möglichen Geschwisterkindern in anderen Gruppen? Bleiben die auch zuhause? Was ist mit den Elternteilen, geimpft, geboostert? Gibt es ungeimpfte Erzieherinnen? Wann endet eine mögliche Quarantäne? Kann man sich freitesten? Werden Einjährige überhaupt getestet?

Lauter Fragen praktischer Art, weil an den Antworten die nächsten Tage, die Woche, alle Pläne hängen, auch die Sorgen. Das Hypothetische, das Wahrscheinliche wird allmählich Realität, gießt sich in den Februaranfang.

Darüber hinaus lese ich von einer dänischen Studie, die Long Covid bei Kindern beschreibt. Lese von der Omikron-Variante BA.2, die noch ansteckender ist und den Immunschutz noch gewissenhafter umgeht. Lese, dass nach Omikron durchaus wieder das gefährlichere Delta kommen könnte. Lese über die Endemie: a disease can be endemic and both widespread and deadly. Und das reicht dann mal an schlechten Nachrichten für einen Tag und ich klappe das Ansonsten zu.

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Und dann lese ich doch weiter. Einen interessanten Thread darüber, wie wenig hilfreich das Aussprechen schrecklicher Wahrheiten ist, wenn es allein dazu dient, Fatalismus zu zelebrieren, und ob es nicht sinnvoll wäre zu fragen, wie das Schlimme als Chance für eine Veränderung hin zum Besseren formuliert werden könnte. Und das könnte ja ein Vorsatz für den Februar sein.

30. Januar | auf dem Hof einer Klinik

Vor einigen Tagen eine Diskussion über die Spaziergänge geführt. Mein Gegenüber verurteilt die Gewalt und Ausschreitungen, das Feindliche und Aggressive auf diesen Spaziergängen und vertritt den Standpunkt, dass diese Gewalt von einer Minderheit ausgehe, dass viele unbesehen davon mitlaufen und dass, wenn man dies gewaltlos tue, es eine legitime Form sei, Unmut über die deutsche Coronapolitik zu äußern, dass man differenzieren müsse zwischen den Mitgehenden.

Auch wenn ich der Meinung bin, dass es natürlich immer legitim sein muss, Unmut und Protest zu äußern, gerade gegen Regierungen, ist mein Standpunkt ein anderer. Aber vor gewisser Zeit der Entschluss, bei diesen Spaziergängen eben nicht mehr differenzieren und Verständnis suchen zu wollen, auch in dieser Diskussion, die wir beide schon oft geführt haben.

Darüber die abstrakte Frage: Kann eine Demonstration überhaupt differenziert betrachtet werden? Ist es nicht gerade Zweck einer Demonstration, dass Individuen zusammenkommen, um ein Anliegen groß zu präsentieren, bei dem jede für ein Ganzes steht? Auch wenn ich in eine Menschengruppe hineinzoome und die Einzelne über ihre Beweggründe befrage, muss die Botschaft doch eine sein, weil, was wäre das sonst?

Mein Standpunkt in der Diskussion war, dass die Maßnahmenproteste zwei Jahre Zeit hatten, ihr Wesen zu finden und zu zeigen. Dieses Wesen ist mittlerweile bekannt, all die Streams, Videos, Interviews, Berichte, Reden zeugen davon. Mein Gegenüber argumentiert dagegen, sagt, dass natürlich die gewalttätige Ausnahme immer Verbreitung und Beachtung findet, die zehn übergriffigen Spaziergänge werden besprochen, die anderen nicht. Das Bild verzerrt sich.

Ich setze dagegen, dass es keine Ausnahmen sind, dass die Ausnahmen Charakter der Proteste sind, von Anfang an schon. Letztens in einen Eintrag von April 2020 hineingelesen, das Transkript einer damaligen »Hygiene-Demo«. Darin finden sich die Schlüsselwörter von heute, Angriff auf freie Bürger, NWO, KZ. Das war so und ist weiterhin so, wer mitläuft, muss davon Kenntnis haben. Wer kann behaupten, nach fast zwei Jahren Protesten unwissend zu sein. Wer mitläuft, nimmt in Kauf, stimmt damit zu, das ist mein Argument.

Mein Gegenüber fragt nicht danach, aber er könnte: Ist es so überhaupt noch möglich, öffentlich gegen die Maßnahmen zu protestieren und sich dabei abzugrenzen von Rechtsextremen, Verschwörungsmystikern, Übergriffe gegen Journalistinnen, gegen Angriffe auf Krankenhäuser? Ich weiß es nicht, es sollte möglich sein, es ist nicht meine Aufgabe, mir Gedanken über eine passende Form zu machen. Vielleicht liegt es in der Sache selbst, dass die Spaziergänge sind, wie sie sind.

Wie gestern.

Gestern stürmen Corona-Spaziergängerinnen in den Hof einer psychiatrischen Einrichtung in Leipzig. Ich schrieb im gestrigen Eintrag nicht darüber, weil nicht eindeutig war, ob es sich um eine zielgerichtete Aktion handelte oder der Versuch war, sich der Polizei zu entziehen. Letztlich ist es auch egal, weil als Ergebnis Querdenkerinnen im Hof einer Psychiatrie stehen, lärmend, bedrohlich, aggressiv. Wie Jakob Hein schreibt: »… In Kliniken liegen die Schutzbedürftigsten der Gesellschaft, der Grund, warum wir überhaupt Gesellschaften haben … Für die psychisch schwer Kranken und das betreuende Personal muss es ein Alptraum gewesen sein, was da passiert ist. Denn sie konnten ja über längere Zeit nicht wissen, wie dieser Tag dort enden wird.« Das ist das eigentliche Wesen der Spaziergänge, wäre mein Argument, dieses Bild – Coronaspaziergänger stürmen den Hof einer Klinik, bedrohen Schutzbedürftige.

Ansonsten: Hunderte Lkw-Fahrer, die in Vancouver gestartet waren, um auf einer tagelangen Protestfahrt gegen die kanadische Coronaimpfpflicht zu protestieren, erreichen Ottawa. Endemisch.

29. Januar | während

Während man über die Absurdität der Regeln schreibt und feststellt, wie milde der Omikronverlauf ist und Pandemie in Endemie umdekliniert und für den Gesundheitsminister die Welle unter Kontrolle ist, vergisst man leicht das Coronasterben, an jedem dieser Tage einhundertachtzig Menschen, weiterhin in jeder Januarwoche über tausend, im ersten Monat des Jahres sechstausend Coronatote.

Ansonsten: Wie Neil Young auch will Joni Mitchell aus Protest gegen einen erfolgreichen Podcast, der Coronafakenews verbreitet, ihre Songs von Spotify nehmen lassen. Um den deutschen Coronaregeln zu entkommen, wollen Hunderte Deutsche nach Paraguay auswandern, nun ändert das Land die Einreiseregeln und verlangt dafür eine zweifache Impfung. Mormonische Missionare bringen das Virus auf die Insel Kiribati, die bisher coronafrei war.

28. Januar | Ohnmacht, Wut und Unverständnis

Ohnmacht, weil die Maßnahmen nicht ausreichend Schutz versprechen. Ohnmacht, weil so viel versäumt wurde und nun nicht mehr aufgeholt werden kann. Ohnmacht, weil man sich einer Regierung ausgeliefert fühlt. Ohnmacht, weil die Ansteckung unvermeidbar scheint. Ohnmacht, weil die Maßnahmen, die ergriffen werden müssten, nicht durchsetzbar sind. Ohnmacht, weil man im Prinzip nicht weiß, wie angemessene Maßnahmen für diese spezielle Situation aussehen könnten. Ohnmacht, weil andere nicht wollen, was sie müssten.

Unverständnis über die Regeln, die allgemeingültig sein müssen und im Konkreten so oft Absurdes produzieren. Unverständnis über die Ausnahmen. Unverständnis über all das Ausgelassene und schlampig Nichtgeregelte, die Regeln für die Genesenen, die Regeln für jene, die mit Johnson und Johnson geimpft wurden. Unverständnis für jene, die sich über die Regeln hinwegsetzen. Unverständnis darüber, dass es noch Regeln gibt. Unverständnis, dass die Regeln erst mit großem Versatz an die aktuelle Situation angepasst werden. Unverständnis, dass die Regeln für die Ungeimpften aufgrund der Erkenntnis, dass der Impfstoff nicht signifikant vor Ansteckung und Infektion schützt und dass die Mutante offenbar nicht zu der erwarteten Überlastung der Krankenstationen führt, nicht hinterfragt werden. Unverständnis, dass viel zu viele sich dem einfachen Schutz einer Impfung verweigern.

Wut, dass viel zu viele sich dem einfachen Schutz einer Impfung verweigern. Wut, dass man zur Impfung gezwungen werden soll. Wut, wenn jemand die Maske nicht trägt. Wut, weil man die Maske tragen muss. Jede Menge Erschöpfung in einer komplexen Situation, in der die Gegebenheiten sich noch einmal heftiger als zuvor widersprechen: das vermutlich weniger gefährliche Omikron als Absprung in die Endemie gegen die Durchseuchung, deren Folgen nur geschätzt werden können. Ohnmacht deswegen und Unverständnis, ein Ineinanderkrachen von Standpunkten, das Verlieren des letzten bisschen Ausharrens, der letzten Kraft, weil Regeln bestehen sollen und das Virus laufen muss und geimpft werden soll und nicht überlastet und die Kinderinzidenz längst dauerhaft im vierstelligen Bereich.

So viel, was sich gegenübersteht, so viele Linien. Es braucht ein Rauskommen aus dem ständigen Aufeinandertreffen der nur schwer aufzulösenden Widersprüche. Es braucht ein Ende der Pandemie, damit es ein Ende der Regeln geben kann und damit ein Ende dieser Belastung für alle, die alle kirre macht. Ein frommer Wunsch, ein Nullsatz, dieser Wunsch nach dem Pandemieende, weil das Virus nicht schaut, wo der gesellschaftliche Aggressionspegel steht, wie viel davon noch auszuhalten ist, wie lange das permanente Angespanntsein.

Ein Nullsatz, weil sich das Virus verbreitet und versucht sich anzupassen und es kann sein, dass in einem Monat oder zwei die aktuelle Variante für das notwendige gute Ende sorgt, es kann sein, dass die Variante weitere Untertypen generiert, vielleicht eine Version seiner selbst, die das Übel aller Varianten vereint. Dann wären alle Gedanken zu einem Rauskommen hin obsolet.

Wäre das Virus nicht, würde ich schreiben: Die Maßnahmen schaffen Schutz, schaffen das Absurde, schaffen die Wut und das Unverständnis, sind Ohnmacht und Handeln in einem und müssen, sobald es vertretbar ist, beendet werden. Doch was vertretbar sein könnte, muss jeden Tag neu ausgehandelt werden. Auch niemand mehr die Kraft dafür hat.

27. Januar | mitteldeutsche Momentaufnahme

Gerade ist der sächsische Erzgebirgskreis der Landkreis mit deutschlandweit der niedrigsten Inzidenz, 175 und damit 10x niedriger als beispielsweise Hamburg, jener Erzgebirgskreis, der in den vergangenen zwei Jahren mehrmals wegen hoher Zahlen und Ausschreitungen während Demonstrationen in den Schlagzeilen war, wegen der Gemeinschaft in Christo Jesu, der Lorenzianer, einer chiliastischen Sekte, die Masken als Gotteslästerung betrachten etc.

Überhaupt: Die Coronakarte ist schwarz und dunkelrotbraun eingefärbt. Nur in Mitteldeutschland zeigt sich eine zusammenhängende Fläche zartroter Töne. Dort liegen die Inzidenzen zum Teil deutlich über die Hälfte unter der gesamtdeutschen Inzidenz von heute 1017, jene Landstriche, die in den vergangenen zwei Jahren mehrmals wegen besonders hoher Zahlen und Ausschreitungen während Demonstrationen in den Schlagzeilen waren etc.

Was sind die Erklärungen dafür? Eine war, dass sich das Virus von Norden nach Süden ausbreitet. Eine andere, dass diesmal die Grenzbereiche zu Tschechien nicht so betroffen sind. Dass das Virus erst auf die Städte zugreift. Sind es die höhere Zahl der bisher Infizierten und deshalb Genesenen in Sachsen und Thüringen? Für jeden mögliche Erklärungsversuch gibt es Kartenbereiche, für die das auch gelten müsste, die aber dennoch dunkelrotbraun strahlen.

Und auch wenn sich diese Zahlen, diese Farben in den nächsten Tagen und Wochen, angleichen, vielleicht umkehren können, bleibt diese Momentaufnahme aus Mitteldeutschland, diese momentan sicherste Schutzburg vor Omikron.

Ansonsten: Die Zahl der täglichen Neuinfektionen übersteigt die 200.000-Grenze. Aus Protest gegen den sehr erfolgreichen Podcast von Joe Rogan, der Falschmeldungen über Corona verbreitet, lässt Neil Young alle seine Lieder von Spotify löschen. Laut Bundesinnenministerium haben am vergangenen Montag bundesweit rund 350.000 Menschen an Protesten gegen Maßnahmen sowie an Gegendemonstrationen teilgenommen. Laut einer Studie aus Israel sind Herzmuskelentzündung bei geimpften Jugendlichen sehr selten. In Deutschland wurden 42 Millionen mehr digitale Impfzertifikate ausgestellt als Corona-Impfdosen verabreicht wurden.

26. Januar | ein Mittwoch in der Pandemie

Heute Debatte im Bundestag über die Impfpflicht, etwas, das gefühlt ein halbes Jahr zu spät kommt; der Austausch von Argumenten im Parlament. Dänemark kündigt an, ab Dienstag alle Beschränkungen aufzuheben, weil Covid nicht länger mehr als eine Gefahr für die Gesellschaft eingeschätzt wird. Zugleich wird ein Höchststand an Krankenhauseinweisungen gemeldet, besonders betroffen: Kinder. Eine mögliche Erklärung ist eine neue Variante der Omikronmutante. Mehr als 9 Millionen Deutschen hatten oder haben sich infiziert, eine Million davon innerhalb der vergangenen sieben Tage. Über PCR-Test-Vergleiche.

25. Januar | dieses halbherzige Hochhalten von drögen Farben

Der Bundeskanzler stellt die Impfkampagne vor und hält dafür zweifarbige Texttafeln in Kameras .Bundesweit wird der Genesenenstatus auf drei Monate gekürzt, im Bundestag gilt eine Dauer von sechs Monaten. Die Verantwortlichen einigen sich darauf, dass der Zugang zu PCR-Tests beschränkt wird. Die Gesundheitsämter stellen weitestgehend die Kontaktverfolgung ein. Durch die Überlastung der Labore wird es keine der Wirklichkeit entsprechenden Zahlen geben. Der Bundeskanzler erklärt, dass noch unklar sei, wie sich die Pandemie weiter entwickeln werde und gibt als Parole aus: »Jetzt aber gilt erst mal: Kurs halten!«

Lauter Enttäuschungen; Versäumnisse, schlecht durchdachte Kommunikation, unverständliche Entscheidungen. Wer ist dafür verantwortlich zu machen? Die alte Regierung? Der abgewählte Teil der Regierung? Die Test-Taskforce Scheuer/Spahn? Der Teil der Regierung, der nun den Kanzler stellt? Die neue Regierung? Es bleibt das Bild eines Versagens, eines Aufgebens, einer maßlosen Überforderung. Ist es Ratlosigkeit, Lähmung, ein geschönter Blick auf die Umstände, ist es die Summe vieler bürokratischer Kleinigkeiten, ist es Überzeugung, vielleicht der Glaube, dass Omikron eine Chance ist, zwei ungewisse Monate und dann raus aus der Pandemie, das Schauen auf andere Länder und der Zahlen in den Krankenhäusern, irgendwann das unweigerliche Fallen der Inzidenzen?

In diesem Zusammenhang lese ich von »undokumentierter Durchseuchung«, eine zugespitzte, vielleicht wirklichkeitsnahe Beschreibung davon, dass viele Infektionen durch den Mangel an Tests nicht erfasst werden, dass das Virus »läuft«, ohne gesehen zu werden. Gerade passiert die Abkehr von zwei Jahren Coronaeindämmung; Schutzmaßnahmen werden für nichtig erklärt. Das geschieht vielleicht aus der Annahme heraus, dass die Mutante weniger gefährlich ist, auf jeden Fall aus einem Mangel heraus. Wenn nur 400.000 Test am Tag gemacht werden können, aber Bedarf für das Drei- oder Vierfache besteht, dann muss das Ungleichgewicht gehandhabt werden, trotz aller Hinweise, dass die Testkapazitäten viel höher liegen müssten. Das Ungleichgewicht ist ja dennoch vorhanden. Was nicht vermittelbar ist: Wenn die Schutzmaßnahmen ungerecht verteilt werden. Wenn ein Teil sie in Anspruch nehmen darf, der andere davon ausgeschlossen wird.

Und vielleicht erzählt die Präsentation der Impfkampagne alles dazu: dieses halbherzige Hochhalten von Werbetafeln in drögen Farben mit dem Hinweis auf eine überlastete Callcenternummer, ein uninspirierter Versuch, von dem niemand annehmen kann, dass er irgendetwas zum Besseren ändert. Doch man tut etwas, man hält etwas hoch und vor allem den Kurs. Man duckt sich weg damit.

Ansonsten: Die Auslastung der Labore liegt bei 95%, jeder dritte Test in der letzten Woche war positiv. Mehr als eine halbe Million Neuinfektionen in Frankreich. Biontech beginnt mit einer Studie zu einem Omikron-Impfstoff. Der Landkreis Bautzen werde die geplante Impfpflicht für das Gesundheitspersonal nicht umsetzen, erklärt der Vizelandrat auf einer Demonstration vor Maßnahmengegnerinnen. Die 7-Tages-Inzidenz steigt auf knapp 900.

24. Januar | lange nach der Pandemie

Die Pandemie wird ein Ende finden, in diesem Jahr vielleicht schon, offiziell eine Endemie werden, nie mehr Sars-CoV-2 als weltweite Bedrohung. Für viele wird die Pandemie nach dem Ende der Pandemie dennoch weitergehen, viele Jahre lang werden diese zwei Jahre das Leben bestimmen.

Daran denke ich, als ich ein Video sehe, einen recht manipulativen Zusammenschnitt. In einer Talkshow spricht eine amerikanische Journalistin, dass sie Tiger King gesehen habe und einmal Spotify durchgehört habe und nun fertig sei mit Corona, »I’m done with COVID«. Zwischen ihre Ausführungen sind kurze Interviewpassagen von Ärztinnen gestellt, in denen diese – sichtbar erschöpft, sichtbar am Ende ihrer Kräfte – vom Ringen um die Leben der Covid-Kranken sprechen.

Es geht mir nicht um eine Bewertung, nicht um dieses Nebeneinander der so unterschiedlich erlebten Realitäten der Pandemiejahre. Als ich das Video sah, wurde mir (noch einmal) bewusst, welchem Druck viele Menschen seit zwei Jahren ausgesetzt sind, was sie für Unfassbares erlebt haben, wie viel Leid sie erfahren haben, wie ohnmächtig sie sich gefühlt haben, wie viel Trauer entstanden ist in den vergangenen zwei Jahren.

Die Menschen im Gesundheitswesen, Schicht um Schicht um Schicht, die Masken schneiden sich rot in die Gesichter und dabei die Enttäuschung über die fehlende Wertschätzung durch die Politik, durch die Gesellschaft, die ansehen müssen, wie Querdenkerinnen vor die Krankenhäuser ziehen, die Ärztinnen angreifen, weil sie helfen.

Die Kinder und Jugendlichen in den Schulen, denen wir im ersten Jahr der Pandemie als Gesellschaft gesagt haben, ihr müsst Rücksicht nehmen auf die Älteren, ihr müsst Euch zurücknehmen und die sich zurücknahmen, und die, als die Gesellschaft hätte Rücksicht nehmen müssen auf sie, täglich erlebten und erleben, dass sich die Gesellschaft kein bisschen um sie schert, die monatelang keine Freunde sahen, die zwei Jahre einer Jugend verpassten, die in Angst waren um ihre Familie, die dennoch abliefern mussten im Präsenzunterricht, online, welche die schlecht gescannten PDF-Arbeitsblätter tapfer ausfüllten und dann am ersten Tag bei Inzidenz 65 drei Arbeiten am Tag schrieben und dazu mündlich geprüft wurden, als sei nichts geschehen, so etwas geht nicht spurlos vorbei, das gräbt sich tief ein, das bestimmt den Blick auf uns, die erwachsene Welt.

Jene, welche die Kontakte beschränkten, die sich einschlossen zuhause, die sich beschränkten in so vielem. Die in den Heimen, zu ihrer eigenen Sicherheit abgeschnitten von außen. Jene, die Freunde und Familie ans Querdenken verloren haben. Die sich selbst ans Querdenken verloren. All die Angehörigen, welche nun 117.000 Gräber pflegen.

Unsere Gesellschaft ist in zwei Dingen schlecht: in der Prävention und der Nacharbeit. Doch die wird es brauchen. Die Folgen die Pandemie werden lange über den Tag hinausreichen, an dem eine Inzidenz von 0 gemessen wird. Es gibt so viel zu Bereden, so viel zu erinnern, so viel Wut und Ungesagtes, so viel Trauer, so viel Vergrabenes, so viel an Arbeit liegt vor allen, nicht nur Verzeihen. Vor dem Verzeihen muss das Hinschauen und das Begreifen kommen, die Empathie und das Verständnis für all die verschiedenen Pandemierealitäten, die sich in Vielem gleichen und noch mehr unterscheiden.

Dafür wird es eine Sprache brauchen, es wird Trost brauchen, Geld wird es brauchen, Methoden und Heilerinnen, die sich damit auseinandersetzen, die helfen. Vor allem wird es von allen die Bereitschaft brauchen, sich auf die Geschichten, den Druck, die Verlassenheit einzulassen, zuzuhören, auch in drei Jahren noch, in fünf Jahren, in zehn Jahren. Die Pandemie wird zu Ende gehen, sie wird lange kein Ende finden.

Ansonsten: Berlin setzt die Präsenzpflicht an Schulen vorläufig aus. Ein Davor, ein Danach – Die Pandemie in Fernsehserien

23. Januar | hohl und verbraucht

Ein Thread darüber, welche Worte in der Pandemie hohl und verbraucht wurden. Eine Auswahl: Spaziergang. Freiheit. Eigenverantwortung. Systemrelevant. Hygienekonzept. Datenschutz. Instrumentenkasten. Auf Sicht fahren. Mild. Präsenzpflicht. Augenmaß. Vulnerabel. Keine Treiber. Vorerkrankt. Skeptisch. Grippe. Klatschen. Beherrschbar. Diktatur. Immunsystem. Selbst denken. Freie Betten. Brückenbau. Schweden. Totimpfstoff. Besonnen. Attest. Positiv. Montag. Konzentrierte Wachsamkeit. Lüftungsprotokoll. Spaltung. Ländersache.

Ansonsten: Der Städte- und Gemeindebund fordert eine Exitstrategie, um nach dem Höhepunkt der Omikronwelle die Einschränkungen aufzuheben. Der Handelsverband fordert ein Ende von 2G für den Einzelhandel. Bei der in Hongkong angeordneten Keulung von Hamstern wurde nur ein Nager positiv getestet. Irland hebt fast alle Einschränkungen aus. Impfgegnerinnen geben in mehreren Zeitschriften falsche Stellengesuche auf, in denen Ungeimpfte angeblich gekündigt wurden und die deshalb neue Arbeit suchen. Wegen des Auslaufens des Kurzarbeitergelds nach 24 Monaten wird im März eine Kündigungswelle in der Veranstaltungsbranche erwartet. Die Hälfte der Deutschen ist geboostert. Bund und Länder beschließen eine Beschränkung von PCR-Tests. Schwere Ausschreitungen bei einer großen Antimaßnahmendemostration in Brüssel.

22. Januar | Gurgeltest

21. Januar | ersehnte Durchseuchung

Zwei Narrative gerade: Die nicht so gefährliche Omikronmutante wird sehr viele anstecken, was notwendig ist, damit Corona endemisch werden kann, die einzige Möglichkeit, den Pandemiezustand zu verlassen. Und: Omikron ist alles andere als ungefährlich und man sollte eine Ansteckung vermeiden.

Zwei Aussagen, die sich widersprechen. Ansteckungen sind notwendig und Ansteckungen sollen vermieden werden. Was soll ich damit anfangen, wie mich verhalten?

Ich schaue auf die Kurven. Die Zahl der Todesfälle sinkt weiter, ist mittlerweile von den Inzidenzen entkoppelt. Die Zahlen sagen: Omikron richtet deutlich weniger Schaden an, zumindest bei den Geimpften. Sagen das die Zahlen? Gehören diese Zahlen schon zu Omikron? Werden das auch die Zahlen sein, wenn sich der heutige Höchstwert von 140.000 verdoppelt haben wird? Werden das die Zahlen auch in fünf Jahren noch sagen? Ich weiß es nicht. Ich kann mir zusammenreimen, absolute Zahlen gegen das individuelle Risiko stellen.

Ich schaue auf die Maßnahmen. Wie immer ein einigermaßen wirkungsvoller Schutz vor Omikron aussehen könnte: Er wird nicht versucht. Die Zahl der Infektionen wächst, wird hingenommen, ist vielleicht gewollt, viele Ansteckungen jetzt bedeutet ein Ende der Pandemie bald. Wenn das Wort lautet, dass Omikron weniger Schaden anrichtet, können die Höchstwerte auch akzeptiert werden.

Für die einen ist diese offizielle Durchseuchung ein notwendiger und logischer Schritt raus aus der Pandemie, nach zwei Jahren Pandemie und einer weniger gefährlichen Mutante, die nur unter sehr massiven, schwer durchsetzbaren Einschränkungen einigermaßen zu kontrollieren wäre, das bestmögliche Ende. Für andere ist die Durchseuchung mit großer Furcht besetzt, mit Enttäuschung, das Aufgeben von Prinzipen, das Freilaufenlassen, letztlich die Abkehr von dem, was zwei Jahre versucht wurde, etwas, dem man, anders als bisher, hilflos ausgeliefert ist, besonders jene mit Kindern.

Letztens den Satz gelesen: Niemand steckt sich freiwillig mit Hepatitis an, nur, weil es behandelbar ist. Natürlich möchte ich mich nicht anstecken, kein Omikron, keine nächste Variante, nicht morgen, nicht in einem Jahr. Dennoch scheint unvermeintlich, dass mir eine Ansteckung geschehen wird. Doch je später, denke ich, desto besser. Ich setze weiter die Maske auf, minimiere Situationen mit möglichen Risikobegegnungen, zumindest diesen Winter noch, zumindest in der Omikronwelle, in welcher der Gesundheitsminister mit 400.000 täglichen Ansteckungen im Februar rechnet. Ich höre beide Erzählungen, ich will das Ende der Pandemie, ich will die Endemie und ich will nicht angesteckt sein. Es widerspricht sich, wie sollte es anders sein?

Ansonsten: Wegen eines Coronafalls an Bord muss ein australischer Hilfsgüterflug für die Südpazifikinsel Tonga, die nach einem Vulkanausbruch Unterstützung benötigt, abgebrochen werden. In Hongkong werden nach Infektionen tausende Hamster, Meerschweinchen und Kaninchen getötet. Meat Loaf, der sich gegen das Impfen ausgesprochen hatte, stirbt an einer Covid 19-Erkrankung. Schnelltests testen.

20. Januar | Berglandschaft

133.536, ein nächster Höchstwert. Ich schaue auf die Grafik der Neuinfektionen, der Graph beginnt am 12. März 2020 zu zählen. Die Kurve wie ein Gebirge, Erhebungen, Täler, Steilwände, Rundungen, Plateaus, fast zwei Jahre reicht dieser Höhenzug in die Zeit zurück. Die erste Welle nimmt sich in dieser Berglandschaft wie ein sanfter Hügel aus, eine unauffällige Ausbuchtung, eine sachte, fast unscheinbare Rundung, gefolgt von einer langgezogenen Ebene. In diesem Bild ist die erste Welle kaum der Rede wert, kaum vorstellbar, dass mit dieser zwergenhaften Ausstülpung eine veränderte Welt einhergegangen sein soll, die ersten Wochen der Pandemie, alles anders.

Ansonsten: Österreich führt die Impfpflicht für alle ab 18. Jahre ein. Österreich führt eine Impflotterie ein, bei der pro Impfung 500€ zu gewinnen sind, die als Gutscheine eingelöst werden können. Querdenkerinnen demonstrieren vor einem Hort in Linz und rufen den verängstigenden Kindern zu: »Eure Eltern töten euch mit der Impfung.« Die AfD-Fraktion reicht beim Bundesverfassungsgericht Klage gegen die Coronaregeln im Bundestag ein. Im Hamburger Senat müssen nicht geimpfte oder getestete Abgeordnete Platz auf der sogenannten »Seuchenempore« nehmen.

19. Januar | sechsstellig

Heute im Kindergarten gewesen, beim Bäcker, eingekauft, per Mail korrespondiert, mit Freunden gesprochen, gelesen, geschrieben, gekocht etc. lauter übliche Dinge drinnen wie draußen, keine besonderen Vorkommnisse. Dagegen steht die Zahl, als andere als üblich, eine Zahl, die für viele keine üblichen Dinge zulässt, 112.323 Neuinfektionen an einem Tag, erstmals sechsstellig, eine, ich muss das so schreiben, erwartbare Entwicklung.

Eine andere Zahl, die mich ebenso beschäftigt: Wien baut die Testkapazitäten auf 800.000 Tests pro Tag aus und kann damit doppelt so viele Tests auswerten wie ganz Deutschland. Ich verstehe diese ungeheure Diskrepanz weiterhin nicht. Nur eine mögliche Erklärung finde ich: In Deutschland werden Pooltests (10 Tests auf einmal) als 1 Test gezählt, in Österreich fließt jeder Test in die Berechnung ein. Dennoch bleibt auch diese Zahl: In Deutschland werden 25 PCR-Tests pro Woche und 1.000 Einwohner gemacht, in Dänemark sind es 240, in Österreich 400.

Dazu passt die Nachricht, dass der Zugang zu PCR-Tests zukünftig stark eingeschränkt werden soll. Eine Priorisierung soll stattfinden, um der Überlastung der Labore entgegenzuwirken. Eine Notlösung, die so scheint, als gäbe es keinen Bedarf, die Zahlen ernsthaft erfassen zu wollen. Doch um die Gegenwart zu verstehen, muss sie auch vermessen werden. Geschieht das nicht, bleibt jegliches Handeln ein Ahnen und Tappen.

Oder braucht es die Zahlen bei Omikron gar nicht mehr? Keine Zahlen, keine Kontaktverfolgung, keine Quarantäne, weil sich laut einer Prognose jeder Zweite in den nächsten Wochen ohnehin anstecken wird? Welchen Nutzen haben dann noch Tests, außer die Newsticker mit neuen Höchstwerten zu versorgen? Ist es zynisch, so zu schreiben? Ist es die Beschreibung eines pragmatischen und realistischen Umgangs mit einer Extremsituation? Die Beschreibung einer Kapitulation?

Ansonsten: Die Zahlen auf den Intensivstationen sinken. Am amerikanischen Supreme Court weigert sich der konservative Richter Neil Gorsuch eine Maske zu tragen, um seine vorerkrankte Kollegin zu schützen. Fast 500.000 Neuinfektionen in Frankreich. Die US-Regierung verteilt kostenlos 400 Millionen Masken. Boris Johnson kündigte die Aufhebung aller geltenden Coronabeschränkungen in England an. In Amsterdam bieten Theater, Museen und Konzertsäle in ihren Räumlichkeiten Friseurdienste an, um gegen die Coronaschließungen zu protestieren. In Halle stürmt eine infizierte Querdenkerin in ein Pflegeheim und versucht, die dortigen Bewohnerinnen anzustecken.

18. Januar | an den Masten

Den ersten coronamaßnahmenkritischen Aufkleber an einem Laternenpfahl entdeckte ich im April 2020 auf dem UNESCO-Platz in Weimar. Handgeschrieben wurde auf eine Dokumentation im Öffentlich-Rechtlichen Fernsehen hingewiesen, Profiteure der Angst die sich kritisch mit der Schweinegrippe und der Pharmaindustrie auseinandersetzt. Der Zettel war versehen mit dem Zusatz: »Seht selbst, was jetzt passiert.«

Seitdem finde ich an Ampelmasten, Stromkästen, Papierkörben, Straßenlaternen, Litfaßsäulen, Geländerstangen immer wieder coronamaßnahmenkritische Aufkleber. Dort kleben sie neben rassistischen, antirassistischen, feministischen, queeren Aufklebern, Aufklebern von Fußballfans, der Klimabewegung, Einladungen zu halblegalen Tanzevents. Die Querdenker haben sich längst und ausdauernd in das kleine Bild der Stadt eingeklebt, seismographische Ausschläge der Gegenwart.

Handgeschrieben sind die Aufkleber längst nicht mehr. Es sind gedruckte Label, gestaltet und bestellt bei Onlinedruckereien, oft versehen mit Links zu Webseiten, Facebookgruppen, Telegramchannels, nicht wenige mit eigenem QR-Code. Erst sprachen sie sich gegen Masken aus, dann gegen Regeln, gegen Tests, besonders hartnäckig verklebt ein Querdenker seit vielen Monaten Verweise zum sogenannten Corona-Ausschuss.

In den letzten Tagen haben ich mehrere Aufkleber gegen die Impfpflicht entdeckt; bei der Hundewiese neben der Ilm klebt einer, nahe des Stadtschlosses, neben dem besetzten Haus im Graben. Kinderaugen schauen mich traurig und vorwurfsvoll an, Mütter sorgen sich im öffentlichen Raum, Nino De Angelos Jenseits von Eden wird zitiert. In Leipzig wurden unter einem solchen Aufkleber, der an einer Rutsche auf einem Spielplatz angebracht war, eine Rasierklinge entdeckt; die Absicht, beim Abreißen des Sticker eine Verletzung herbeizuführen.

Gestern fand ein »Spaziergang« in Weimar statt, so, wie in vielen Städten. Der ehemalige ZDF-Moderator Peter Hahne ruft im österreichischen Servus-TV, dem Sender des RB-Konzerns und mittlerweile ein wichtiges Medium der Querdenkerinnen, auf, am Montag auf die Straße zu gehen (Es geht nur noch übers Volk, Jetzt helfen nur noch die Menschen auf der Straße). Die CDU-Fraktion in Sachsen-Anhalt erklärt offiziell als mittelfristiges Ziel die Abschaffung der ARD, die britische Regierung will die BBC als öffentlich-rechtlichen Rundfunk bis 2027 abschaffen.

Die Menge und die Intensität der Antimaßnahmendemonstrationen am Montag nehmen von Woche zu Woche zu und vielleicht ist die Einschätzung im Eintrag von vor einigen Wochen, als ich die Demonstrantinnen gegen die Geimpften pro Tag setzte, Augenwischerei. Wenn Woche für Woche über 200.000 auf die Straße gehen – und das in ganz Deutschland – dann ist das etwas, was über die Pandemie hinaus Bedeutung hat und haben wird.

Oder wie letztens in einem Video ein Querdenker mit Ungeimpft-Plakette an der Jacke der Reporterin ins Mikro bellte: So hat es damals auch angefangen. Nein, das hat es nicht. Angefangen hat es in den 20er Jahren, als die Rechtsextremen auf die Straße gingen mit der Absicht, einen Regimewechsel herbeizuführen und andere sich dem angeschlossen haben, als nützliche Idioten der Demokratiefeinde. So hat es angefangen. Die gelben Sterne kamen später. Von denen, die marschiert sind.

Ansonsten: Eine mögliche Erklärung, warum Thüringen aktuell das Bundesland mit den niedrigsten Neuinfektionen ist (in kurz: Die Welle kommt diesmal nicht von Osten, sondern von Norden).

17. Januar | Rückblick mit Drosten

Ein Interview mit Christian Drosten. Darin klingt es, als wäre die Pandemie schon geschehen: Hätte man Corona verhindern können, Was waren die größten Fehler gewesen, Wie haben Wissenschaftler kommuniziert, Kann man zukünftig Pandemien vermeiden.

Ein Rückblick fast, zumindest ein Blick in die nähere Zukunft, in der es keine Coronapandemie mehr gibt. Die Bevölkerung baut Immunität auf, das Virus muss sich verbreiten, aber auf Basis eines in der breiten Bevölkerung verankerten Impfschutzes, irgendwann muss man da aber auch mal drauf springen, sonst kommt man nicht weiter. Und: »Wenn jemand im Moment meint, das Infektions- und Erkrankungsrisiko könne er ja wohl für sich selbst verantworten, dann muss man sagen: Nein, das geht nicht, weil noch so viele krank werden, dass das über die Betten-Konkurrenz auch andere Kranke betrifft. Weil Betten knapp sind, ist es eben nicht nur die Eigenverantwortung. Und da muss die Politik dann handeln und regulieren.«

Das Interview ist ein Gespräch über das Ende der Pandemie – mit Einschränkungen, Anmerkungen, Ambivalenzen – aber ein Ende der bisherigen Situation in Sichtweite. Das ist im Wesentlichen, was ich in diesen Tagen lesen will, Fragen und Antworten wie: Werden wir jemals wieder so leben wie vor der Pandemie? Ja, absolut. Da bin ich mir komplett sicher.

Ansonsten: Während sich das Vermögen der zehn reichsten Milliardäre in der Pandemie verdoppelt hat, leben über 160 Millionen Menschen zusätzlich in Armut. Überlegungen der Gesundheitsminister, die Verfügbarkeit von PCR-Tests stark einschränken. In Leipzig wird unter einem Querdenkeraufkleber an einer Rutsche auf einem Spielplatz eine Rasierklinge entdeckt. Eine Frau erfindet elf Coronatestzentren und rechnet dafür fiktive Tests und Impfungen ab und verursacht damit einen Schaden von über einer Million Euro. Mit 223 Fällen meldet China den höchsten Stand an Neuinfektionen seit März 2020.

https://twitter.com/xeni/status/1482729325866614786

16. Januar | loslassen lernen

Ich kenne niemanden, der aktuell krank, infiziert oder in Quarantäne ist. In Weimar liegt die Inzidenz bei 250 und ist damit halb so hoch wie in ganz Deutschland. Der Kindergarten ist geöffnet, es gibt kaum Störungen. Das, was Omikron vielerorts war und ist, ist nicht hier. Die Wand ist in den Zahlen, aber nicht vor meiner Haustür.

Ich frage mich, woran das liegt. Wann die Welle Weimar erreicht. Ob. Ob zu wenig getestet wird, die Welle längst da ist, aber nicht zu spüren. Seit fast einem Monat das Warten darauf, mittlerweile ein Gewöhnen daran, dass die Situation täglich besser wird, obwohl die Warnungen vor schweren Wochen lauter werden. Eine seltsame Diskrepanz, wieder einmal.

Der Spiegel zeigt auf seinem Titelbild Karl Lauterbach als James Bond mit Spritze als Waffe, darunter getextet: Ein Quantum Angst. Und ich frage mich – gar nicht mal moralisch entrüstet, sondern ehrlich interessiert – wie nach zwei Jahren Pandemie ein solch missverständliches Cover möglich ist, ob es in zwei Jahren keine Lernkurve gab.

Thema des Leitartikels ist die Impfpflicht und wie sie »Land und Politik entzweit.« Über die Impfpflicht wird erst nach den Karnevalswochen entschieden, frühestens Mitte März, dann, wenn die Omikronwelle schon abgeklungen sein wird und die Frage ist: Wie lange wird es dauern, bis eine solche Impfpflicht umgesetzt wird und wie wird sie umgesetzt und hilft es, wenn die erhofften Reaktionen im Sommer geschehen?

Überhaupt frage ich mich, wie die Sache mit den Geimpften und Ungeimpften im Rückblick gesehen werden wird, der Ausschluss der Ungeimpften von Teilen des öffentlichen Lebens. Wird es in der Rückschau als angemessen gelten, als notwendig, wird man im Nachhinein die Gründe dafür nachvollziehen können? Oder wird sich ein anderes Verständnis durchsetzen, das von einer Unverhältnismäßigkeit? Ich bin mir nicht sicher.

Als Beispiel Novak Djokovic, der Tennisspieler, der nun endgültig aus Australien ausgewiesen ist. Ein gesunder, offensichtlich mehrfach Genesener darf nicht an einem Turnier teilnehmen. So erzählt, wäre es diese Unverhältnismäßigkeit. Erst die anderen Puzzlestücke – die ungültigen Anträge, das Verschweigen, die mutmaßlich gefälschten Daten und Zertifikate, der pathetische Zorn seiner Anhänger, seine Persönlichkeit, gepaart mit all den dubiosen und gefährlichen Verstrickungen – machen die Angelegenheit vollständig und bewertbar. Aber wird man diese Vollständigkeit im Rückblick noch sehen wollen oder können? Seine Unterstützer jedenfalls sind dazu nicht der Lage. Djokovic wird, wie alles in der Pandemie, als politisches Symbol vereinnahmt, auf den Querdenkerdemonstrationen erweisen die Redner ihm die Ehre und es macht schon Sinn, dass es sich dabei Djokovic handelt. Roger Federer als Held der Querdenker ist viel schwerer vorstellbar.

Und trotzdem wird es mir nach Omikron gleich sein, vielleicht ist es das schon, wie der Impfstatus einer Person ist. Natürlich werde ich stutzen und wahrscheinlich wird ungeimpft gegen Corona für lange Zeit ein Charakterzug bleiben, etwas, das mutmaßlich etwas Tiefgehendes aussagt als nicht geimpft. Aber es wird nichts Entscheidendes mehr sein. Und vielleicht gehört dieses Nicht-mehr-Triggern lassen auch zu einem Ende der Pandemie dazu, zu einem Loslassen, vielleicht geschieht das jetzt gerade.

Ansonsten: Die Teilnehmerzahl der Montagsdemonstrationen gegen Coronamaßnahmen hat sich in den vergangenen beiden Wochen um knapp 100.000 auf 270.000 bei 1300 Veranstaltungen erhöht. Drei Wochen vor Beginn der Olympischen Spiele wird in Peking der erste Omikronfall gemeldet. In einer Umfrage sprechen sich 60% der Befragten für eine Impfpflicht aus. Querdenkerinnen schicken Drohbriefe an Schulen und Kindergärten. Der Einzelhandel beklagt eine zunehmende Zahl von Angriffen bei der Kontrolle von Impfnachweisen. Im Laufe der Pandemie sind in Gesundheitsämtern 2000 neue Stellen geschaffen wurden. Die Landeselternkonferenz NRW suchte die »kälteste Schulklasse des Landes«, um dagegen zu protestieren, dass in vielen Schulen als Schutzmaßnahme lediglich regelmäßig gelüftet werden kann. Während Novak Djokovic aus Australien ausgewiesen wird, werden in Australien mit über 50° die höchsten jemals im Januar gemessenen Temperaturen festgestellt. Um gegen die Lockdownparties von Premier Boris Johnson zu protestieren, feiern mehrere Jugendliche mit Johnsonmaske.

14. Januar | zwei Aktionen

In Hagen setzt sich die 13jährige Yasmin allein auf den Schulhof der Heinrich-Heine-Realschule, um dort zu lernen. Sie ist vorerkrankt und will nicht mit ungeimpften Mitschülern und Lehrern zusammen in einen Raum sein. Drei Tage währt ihre Aktion. Dann wird das Jugendamt auf den Plan gerufen, bringt eine Inobhutnahme ins Spiel, am vierten Tag bekommt sie in der Schule einen eigenen Raum zugewiesen.

Nachdem in Dresden Querdenkerinnen einem »Spaziergang« vor dem Uniklinikum ankündigen, bilden Medizinstudentinnen einen schützenden Ring um das Gebäude. Kurz darauf kesseln Polizistinnen sie wegen des Verstoßes gegen die sächsische Coronaverordnung ein. Diese war letztens in Sachsen erst gelockert wurden, um mehr zivile Gegenproteste zu den Spaziergängen zu ermöglichen. Gegen die Studentinnen werden 22 Ordnungswidrigkeitsanzeigen verhängt.

Ich wünsche, dass sich der ersten Aktion viele anschließen, dass ab Montag auf allen Schulhöfen die Schülerinnen sitzen, zu viele, als dass jeder ein eigener Raum zur Verfügung gestellt werden kann, zu viele, als dass dieses Sitzen einfach übergangen werden kann. Ich wünsche, dass die Polizistinnen nicht kesseln, dass sie nicht das Bild bedienen – Querdenkerinnen können seit Wochen demonstrieren und dabei gegen alle möglichen Auflagen verstoßen, während bei jenen, die sich dagegenstellen, im besonderen Maße kontrolliert werden. Ein unverständliches Ungleichgewicht, vielleicht doch ganz gut erklärbar, symbolisch auf jedem Fall.

Ansonsten: Mehrere Bundesländer steigen aus dem Vertrag mit der Luca-App aus. Aus Protest darüber, dass ihre Empfehlungen nicht gehört werden, treten in Polen fast alle Corona-Regierungsberater zurück. In Großbritannien sinkt die Inzidenz den fünften Tag in Folge. Die deutschen Labore stoßen bei PCR-Tests an Kapazitätsgrenzen. In Wien wird die PCR-Testkapazität auf 800.000 Tests pro Tag erweitert. Die Stiko empfiehlt Boosterimpfungen ab zwölf Jahren. In Sachsen soll für Familien mit Kindern ein Impf-Clown zum Einsatz kommen. Das Visum des Tennisspielers Novak Djoković wird erneut annulliert, weshalb er nicht beim Turnier antreten kann. Da die Influencerin Christin Okpara mit gefälschtem Impfpass reiste, wird sie vom diesjährigen Dschungelcamp ausgeschlossen. Demoinzidenz.

12. Januar | Umkehrung

Über 80.000 Neuinfektionen, ein Höchstwert. Im Norden des Landes, dort, wo die Zahlen für gewöhnlich niedriger sind, sind nun die höchsten Zahlen. Die wenigsten Ansteckungen gibt es in Thüringen und Sachsen, dort sind die niedrigen Inzidenzen. Eine seltsame Umkehr der Werte. Doch was sagen die Zahlen? Ist es tatsächlich so? Wird nur im Norden häufiger getestet? Sind die Maßnahmen im Osten restriktiver? Arbeitet sich Omikron von Norden nach Osten vor? Wie werden die Zahlen in zwei Wochen aussehen?

Ansonsten: Der amerikanische Virologe Anthony Fauci rechnet damit, dass die Omikron-Variante die meisten Menschen treffen wird. Laut einer Studie verursacht Omikron in den USA nur halb so viele Klinikeinweisungen. Wegen Mangel an Tests fordert die mexikanische Regierung die Bevölkerung auf, bei Symptomen nicht zum Testen zu gehen. Aus Unmut über 3G dringt ein Mann in Weimar in das Landesverwaltungsamt ein und droht, mit Sturmgewehr wiederzukommen. In Bulgarien durchbrechen Impfgegnerinnen eine Polizeikette, um das Parlament zu stürmen. Wegen Omikron erhöht Niedersachsen die zulässige Arbeitszeit in kritischen Bereichen auf 60 Stunden in der Woche. In Berre-les-Alpes verstopfen in der Toilette heruntergespülte Schnelltests die Kläranlage. Bischoff Giacomo Cirulli untersagt ungeimpften Priestern das Austeilen der Kommunion.

11. Januar | gurgeln

Heute lese ich zwei Zahlen, von denen ich denke, dass sie nicht stimmen können. Die Stadt Wien kann täglich bis zu 500.000 PCR-Tests analysieren, in ganz Deutschland bestand in der ersten Kalenderwoche 2022 eine Testkapazität von 370.920 Tests. In Wien und Umland wohnen 2.5 Millionen Menschen, in Deutschland 83 Millionen und dennoch kann Wien 120.000 mehr Tests vornehmen.

Ich lese und stelle fest: Die Zahlen stimmen. Wien hat ein spezielles Gurgeltestsystem entwickelt. Jeden Tag können PCR-Gurgeltests kostenlos geholt werden. Zuhause wird gegurgelt, die Probe wird in Apotheke, Tankstelle und Boxen auf der Straße abgegeben. Im Labor findet ein sogenanntes Pooling stand; zehn Proben werden auf einmal getestet, ist ein positiver Befund darunter, wird in einem zweiten Test der Verursacher ermittelt.

Es sind technische Details, was aber bleibt: Wenn in Deutschland 370.000 Tests ausgewertet werden können und z.B. das kleinere Frankreich heute einen Wert von 368.000 hat, wie soll da auch nur annähernd eine einigermaßen der Wirklichkeit entsprechende Neuinfektionszahl in der Omikronwelle festgestellt werden können?

Ansonsten: Die WHO rechnet damit, dass sich in den zwei Monaten mehr als die Hälfte der europäischen Bevölkerung mit Omikron infiziert. Biontech beginnt mit der Produktion eines Impfstoffes gegen die Omikron-Mutante. Aus Angst vor einer Ansteckung, sperrt eine Mutter ihren Sohn in den Kofferraum ihres Autos, um ihn zum Coronatest zu bringen. Vermutungen, dass der positive PCR-Test des Tennisspielers Novak Djoković gefälscht sein könnte. Clemens Graf von Hoyos, Chef der Deutschen Knigge-Gesellschaft, rechnet fest mit der Rückkehr des Händeschüttelns nach der Pandemie. Mit 1,35 Millionen Neuinfektionen vermeldet die USA den bisherigen Höchstwert.

10. Januar | Deltakron

Eine gute Nachricht: Deltakron, eine Mutante, welche die gefährlichsten Eigenschaften der Delta- und Omikronvariante vereinen soll, ist höchstwahrscheinlich auf eine verunreinigte Laborprobe zurückzuführen. Dafür ist nun die Rede von »Flurona«, einer gleichzeitigen Infektion mit Corona und der Grippe. Beides klingt weiterhin wie bemühte Plottwists in der sechsten Staffel einer Serie über eine globale Seuche, die eigentlich nach der ersten Staffel hätte abgesetzt werden sollen, das, was die Corona-Pandemie eigentlich sein sollte.

Ansonsten: Auf richterliche Anordnung darf der Tennisspieler Novak Djoković das Quarantänehotel in Melbourne verlassen und in Australien bleiben. Kurz vor Beginn der Olympischen Winterspiele werden alle 15 Millionen Einwohnerinnen Tianjins getestet.

9. Januar | offene Burg

Im Kindergarten ging diese Woche die größte Gruppe in Quarantäne, die selbe Gruppe, die auch schon vor Weihnachten musste. Die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung bei Omikron groß; Kinder viele Stunden zusammen in einem Raum, eng beieinander, keine Masken für die Kleinsten, natürlich. Bei allen Diskussionen über die Schulen stellt sich in den Kindergärten noch eine ganz andere Situation dar.

Und trotzdem, vielleicht gerade deswegen niemand im Freundes- und Bekanntenkreis, der seine U5-Kinder wegen Omikron aus dem Kindergarten nimmt, vorsorglich, bis zum Frühjahr, die nächsten Monate zuhause. Die Entscheidung oft nicht einfach, viele Gespräche, ein Abwägen, ein Belesen. Home Office mit Kind, drei Monate die Arbeit aufschieben, das ist kaum jemanden möglich. Nach zwei müden und ausgelaugten Jahren Pandemie der Punkt, an dem jeder insgeheim auf Glück für das eigene Kind hofft, das wahrscheinliche Glück davonzukommen, laut den Zahlen ist das möglich.

Im Kindergarten sorgt das aktuelle Norovirus für mehr Krankenhaus-Einweisungen als das Coronavirus. Ich weiß nicht, ob es idiotisch ist, das zu schreiben, anekdotisch auf jeden Fall, vielleicht naiv, auch zynisch, wenn ich lese, dass Kleinkinder bei Sars-CoV-2 nur durch die Nase atmen können, die Zahlen aus Großbritannien lese, lese, wie die finnische Familienministerin sagt, dass sie davon ausgeht, dass LongCovid die am weitesten verbreitete chronische Erkrankung – auch bei Kindern – werden könnte.

Auf diesen blöden und falschen Fatalismus stoße ich in den letzten Tagen oft, dieses Ergeben hin zu einer Ansteckung. Wie sollte es auch anders sein. Offenbar schützt die 1. 2. 3. Impfung kaum gegen eine Ansteckung durch Omikron. Es bleiben die bekannten, seit fast zwei Jahren einstudierten Schutzroutinen, nur dass auf jeden dieser Schutze noch einmal das Doppelte, besser das Dreifache draufgelegt werden muss.

Doch wie lange ich stehe mit jemanden im Sicherheitsabstand von 3 Metern zusammen? Und doch ist das alles so viel vernünftiger, als nichts zu tun, als die Maske jetzt unters Kinn zu ziehen und einmal den Rolltreppenlauf abzulecken, weil es am Ende die addierten Wahrscheinlichkeiten aller Situationen eines Tages sind, die den Ausschlag geben. Und doch genügt bei Omikron eine kleine Unachtsamkeit, ein kleines Nachlassen, die alles Absichern hinwegfegt.

Und so bekommt die Omikron-Ansteckung etwas Schicksalhaftes, etwas, das sich meiner Kontrolle entzieht. Das macht mutlos, auch daher der Fatalismus. Wenn ich mich nicht einschließe, bin ich letztlich schutzlos (Die weiterhin nötige Anmerkung: Schutzlos vor einer Ansteckung, geimpft mit großer Wahrscheinlichkeit geschützt vor einer schweren Erkrankung). Ich lese all die guten Vorschläge, wie man sich trotz Mutante vor der Mutante schützen kann und ich nicke und ich denke an den Kindergarten und weiß, jene, die Kinder dort haben, stehen auf dem Wehrgang einer Burg und nehmen seit fast zwei Jahren eine Verteidigungshaltung ein und die Mauern schützen bestmöglich, nur ein Tor steht immer sperrangelweit offen.

Dazu passen die beschlossenen Maßnahmen, die nicht wirklich bemüht sind, sich gegen Omikron zu stellen. Welche Maßnahmen das wären, kann ich auch nicht sagen. Von allem mehr, um in der Summe zu halten? So es wie von Anfang an war, die Erkenntnis, dass es nicht die eine Maßnahme gibt, die komplett schützt? Und so bleibt dieses ebenfalls blöde Gefühl, dass eine Durchseuchung, ein Begriff, der in den letzten Tagen wieder Hochkonjunktur hat, irgendwie gewünscht, erhofft ist, weil nur dadurch, scheint es, wäre ein Leben ohne permanente Burg möglich, auch wenn die Fachleute mir versichern, dass alles andere als sinnvoll sei, so simpel zu denken.

Ansonsten: In Italien tritt die Impfpflicht für über 50-Jährige in Kraft. Der Ärzteverband Marburger Bund warnt vor Überlastung der Normalstationen, weil der Großteil der Fälle dort behandelt werden. Ein Wissenschaftsteam aus Zypern erklärt, dass es eine Mutante entdeckt habe, in welcher Delta und Omikron miteinander kombiniert sind. Der Tennisspieler Novak Djokovic erklärt, dass er am 16. Dezember positiv auf Corona getestet wurde und deshalb als Genesener nach Australien einreise könne, zahlreiche Fotos zeigen ihn kurz nach dem 16.12. auf verschiedenen Veranstaltungen unter Menschen. Der österreichische Skiort Flachau meldet eine Inzidenz von 10.000. In Island sind 6% der Bevölkerung in Quarantäne. Sachsen lockert das Demonstrationsrecht, was Gegendemonstrationen gegen Spaziergänge erleichtert. Da wegen Karneval für Februar nur eine Sitzungswoche des Bundestags angesetzt ist, kann die Entscheidung über eine mögliche Impfpflicht frühestens Mitte März entschieden werden.

https://twitter.com/mfernandeztobar/status/1479893832011595779

7. Januar | Testfragen

Beschlossen wird 2Gplus für Restaurants und Bars; von nun an brauchen auch doppelte Geimpfte und Genesene einen tagesaktuellen Test.

Ich lese über Schnelltests und dass diese Schwierigkeiten haben, Omikron zu erkennen, gerade bei Geimpften. Ich lese, wie oft fehlerhaft getestet wird, weil der Abstrich nicht tief genug, nicht an den virenlastigen Stellen in Nase oder Rachen durchgeführt wird. Lese, dass diese schmerzlosen und deshalb unzureichenden Abstriche auch in Testzentren vorgenommen werden, viele davon privatisiert, es gibt Geld für jeden durchgeführten Test, Testzentrenbesitzer, die in Konkurrenz stehen zu anderen Testzentren und die mit einem angenehmen Abstrich den Kunden zufriedenstellen und zur Wiederkehr bewegen wollen, ich kann das nicht verifizieren, vielleicht ist so, vielleicht sind das Einzelfälle.

Aber der Eindruck ist, dass bei Tests Fragen offenbleiben, auch die Frage, ob 2Gplus dann ein geeignetes Mittel ist für Omikron und das gemeinsame maskenlose Essen an Tischen. Eine Lösung habe ich nicht. Auf Tests verzichten? Eine Aufklärungskampagne für den aussagekräftigen Nasenabstrich? Alle gastronomischen Einrichtungen bis zum Ende der Omikronwelle schließen?

Ansonsten: Der Ärzteverband warnt vor Engpässen bei PCR-Tests, momentan liegt Kapazität für PCR-Tests bei 2,4 Millionen pro Woche. In den Philippinen werden Ungeimpfte, die gegen die Ausgangssperre verstoßen, verhaftet. In London hilft die Armee in den Krankenhäusern aus. Deutschland stuft jedes zweite Land weltweit als Corona-Hochrisikogebiet ein. Der Direktor der WHO warnt davor, Omikron als milde Variante zu bezeichnen. Srdjan Djokovic, Vater des in Australien in einem Quarantänehotel sitzenden Tennisspielers Novak Djokovic sagt: »Von diesem Moment an ist Novak zum Symbol und Führer der freien Welt geworden, der Welt der armen und benachteiligten Nationen und Völker.« und »Sie haben Jesus gekreuzigt, jetzt kreuzigen sie Novak.«

6. Januar | mild

Mild ist weniger hart und streng, ist gütig, gnädig, barmherzig, nachsichtig, freigiebig, über die Verpflichtung hinaus. Wann nutze ich mild als Wort? Das Wetter ist mild, milde Luft, ein milder Tag, der Käse schmeckt mild, lächelte sie milde, milde Gaben, mildes Herz, mildes Urteil, ich stimme dich milde. In einer älteren Sprache ist Milde die liebevolle Fürsorglichkeit eines Herrn für sein Gesinde.  

Ich lese, dass Omikron mild sei, eine gütige Mutante mit mildem Verlauf. Mild ist eine Kategorie der WHO wie uninfiziert, ambulant oder Tod. Ein milder Verlauf bedeutet alles (auch im Krankenhaus sein), was keine Sauerstofftherapie benötigt. Mild bedeutet, dass Herz, Lunge, Nieren geschädigt werden können. Mild in der Kategorie »Milde bis moderate Symptome« bedeutet: Fieber, trockener Husten, Abgeschlagenheit, Geruchs- und Geschmacksveränderungen, deutliches Krankheitsgefühl, Kopf- und Gliederschmerzen, Durchfall, Schnupfen. Ich lese Erfahrungsberichte von Omikroninfizierten mit mildem Verlauf. Mild ist so viel besser als kritisch oder schwerwiegend oder Tod, mild ist ein Wort, das mit verschiedenen Absichten verwendet wird und deshalb in der Pandemiegegenwart täuscht und falsche Versprechungen macht.

Ansonsten: Trotz Höchstwerten bei Infektionen werden in Israel und Portugal deutlich weniger Menschen in Krankenhäuser eingeliefert. Viel Interesse für Djokovic, der ungeimpft nicht nach Australien zu einem Tennisturnier einreisen darf. 64.000 gemeldete Neuinfektionen in Deutschland. Wenige Wochen vor den Olympischen Sommerspielen gehen mehrere chinesische Millionenstädte in den Lockdown. In einer Befragung sorgen sich über die Hälfte der Gastronomen und Hoteliers um die Existenz ihres Betriebs.

5. Januar | unruhiges Warten

Das neue Jahr ist angelaufen mit seinen üblichen Routinen und den erprobten und immer wieder geupdateten Pandemieroutinen dazu. Zugleich ein seltsam unruhiges Warten auf den Tag, an dem die »echten« Zahlen kommen. Dass Deutschland 10x weniger Neuinfektionen als das kleinere Frankreich hat, sogar weniger Infektionen als Griechenland, wie wahrscheinlich ist das? Wann werden die Zahlen die vermutete Realität abbilden?

Und was, wenn das nicht geschehen würde? Wenn die Neuninfektionen auf dem aktuellen Stand gedeckelt blieben, wenn sich Omikron nicht in den Zahlen zeigen würde, weil das deutsche Meldesystem nicht darauf ausgelegt scheint, hohe Zahlen zu erfassen, wie würde ich dann den Stand der Pandemie-Gegenwart messen können? Würden mir Berichte und Erzählungen reichen, wie könnte ich diese hochrechnen auf ein ganzes Land, auf eine ganze Lage?

Ansonsten: Der Straßenkarneval in Brasilien wird abgesagt, die Golden Globes finden ohne Zuschauerinnen statt. Durch vermehrtes Home Office sinkt die Zahl der Arbeitsunfälle um zwölf Prozent. Der französische Präsident sorgt für viel Wirbel mit seiner Aussage: »Les non-vaccinés, j’ai très envie de les emmerder« (Ich habe große Lust, den Nicht-Geimpften auf die Nerven zu gehen / auf den Senkel zu gehen / zu piesacken / anzukacken). Gesundheitsminister Lauterbach will den beabsichtigten Pflegebonus zahlen für Pflegekräfte, die in der Pandemie unter besonderer Belastung standen. Laut einer israelischen Studie ist kurz nach der vierten Impfung der derselbe Antikörperstand wie kurz nach der dritten Impfung vorhanden. Rasch steigende Zahlen in Indien, Israel und Australien, in London ist jeder zehnte infiziert.

4. Januar | kurze Quarantäne

In den USA werden eine Millionen Neuinfektionen an einem Tag gemeldet, eine Verdopplung innerhalb einer Woche. In Frankreich 270.000 Neuinfektionen, in Großbritannien 200.000, in Griechenland 50.000. In Deutschland 30.000. Das Bundesland mit der höchsten Inzidenz ist Bremen, das einzige Bundesland, das über die Weihnachtszeit das Personal in Gesundheitsämtern aufgestockt hat.

Zugleich mehren sich die Berichte, Kurven, Untersuchungen, dass die schweren Covid-Krankenfälle nicht synchron mit Omikron steigen, dass diese Welle anders ist als die bisherigen, dass die Zahlen der Neuinfektionen auch anders eingeordnet und verstanden werden müssen.

Trotzdem Omikron, trotzdem die Ansteckungen. Diskutiert wird eine Verkürzung der Quarantänezeit auf bis zu fünf Tage in bestimmten Fällen. Mein erster Impuls: Nicht unerwartet für eine optimierte Leistungsgesellschaft, dass es so schnell wie möglich wieder an den Arbeitsplatz gehen soll und das persönliche Wohlbefinden hinter der Produktivität zurückstehen muss. Beim Lesen darüber dann zweite Impulse. Weil irgendeine Lösung braucht es ja, wenn Viele gleichzeitig für einen längeren Zeitraum nicht ihre Arbeit ausführen können; Strom, Wasser, Nahrungsmittel, Feuerwehr, Krankenhaus. In den Texten versichern Expertinnen, dass eine grundsätzliche Verkürzung mit entsprechenden Tests schon vertretbar wäre, in Ausnahmefällen auch eine starke Verkürzung, um das gesellschaftliche Leben aufrecht zu halten.

Habe ich eine endgültige Meinung dazu? Ich glaube, heute noch nicht. Und frage mich, wie Ausnahmefall definiert werden wird und wie weit diese Ausnahmen gedeutet werden, wenn alles hier auf dem Stand von Bremen sein wird.

Ansonsten: Auf einem Coronaspaziergang in Lichtenstein bei Zwickau beißt ein Teilnehmer einen Polizisten. Mehrere Kreuzfahrtschiffe brechen ihre Reisen nach Coronafällen an Bord ab. Mehr als 150 Millionen Impfungen in Deutschland. Die in Frankreich entdeckte Mutante B.1.640.2 wird sich laut Expertinnen nicht gegen Omikron durchsetzen. Wegen starker Personalausfälle aufgrund Omikron rufen mehrere britische Kliniken den Katastrophenfall aus. Nach 9/11 und Hurrikan Katrina ist die Pandemie laut einer Studie der drittgrößte Versicherungsschaden der Geschichte.

3. Januar | Sucharit Bhakdi

Hans-Georg Maaßen empfiehlt ein Video von Sucharit Bhakdi als »bewegenden Appell […] zur dringenden Notwendigkeit eines Covid-Impfverbots«. Und ich weiß, ich sollte nicht schauen, unter keinen Umständen sollte ich schauen, weil, am Ende werde ich doch wieder eine Faktencheckseite klicken und was erwarte ich überhaupt für eine Erkenntnis.

Entgegen aller guten Vorsätze und der Erfahrung von fast zwei Jahren Pandemie und damit fast zwei Jahren Querdenkens schaue ich dennoch, so, wie wahrscheinlich viele an diesem Tag. Und sehe eine Gegenwelt, diese vollkommene Umkehrung von Ansichten, die ich teile, die mir täglich begegnen, es ist wirklich erstaunlich, weil Sucharit Bhakdi tatsächlich appelliert und tatsächlich voller Überzeugung spricht, voll von ernsthafter Sorge, dass »sie unsere Kinder an die Wand stellen«, dass »sie« die Kinder töten mit den Impfungen und es bewiesen ist durch eine sogenannte »Pathologie-Konferenz«, dass tausende, zehntausende, hunderttausende Menschen an Impfungen verstorben sind. Es ist diese Wahrheit, aus der seine Sorge rührt. Immer wieder wiederholt er fassungslos und erschüttert Zahlen, die ihm besonders großes Entsetzen bereiten.

Da ist Wut und Verzweiflung darüber, dass dieses Morden fortgesetzt wird, obwohl die Fakten so offensichtlich auf dem Tisch liegen, eine Menge Härte und Verachtung in seinen Worten. Es fällt schwer, sich seinen Emotionen zu entziehen, der Appell ist wirkungsvoll, wenn ich das Gesagte außen vor lasse. Das ist, was erschreckt: Er ist kein Scharlatan. Er glaubt, was er sagt. Er ist überzeugt von den Zahlen und deshalb überzeugt von seiner Sorge und daher überzeugt von seiner Wut. Da ist kein doppelter Boden. Deshalb ist er authentisch. Deshalb wird ihm im besonderen Maße geglaubt.

All das lese ich aus den zwei, drei Minuten Video heraus, die ich schaue, all das lese ich heraus und später den Faktencheck und denke, so eine Zeitverschwendung, so ein offensichtlicher, so ein gefährlicher, so ein wirkungsvoller Unsinn, soll das eine Erkenntnis sein, und später schreibe ich darüber einen Eintrag, auch wider besseres Wissen.

Ansonsten: Um für Impfungen zu werben, stellen Schäfer aus Schneverdingen mit ihren 700 Tieren eine rund hundert Meter lange Spritze nach. Zahlreiche Infektionen bei Sportlerinnen und Politikerinnen. In Spanien steigt die Inzidenz sprunghaft auf 2295, die in Deutschland leicht auf 232. Laut einer nichtrepräsentativen Umfrage der BILD vertraut die Mehrzahl der Deutschen nicht mehr den aktuellen Coronazahlen.

2. Januar | zwischen den Jahren

Keine Wand, die sich auftürmt, keine Infektion im Freundes- und Familienkreis, kaum, dass sich Corona in die Gespräche mischt – abgesehen vom Üblichen –, kein Dissens, kein Ausfechten von Standpunkten, kein Widerlegenwollen von Argumenten: ein kleiner Frieden zwischen den Jahren, solange ich den Blick nicht hebe. So ist der Vorsatz für 2022: Ende Februar nach zwei Jahren diesmal tatsächlich von den Einträgen lassen.

Ansonsten: Eine große Maßnahmen-Demonstration in Amsterdam. Auf einer Polarstation in der Antarktis infizieren sich 2/3 der geimpften Forscherinnen mit dem Virus. Nachdem sich vier geimpfte Fußballspieler von Bayern München infizieren, kocht die Diskussion um Joshua Kimmich wieder hoch. Ein Vorschlag, auf den zukünftigen Euro-Geldscheinen die Biontech-Gründer Ugur Sahin und Özlem Türeci abzubilden.

31. Dezember | Rauhnacht

Wir sitzen im Garten, das Abendrot über uns längst verschwunden, in den Zonen der Stadt, wo Feuerwerk erlaubt ist, knallt es schon, in den anderen auch. Weil wir keinen Stift bei uns haben, flüstern wir die Dinge, die wir hinter uns lassen wollen, in Zettel hinein, ein Ritual der Rauhnächte. Wir werfen sie in die Feuerschale, die Papiere und damit die Dinge, von denen wir uns lösen wollen. Das Holz zur Glut runtergebrannt, reicht das Feuer noch für einen letzten Brand, fressen die Flammen die unsichtbaren Worte. Ich flüstere die gesamten Einträge, auch wenn das Papier dafür nicht reicht und das Feuer ebensowenig, ist es das, was ich vom neuen Jahr begehre.

Ansonsten: In Israel beginnen die vierten Coronaimpfungen für Immungeschwächte. Mehrere Länder melden Höchstwerte an Neuinfektionen.

30. Dezember | Pandemie der Geimpften

Unter »Pandemie der Geimpften« wird versucht zu belegen, dass die Impfung nichts taugt, dass Geimpfte öfter anstecken, öfter angesteckt werden, öfter im Krankenhaus landen, dass die Geimpften im Gegensatz zu den Ungeimpften Treiber der Pandemie sind etc.

In regelmäßigen Abständen tauchen ähnliche Schlagworte auf, Hashtags, unter denen gerechnet und argumentiert wird und aufgeregt vermeintliche Lügen aufgedeckt werden über: Hospitalisierungsrate, Belegung der Intensivbetten, Übersterblichkeit, Ansteckungsrate etc. Sie stellen scheinbar als gesichert geltende Erkenntnis in Frage und ziehen damit Grundsätzliches in Zweifel. Diese vermeintlichen Beweisführungen sind eine der mühsamsten Dinge in der Pandemie. Mühsam, weil es Kraft und Zeit kostet, zu verstehen, weshalb sie nicht stimmen, mühsam, weil diese Behauptungen doch oft einen wahren Kern enthalten und ich begreifen muss, weshalb sich dieser Kern anders darstellt als behauptet. Es ist ein Dauerfeuern mit selektiven Zahlen, Ausschnitten aus Graphen, absichtlich falsch verstandener Aussagen, dem Weglassen von Informationen. Es erfordert nicht viel Aufwand zu behaupten, weil die Lüge oft die einprägsame Geschichte ist und ihre Widerlegung an Mindestmaß an Bereitschaft erfordert, sich auf Komplexität einzulassen und wenn man ehrlich ist, wer hat dafür noch die Kraft?

Ansonsten: Diskussion um eine verkürzte Quarantänezeit, um einem Personalmangel in lebensnotwendigen Einrichtungen und Branchen vorzubeugen. Erstmals weltweit mehr als eine Million Neuinfektionen an einem Tag.

29. Dezember | Spaziergänge

Die Stadt München untersagt Coronaspaziergänge und droht Teilnehmenden mit Geldbußen bis zu 3000 Euro. Die Coronaspaziergänge gibt es lange schon, der erste Eintrag, in dem sie hier auftauchen, datiert auf den 10. Mai 2020. Solche Spaziergänge sind das scheinbar zufällige Zusammentreffen von Gegnerinnen der Coronamaßnahmen. »Spaziergang« ist ein Euphemismus, der Versuch, etwas harmlos und beiläufig erscheinen zu lassen, letztlich eine Relativierung. Etliche dieser Demonstrationen sind verbunden mit Gewalt gegen Journalistinnen und Ordnungskräfte, werden diese Veranstaltungen oft von Rechtsextremen organisiert und nutzen deren Strukturen.

Vorgestern verwendete ich das Wort »Empörungsgossip«, auch in Bezug auf solche Spaziergänge, eben die Absicht, sich nicht von jeder Demonstration triggern zu lassen. Dieses Vermeiden ist notwendig für meine mentale Gesundheit. Und zugleich ist es die Stetigkeit und Vielzahl solcher Spaziergänge, gerade in den letzten Wochen, die sich nicht einfach ignorieren lässt. Weil durch wöchentliche Spaziergänge eine Gewöhnung eintritt, eine Normalisierung von Übergriffen findet statt, eine Form von gewaltbereiter Routine entsteht, bei welcher der dritte Weg auf deine esoterische Nachbarin trifft und das ständig.

Heute ist es München, gestern war es Bautzen. Doch ist es anders, wenn 10.000 durch eine Millionenstadt ziehen, als wenn jede Woche 500 durch eine 15.000-Einwohnerstadt marschieren; mit ihren Fackeln und ihrem Schreien und den Nazis im Rücken, die Leute, denen man morgens im Kindergarten begegnet oder im Supermarkt, eine andere Form von Gefährlichkeit, wenn die Fackelträger in deiner Straße wohnen und wissen, wo du zuhause bist. Gestern haben Journalistinnen unter dem Hashtag #AusgebranntePresse die Gewalt gegen sie auf solchen Spaziergängen geschildert. Aus München wird immer jemand berichten. Aber die zwei lokalen Reporter aus Hildburghausen werden sich überlegen, was sie bereit sind zu riskieren.

Ein anderer Blick wäre: Unter anderen Umständen müsste ich dem Prinzip der Spaziergänge mit Wohlwollen begegnen. Eine Form des zivilen Widerstands, eine kreative Lösung, um sich trotz Versammlungsverbot zu versammeln, das Nutzen von lokalen Netzwerken, die trotz ihrer geringen Bedeutung in der Masse Wirkung entfalten. Eine eigentümliche Umkehrung findet statt: Die linke Seite verteidigt die Obrigkeit, die Rechte positioniert sich dagegen.

Dieser Artikel beschreibt sehr gut, weshalb das althergebrachte Bild von links / rechts eine Vereinfachung ist, die sich nicht so ohne weiteres über die Coronagegenwart legen lässt. Im Artikel fällt der Begriff des regressiven Rebellen, »Viele der regressiven Rebellen neigen zur Provokation, sie sind fast beständig im mentalen Modus antiautoritärer Meuterei gegenüber den liberalen Normen«. Es lohnt sich, diesen Text zu lesen, weil er viele der irritierenden Gegensätzlichkeiten dieser Zeit einordnet.

In meinem Bekanntenkreis gibt es solche, die auf Spaziergängen mitlaufen, andere, die Videos teilen, um das Bild einer Massenbewegung zu suggerieren. Verbunden ist das stets mit einer vermeintlich unpolitischen Haltung: man sei weder links noch rechts, sondern nur der Sache selbst wegen dabei und dafür. Das Rechtsextreme wird schon wahrgenommen, aber abgetan; da laufen nur ein paar Idioten mit, der Rest sind normale Leute, heißt es.

Und vielleicht ist es diese beflissene Selbsttäuschung, die diese Spaziergänge so gefährlich macht; die Naivität, die Unfähigkeit, genau hinzuschauen, das bewusste Ignorieren von Strukturen, das achselzuckende Akzeptieren der »paar Idioten«, die blinde Bereitschaft, sich vereinnahmen lassen, das Hinnehmen von Gewalt, die somit ein Teil der Normalität wird, man selbst als Spaziergänger zu genau dem Lemming wird, den man in dem anderen so gerne sieht. Und am Ende brennen die Fackeln und Journalisten werden durch die Straßen gejagt und die eigenen Kinder in den Pfeffersprayregen geworfen und hinter den Transparenten reiben sich die mit den Armbinden, auf denen »Heimatschutz« steht, die Hände und man frohlockt gemeinschaftlich, weil sich ein solcher Spaziergang doch ein bisschen sehr nach der Revolte anfühlt, die man so gern möchte.

Ansonsten: Laut einem Sprecher des Bundesinnenministeriums stellt die steigende Zahl kleiner und spontaner Coronakundgebungen die Polizei vor Probleme. In der chinesischen Stadt Jingxi werden 4 Männer, die sich nicht an die Coronaregeln gehalten haben, in einer Art öffentlicher Pranger durch die Straßen geführt. In der chinesischen Stadt Xi’an kommt es nach einer Woche Lockdown zu Versorgungsproblemen. Nach dem Besuch der Diskothek Joy müssen 820 Besucherinnen in Quarantäne. Laut Untersuchen erkennen Antigen-Tests Omikron nicht so gut wie die anderen Mutanten. In Deutschland sinkt die Inzidenz auf 205. Über 200.000 Neuinfektionen in Frankreich. Mit 440.000 Neuinfektionen an einem Tag wird ein Höchstwert in den USA gemeldet. Die Zahl der weltweiten Neuinfektionen erreicht den höchsten Wochenwert seit Pandemiebeginn.

28. Dezember | Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht entscheidet, dass der Bundestag unverzüglich Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer Triage treffen muss und allein, dass es eine richterliche Anordnung dafür braucht, lässt mich frösteln.

Ansonsten: Frankreich meldet mit 180000 Infektionen einen Höchstwert. Großbritannien meldet mit 120000 Neuinfektionen einen Höchstwert. Höchstwerte auch in Portugal, Italien und Griechenland. In Deutschland fällt die Inzidenz auf 215, 21000 Neuinfektionen werden gemeldet. Einer der Mitfavoriten bei der Darts-WM muss wegen einer Coronainfektionen aufgeben. Das Ziel von 40% Geimpfter 2021 weltweit wird laut WHO verfehlt. Deutschland bestellt eine Million Packungen des Coronamedikaments Paxlovid.

27. Dezember | Empörungsgossip

Die Pandemie ist vieles. Auch Unterhaltung. Personen, die für alles andere als Zerstreuung stehen, werden in der Pandemie Teil einer Art Soap Opera, der ich amüsiert folge, weil ich die nebensächlichen Entwicklungen mit Interesse wahrnehme, Gossip wie in den bunten Blättern. Der Leiter des Robert-Koch-Instituts fährt dem neuen Gesundheitsminister in die Parade, werden sie sich auf der nächsten Bundespressekonferenz versöhnen? Karl Lauterbach zählt Jens Spahn wegen zu wenig bestellter Impfdosen an, wie verteidigt Paul Ziemiak seinen Parteilkollegen? Karl Lauterbach wird von vielen gefeiert, wer schreibt ihn nach wenigen Tagen im Amt ab, weil er sich keinen Omikron-Lockdown vor Weihnachten traut? Lisa Fitz spricht von 5000 Impftoten, welche Zeitungen werden ihr ausgiebig Gelegenheit zum Weitersprechen geben? Volker Bruch wird zum peinlichsten Berliner gekürt, mit welcher Videobotschaft wird er sich zu Wort melden? Die Universität Halle will Alexander S. Kekulé von der Lehrtätigkeit ausschließen, welcher Virologe wird dem Kollegen zur Seite springen? Welchen Politiker wird Marietta Slomka heute ins Corona-Kreuzverhör nehmen?

Auch Empörung ist Unterhaltung. Die seltsamen Aussagen dieser seltsamen zornigen Menschen, die in Freiberg, Hildburghausen und Schweinfurt demonstrieren mit ihren kläglichen Versuchen, ihr Handeln in einem rechtschaffenen Licht erscheinen zu lassen. Eine absurde Wendler-Telegram-Nachricht. Eine Politikerin, die fordert, dass Polizisten Pfefferspray gegen Demonstranten einsetzen sollen. Demonstrantinnen, die ihre Kinder beim Durchbrechen von Polizeiketten mitnehmen, Kind wird verletzt, Anzeige wegen Kindeswohlgefährdung und im Telegram wird verbreitet, dass die Staatsknechte wehrlose Babys angreifen, um ihre Diktatur durchzusetzen. Der NRW-Gesundheitsminister, der in einem Interview besorgt berichtet, dass »das Neue an dieser Omikron-Variante ist, dass sie sich über die Luft überträgt.«

Nicht alles davon ist unwichtig. Nicht alles erzählt nichts. Manches sagt viel über die momentane Gegenwart aus, vielleicht mehr, als ich jetzt ahne. Aber vieles ist Coronaempörungsgossip, dient der Ablenkung und Zerstreuung, was nicht einmal verkehrt sein muss, weil ich etwas, das seit zwei Jahren mein Leben bestimmt, natürlich nicht nur auf einer rationalen Ebene wahrnehmen kann. Die handelnden Personen werden Teil meiner Welt, ich schreibe ihnen Eigenschaften zu und folge ihrer Reise durch diese Zeit. Auch die Muster der Empörungen passe ich an, ich weiß, worauf ich reagiere, was mich wie triggert, ich suche diese Muster und Variationen davon, weil nicht alles Ernste gleich ernst sein kann.

Ansonsten: Coronafall im Ischgler Lokal Kitzloch, das im Februar 2020 der erste große Ausgangspunkt für viele Infektionen war. Einen Tag nach Übergriffen auf einer Coronademonstration in Schweinfurt stehen einige Teilnehmerinnen vor Gericht. Die Bundesregierung verschiebt das Ziel von 80% Erstimpfungen auf Januar. In New York wird ein vierfacher Anstieg der Krankenhauseinweisungen bei Kindern unter 18 Jahren wegen Omikron gemeldet. Frankreich meldet 100000 Neuinfektionen an einem Tag. Mit 162 neuen Infektionen an einem Tag meldet China die bislang höchste Zahl des Jahres.

26. Dezember | dreißig Millionen

Dreißig Millionen Boosterimpfungen, der größte Teil davon in den letzten Wochen. Eine Zahl, die alle Aufmerksamkeit verdient, weil sie viel sagt über die Relationen in der Pandemie. Jeden Tag werden mehr Menschen geimpft, als seit Monaten Menschen auf die Straße gehen gegen das Impfen. Und zugleich sind solche Vergleiche auch Augenwischerei: Denn damit die Impfrechnung am Ende aufgeht, braucht es auch ein Teil derer, die heute noch Polizeiketten durchbrechen. Da nutzen alle Relationen nichts.

25. Dezember | Dezembergegensätzlichkeiten

In den Dezemberwochen eine seltsame Gleichzeitigkeit von Gegensätzlichkeiten. Das unerwartet frühe Stagnieren und später Sinken der Zahlen der 4. Welle beim gleichzeitigen Auftauchen von Omikron und der Annahme bzw. woanders schon stattfindenden rapiden Steigen der Zahlen. Die große Bereitschaft für Dritt- und Kinderimpfungen und zugleich die lokalen »Spaziergänge« und Demonstrationen, die mit zunehmender Stetigkeit, Intensität und Wut gegen das Impfen angehen. Das Einsetzen einer neuen Regierung und Personen, mit denen sich Erwartungen für einen anderen Umgang mit der Pandemie verbanden und einer seltsam anmutenden Behäbigkeit im Blick auf Omikron. Die Vorweihnachtszeit, die glitzerte und versprach wie immer und all die abgesagten Weihnachtsroutinen. Die Aufgeregtheit, mit der alle paar Tage unwichtiger Coronaempörungsgossip hochkocht und die seltsame Gelassenheit, mit der hingenommen wird, dass Ämter angesichts der Überlastung nicht mehr richtig arbeiten (können) und es die nächsten Wochen keine verlässlichen Zahlen geben wird. Bei mir eine grundsätzliche Erschöpfung und dennoch weiterhin die ungesunde Coronagetriebenheit. Die Falsch-Positivs in den letzten Wochen und die Tage dazwischen, die sich wie die Ausnahme anfühlen. Das Jahresende, das einen natürlichen Abschluss bildet und das Wissen darum, dass dieses Ende ein Auftakt sein könnte. Das gleichzeitige Vertrauen und Misstrauen in die Modelle. Dieser Dezember war schwer zu handhaben, schwer, einen Blick zu finden und sich ein Bild zu machen in den ständigen, stetigen Wechseln.

Ansonsten: Die Inzidenz sinkt weiter, nun auf 243. Das Landeszentrum für Gesundheit NRW teilt mit, dass es während der Weihnachtsfeiertage und Silvester keine Meldungen ans Robert Koch-Institut übermittelt. In mittlerweile allen Bundesländern ist Omikron nachgewiesen. In Düsseldorf beginnt über die Weihnachtstage ein 81-stündige Corona-Impfmarathon, geimpft wird rund um die Uhr im Drei-Schicht-Betrieb. Der Zentralverband der Geflügelwirtschaft warnt, dass es bei der Omikronwelle zu einem Rückstau von schlachtreifen Tieren in den Ställen kommen könnte.

23. Dezember | mild

Mehr und mehr Berichte, die von einem milderen Verlauf Omikrons sprechen, weniger Krankenhauseinweisungen, auch bei Ungeimpften. Grund dafür soll sein, dass sich mehr Viren in den Bronchien befinden, was für eine größere Ansteckung sorgt, dafür weniger tief in die Lunge gehen, weshalb die Infektion nicht so schwer verläuft.

Das lese ich und reime mir zusammen und bin – bei allem Wissen um die Folgen einer großen Ansteckungsrate – milde erleichtert. Es klingt nicht nach dem Schlimmsten im Schlimmen, sondern wie ein Silberstreif, so reime ich mir das am Tag vor Weihnachten zusammen, nichts ist gewonnen, aber zumindest, immerhin.

Dabei lasse ich die Einträge der letzten Wochen Revue passieren. Und frage mich, ob es diese gebraucht hätte; all die Worte über die Mutante, die aufgenommenen Informationen, Mutmaßungen, die Besorgnis. Hätte ich mir das ersparen können?

Ich frage mich: Hätte ich mir dieses Hinbegeben in die Coronawelt ohne das Schreiben nicht längst schon gespart? Hätte ich ohne das Schreiben Anfang Dezember von einer Mutante gehört und mich von da an lose und leidenschaftslos einigermaßen auf dem Laufenden gehalten, vielleicht nicht einmal das?

So aber ich tauche jeden Tag in die Texte und Szenarien, verstehe nur rudimentär, bilde mir dennoch einen Standpunkt dazu, weil das Schreiben es erfordert, weil ich mich der Arbeit von fast zwei Jahren verpflichtet fühle. Wenn ich mir an diesem Tag vor Weihnachten etwas wünsche, dann, dass diese zwei Jahre bald vergangen sein werden und das Gefühl einer Notwendigkeit abklingt, dass es keinen inneren Drang mehr gibt mich informieren zu müssen, die Coronawelt nur eine von vielen ist, die mein Schreiben und Sehen beschäftigt.

Ansonsten: Nach 63 lokalen Infektionen verhängt China einen Lockdown über die 13-Millionen-Stadt Xi’an, jede Familie kann ein Mitglied bestimmen, das alle zwei Tage einkaufen gehen darf. Händler schätzen den Umsatzrückgang wegen der 2G-Reglung im Weihnachtsgeschäft auf 30%.

22. Dezember | prep

Im ersten Eintrag der Coronamonate versuchte ich mich einzudecken mit Vorräten, weil ich gelesen hatte, dass schlimme Zeiten bevorstehen könnten. Schnell hatte ich die Sorge vor einer Versorgungsknappheit abgelegt, der Supermarkt stand in jeder Welle offen, die kleinen Scharmützel um bestimmte Waren (Toilettenpapier, Nudeln, Hefe) waren eher letzte Sätze im Ansonsten als Grund echter Befürchtungen.

Nun erwarten »Fachleute Millionen Arbeitsausfälle durch Omikron« und rechnen damit, dass »Menschen mit systemrelevanten Berufen zeitweise nicht mehr arbeiten können werden«, in England kommt es zu Personalengpässen und der Innenminister von NRW rät zu Taschenlampe, batteriebetriebenen Radio, geladener Powerbank und »natürlich« ein Lebensmittelvorrat für mehrere Tage. Natürlich ein Lebensmittelvorrat, ein natürlich, die normalste Sache der Welt.

Schon im Februar 2020 merkte ich, dass ich zum Prepper nicht geeignet bin. Geändert hat sich seitdem nichts. Der Gedanke, dass in wenigen Wochen eine Situation eintreten könnte, in der ich nicht über ausreichend Lebensmittel verfüge, in der Strom, Heizung und Internet ausfallen, erscheint mir, trotz aller Annahmen über Omikron, absurd. Es erscheint absurd, mich ab heute auf eine solche Situation des Mangels einzustellen. Gründe gibt es viele; Scham, Trotz, Aberglaube, Furcht, Zuversicht. Das Zurückziehen in den letzten beiden Jahren war bei aller Schwere immer mit Komfort verbunden; ich habe mir um vieles Gedanken machen müssen, aber nie, wie ich an Wasser oder Wärme komme. Würde sich das ändern, wäre das etwas Existenzielles, Grundlegendes – das System funktioniert nicht mehr und kann nicht mal meine Grundbedürfnisse abdecken. Ich wäre auf mich geworfen, die Katastrophe würde dem Bild entsprechen, das ich aus den Geschichten über Katastrophen kenne. Darauf will ich mich nicht einlassen, denke ich.

Also sehe ich nach Südafrika, wo die Omikronwelle schon am Abklingen ist, lese von den Berichten über die milderen Verläufe, lese auch von den Besonderheiten eines jeden einzelnen Landes mit Genesenen, Geimpften, der Altersstruktur, lade meine Powerbank auf und bin ansonsten nicht bereit, einem kommenden Mangel heute schon entgegenzutreten.

Ansonsten: Die Inzidenz in Deutschland sinkt unter 300. Mehr als 100000 Neuinfektionen in den Großbritannien. Großbritannien verkürzt die Quarantänezeit von 10 auf 7 Tage. Die Anti-Covid-Pille Paxlovid erhält in den USA die Notfallzulassung. In Italien singen drei bekannte Virologen auf die Melodie von Jingle Bells den Impf-Aufruf-Song Sisivàx.

21. Dezember | Weihnachtsimpfen

Im Seminargebäude neben der Weimarhalle findet heute ein »Weihnachtsimpfen für Groß und Klein« statt, inklusive kleiner Überraschung für jedes Kind.

Gegen Abend verkündet die Regierung… ja, was eigentlich? Wie ist es zu nennen, wenn das meiste bleibt wie bisher und damit nicht geeignet ist, etwas gegen Omikron auszurichten; kleine Kontaktbeschränkungen nach Weihnachten, Tanzverbote und ansonsten Impfaufrufe? »Verschärfte Maßnahmen« wird geschrieben, weil eine Bezeichnung braucht es ja.

Irgendwie ist es auch egal, denke ich, was werden Maßnahmen schon bringen, dann käme Omikron eben etwas später, so eben etwas früher und nehme den Gedanken sofort zurück, weil ich ja weiterhin weiß, dass jeder gewonnene Tag dennoch etwas ausmacht, gerade bei einer Virenvariante mit einer Verdopplung aller drei Tage und überlege dann, warum es mir so gleichgültig ist, was beschlossen wird, weshalb ich so wenig erwarte, vielleicht, weil diese oft unzureichend und mutlos anmutenden Beschlüsse seit fast zwei Jahren Teil der Zeit sind und ich sie leidenschaftslos hinnehmen muss, damit ich sie noch hinnehme, vielleicht in diesem Fall, weil ich weiterhin die fatalistische Annahme habe, dass das Kommende unausweichlich ist.

Und dann stehe ich am Seminargebäude und sehe, wie Eltern mit ihren Kindern zum Weihnachtsimpfen gehen, manche eilen, ein Vater nimmt vor der Halle seine Tochter bei Temperaturen um die Null fest in die Arme und ich denke, dass weiterhin jeder Tag zählen muss, auch wenn es nach fast zwei Jahren und unendlich vielen Bundespressekonferenzen mir nicht mehr sofort einleuchten mag.

Ansonsten: Die Regierung beschließt etwas verschärfte Maßnahmen. Das Robert-Koch-Institut fordert sofortige »maximale Kontaktbeschränkungen«. Die europäische Arzneimittelbehörde empfiehlt die Zulassung des Proteinimpfstoffs von Novavax. Bei mehreren Coronademonstrationen werden Polizisten verletzt, u.a. wird in Annaberg-Buchholz ein 60jähriger Polizist von 25 Personen eingekesselt und zusammengetreten. Nachdem in Shanghai das Amt zur Kontaktverfolgung eine Liste von Orten veröffentlichte, an denen sich ein japanischer Infizierter aufhielt, wird diese Liste nun als Restaurantführer für authentisches japanisches Essen in der Stadt verwendet.

20. Dezember | gleich zwei

Expertinnen warnen und einige halten das für übertrieben und die Entscheiderinnen treffen sich »morgen« (und damit gefühlt immer eine Woche zu spät) und manche treffen sich montags zum Spaziergang mit Kerzen und jemand aus der deutschen Unterhaltungsbranche haut ein irres Coronading raus und bekommt dafür recht viel Aufmerksamkeit und alles ist wie immer, in jeder Schleife perfide Updates, diesmal Impfgegnerinnen, die Eltern, die mit ihren Kindern ins Impfzentren gehen, fragen: »Wollen Sie gleich zwei opfern?«

19. Dezember | Hotzenplotz

Mein Sohn spielt bei einem Freund. Geschlossener Innenraum, mehrere Stunden. Währenddessen erfährt der Vater, dass sein Test positiv ausgefallen ist. Ein Anruf, wir holen unser Kind ab. Und nun? Die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung hoch. Doch wann ist diese nachweisbar? Jetzt schon? In den nächsten Tagen erst? Jedenfalls: selbstauferlegte Quarantäne. Absagen für die nächsten Tage, bis ein PCR-Test (oder zwei) Gewissheit bringt.

Und bis dahin? Wie verhalten? Wir sind dreifach geimpft. Unsere Kinder nicht einmal. Mindestabstand unmöglich, wie soll das gehen, Mindestabstand zu den eigenen Kindern? Wir sorgen uns, wir lüften und lüften und lüften und abends lese ich Räuber Hotzenplotz mit Maske im Gesicht. Es fühlt sich nur ein kleines bisschen vernünftig an.

Ansonsten: Der Expertenrat veröffentlicht eine Stellungnahme zu Omikron, schreibt darin: »Neben dem konsequenten Handeln ist stringentes Erklären entscheidend. Die Omikronwelle trifft auf eine Bevölkerung, die durch eine fast zweijährige Pandemie und deren Bekämpfung erschöpft ist und in der massive Spannungen täglich offenkundig sind.«

18. Dezember | die Wand

Katastrophenfall, Verdopplungszeit, R-Wert 7.2, Überlastung, rapide steigend, Rekordwert, extreme Secondary Attack Rate, Kontrollverlust, Dynamik – all diese Worte zu Omikron. Vor allem: die Wand. Das ist das Bild der Tage. Omikron = die Wand. Keine Kurve mehr. Sondern ein so steiles Ansteigen der Infektionszahlen, dass die Verbindung zwischen den Punkten wie eine Wand anmutet.

Was mit diesem Bild einhergeht, ist eine apokalyptische Vorstellung. Das, was seit Beginn der Pandemie versucht wurde zu verhindern, tritt mit dieser Wand ein: sehr viele werden zur gleichen Zeit infiziert sein. Diese Wand, das ist die Summe dieser Worte, wird in den nächsten Wochen geschehen, diese Wand, sagen die Worte, ist unabwendbar.

Ich weigere mich, das zu schreiben. Weigere, wieder schwarz zu sehen, wieder das Schlimme anzunehmen, begebe mich sowieso viel zu bereitwillig in den Strudel dunkler Vorahnungen. Gerade jetzt, im Fallen der vierten Welle, unter der Weihnachtsbeleuchtung, am Ende eines Jahres will ich das nicht. An diesem Ende will ich den Abschluss des erschöpfenden und in vielen Belangen beschissenen Alten feiern. Das Ende soll kein Anfang von etwas Neuen sein, etwas Neues wie die Wand, die das Bisherige bei allem übertreffen könnte.

Allein dieser letzte halbe Satz. Das Bisherige übertreffen. Panikmache. Ich verwende voller Pathos apokalyptisch, hole die vermeintliche schwere Zukunft in meine Gegenwart und belaste mich damit doppelt.

Was wäre die Alternative? Die Expertinnen ignorieren, die Kurven und Modelle, die Meldungen aus den Ländern, die sind, wo Deutschland sehr bald sein könnte? London, wieder London als Katastrophenort der Pandemie, London, wo wegen der vielen Neuinfektionen die Einsatzbereitschaft von Feuerwehr und Krankenhäusern zu kippen droht.

Über all diesen Berichten das Wort »unabwendbar«. Die Ansteckungsrate der Mutante derart hoch, dass ein wirkungsvoller Schutz ein radikales Beschränken über lange Zeit wäre. Eine Woche vor Weihnachten die Geschäfte schließen? Die Schulen schließen? Über Weihnachten keine Besuche? In wenigen Wochen die Impflücken bei den Kindern und den Impfverweigerinnen schließen?

Weihnachten ebenso nah wie Omikron als dominante Variante, ein Fest vor der Wand, dann der Januar. Wie soll dieser Januar aussehen? Soll ich glauben, was sich abzeichnet, mir all die Worte zu Herzen nehmen, den Warnungen und Vorhersagen der Expertinnen trauen? »Omikron fühlt sich an wie ein Endgame«, habe ich gestern geschrieben. Es fühlt sich an, als würde auf jeden Fall geschehen, was nie geschehen sollte. Und das sehr bald. Da ist sie, die Panikmache. Da ist, wonach es aussieht.

Ansonsten: Um Omikron zu bremsen, verhängen die Niederlande einen Lockdown bis Mitte Januar. Wegen der rapiden Ausbreitung der Omikron-Variante erklärt London den Katastrophenfall. Diskussion darüber, ob die von der Kabarettistin Lisa Fitz in einer Fernsehsendung genannte falsche Zahl von 5000 deutschen Impftoten unter den Begriff der »Meinungsfreiheit« fällt. 

17. Dezember | Endgame

Mehrere Länder melden Höchststände an Neuinfektionen. Die Zuwächse sind groß, die Vermutungen über die hohe Ansteckrate von Omikron scheinen sich zu bestätigen. Eine Verdopplungszeit der Ansteckungen aller 2-3 Tage wird angenommen. In Deutschland arbeitet diese Verdopplungszeit gegen die fallenden Deltaansteckungen. Es gibt wenig Grund zur Annahme, dass es hierzulande anders kommen sollte, dass Omikron mit seinen Eigenschaften nicht zur vorherrschenden Coronavirusvariante werden sollte.

Von allem, was ich über Omikron lese, fühlt sich Omikron wie ein Endgame an, wie eine finale Auseinandersetzung mit dem Virus, die mehr als bisher fordern wird, welche die Zahlen und damit – trotz eines möglichen milderen Verlaufs – auch die Folgen in unbekannte Höhen treiben wird, sehr bald schon, komprimiert auf eine kurze Zeitspanne. Die Modellierer skalieren, rechnen die Zahlen anhand der verfügbaren Informationen hoch. Worst-Case-Szenarios werden erstellt, selbst das Best-Case-Szenario lässt mich still den Blick senken.

Zugleich frage ich mich, ob sich diese vermute Wirkung von Omikron in den Zahlen wiederfinden lassen wird. In der vierten Welle lag der offiziell vermeldete Höchststand bei 80000 Neuinfektionen am Tag. Die Labore waren überlastet, Landkreise meldeten nicht mehr. Wie viele Meldungen an einem Tag sind in Deutschland technisch überhaupt möglich? In der zweiten Welle im letzten Jahr blieben die Zahlen über Weihnachten, Neujahr bis Mitte Januar unvollständig. Es wurde weniger getestet, weniger Ämter waren besetzt, weniger wurde gemeldet.

Beides könnte bei Omikron zusammenkommen. Der Blindflug über Weihnachten und die technische Obergrenze. Die Mutante könnte in zwei Wochen schon eine verheerende Wand sein und es könnte sein, dass die Zahlen das nicht abbilden.

Trotz der hohen Zahlen werden viele keine oder nur wenige Folgen spüren. Die Folgen geschehen in den Krankenhäusern. Was dort geschieht, bleibt unsichtbar oder anekdotisch. Wird sich die Wucht von Omikron dadurch bemerkbar machen, dass sich mehr Menschen als bisher in Quarantäne befinden und deshalb mehr Stellen im öffentlichen Leben nicht besetzt sind? Wird jeder mehr Geschichten von Kranken aus dem näheren Umfeld kennen? Was werden die Zahlen von Omikron erzählen, was werden wir erzählen?

Ansonsten: Die 7-Tages-Inzidenz in Deutschland sinkt weiter. Der 7-Tages-Durchschnitt bei den Impfungen liegt bei über einer Million.

16. Dezember | Was spricht gegen jetzt?

In den letzten Tagen in Gesprächen mit Geimpften mehrmals Sätze, die verschämt halbgesagt abgebrochen werden: Und was schon, wenn es geschieht? Die Frage ist doch nicht ob, sondern wann. Irgendwann krieg ich es doch sowieso. Was spricht gegen jetzt?

Ich zögere, diesen Eintrag zu schreiben. Weil es von Anfang an Kernanliegen meiner Pandemie war, ein Anstecken zu vermeiden. Was auch sonst. Und dennoch der Gedanke: Ich bin gerade geboostert, gäbe es einen besseren Zeitpunkt dafür, meine Antikörper auf einem All-Time-High.

Es ist eine Fiktion, ein letztlich dummer Gedanke, der, gäbe es hier eine Kommentarfunktion, zu Recht dutzendfach Einspruch hervorrufen müsste, dazu die notwendigen Argumente; das (Rest)risiko, die Kinder, all die Anderen etc.

Ich denke an die nicht geschriebenen Kommentare und stimme zu. Aber Omikron wird die Karten neu mischen, wird das irgendwann sehr schnell sehr viel näherrücken. Und es existiert noch ein anderes Irgendwann. Irgendwann wird es eine Form Normalität geben müssen, die nicht von Angst vor Corona besetzt ist, wird es Zeit ohne Gs und Masken und Abstand geben müssen.

Wenn die Coronamonate irgendwann enden – und das werden sie müssen, das werden sie müssen, das werden sie müssen – dann werde ich mich jederzeit freiwillig so verhalten, dass ich mich höchstwahrscheinlich anstecken könnte. Ich werde kaum noch etwas meiden und mir untersagen wegen Corona, kaum etwas wird mir wegen Corona untersagt werden.

Vielleicht muss für mich, muss für alle die Ansteckung Teil eines Jahreszyklus sein? Das wäre etwas wie endemisch, etwas, auf das die Hoffnung gerichtet ist. Wenn der Sars-CoV2-Virus endemisch ist, ist es geschafft, das ist so ziemlich das einzige Ziel, das als Ziel definiert ist. Es gibt notwendigen Widerspruch dagegen, der sagt, dass endemisch eben nicht keine Gefahr mehr bedeute, sondern zyklische Gefahr und das könne keiner ernsthaft wollen.

Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ein realistisches Ziel ist, das Virologen und Neurologen abnicken würden. Ich weiß nur: Die Coronamonate müssen enden.

Im Grund geht es darum, die ständige Sorge, das dauerhafte Ducken, die permanente Passivität zu verlassen. Die Wochen, mehr als je zuvor, fühlen sich an wie eine Jagd. Ich bin der Gejagte. Jedes Mal, wenn ich schneller werde, ein gutes Versteck gefunden habe, mir eine stärkere Rüstung zugelegt habe, holt der Jäger auf. Die Jagd macht mich müde. Ich laufe seit Monaten mit Kraft, die nicht mehr vorhanden ist. Ich möchte mich umdrehen, mich dem Jäger stellen und sagen »Schieß, damit es vorbei ist, ich bin geschützt, du kannst mir nichts anhaben, aber lass mich nicht länger mehr rennen müssen.«

Weil es unzureichende Metaphern für alles gibt und für Pandemien, Ängste und Erschöpfung sowieso im Überfluss, geht nichts von diesen Gedanken auf und trotzdem irren sie umher, in den Gesprächen, in diesem Eintrag, jetzt.

15. Dezember | porös

Heute ein Tag, an dem die vielgelobte Resilienz zusammenschrumpft auf eine poröse Schicht zweckmäßiger Vernunft als Rüstungsrest gegen die Coronawelt.

Ansonsten: Laut neuem Gesundheitsminister werden den kommenden Monaten Impfstoffe fehlen, weil vom alten Gesundheitsminister nicht genügend geordert wurden. In mehreren EU-Ländern laufen Corona-Impfkampagne für Kinder an. Laut Pfizer senkt das entwickelte Covid-Medikament das Risiko eines Krankenhausaufenthalts um 89%, wenn es innerhalb von 3 Tagen nach den Symptomen verabreicht wird. Mehr als 800000 Coronatote in den USA.

https://twitter.com/JuleTheres/status/1470855718429511683

14. Dezember | Kimmich III

Der gestrige Eintrag war auch eine Form von Selbstschutz, dem Auswaschen und Ablegen von Eindrücken und Gedanken, die mir alle ersparen könnte, wenn ich die ganze Querdenkerbewegung ausblenden würde. Vermutlich wäre das ohnehin das Beste, weil dem kleinen Teil von Anfang an viel zu viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Wie oft ich das schon geschrieben habe und dennoch darüber geschrieben habe.

Zugleich gibt es diese Gruppen und Gedanken und Taten, und anders als ich das in einem Eintrag vor einem halben Jahr schrieb, hat sich das nicht erledigt, sondern scheint an Lautstärke zu gewinnen, auch, weil es längst und niemals nur um die Maske oder einen Stich in den Oberarm ging, das eigentliche Ziel war spätestens seit dem 29. August 2020 für alle offensichtlich.

Und mir ist klar, dass alles komplizierter ist. Dass es – und das habe ich März 2020 geschrieben – Folgen der Beschränkungen gibt, die ich grotesk finde, solche, die mir Angst machen, die ich unverhältnismäßig fand und finde. Wenn in Stralsund auf dem Weihnachtsmarkt der Weihnachtmann wegen fehlender Maske abgeführt wird, dann mag das den Verordnungen einer pandemischen Notlage entsprechen. Doch ist es richtig, so zu handeln, nicht einmal die Bilder mitzudenken, die dabei entstehen? Der ganze pathetische, abgekartete Gestus aber, der solchen Bildern werweißwas unterstellt, dafür ist der gestrige Detektor gedacht.

Bei Joshua Kimmich springt er nicht an. Nie hätte ich gedacht, dass ein Fußballspieler einen eigenen Erzählstrang in einer Pandemie bekommen könnte. Im Oktober erklärt Kimmich in einem Interview, dass er wegen Bedenken noch ungeimpft sei. Später muss er in Quarantäne, später infiziert er sich, später erkrankt er und erklärt im Dezember, dass er nach überstandener Krankheit vorerst keinen Sport auf hohem Niveau ausüben könne, weil die Krankheit Spuren hinterlassen habe. Und erklärt, dass er – sobald ihm das möglich sei – sich impfen lassen werde.

Der erste Kimmich-Eintrag schrieb von den Langzeitfolgen, vor denen der Sportler Bedenken hatte. Diese geäußerten Bedenken führten dazu, dass in aller Öffentlichkeit erläutert wurde, wie Studienergebnisse bei der Impfstoffforschung zustande kommen und was Langzeit in Langzeitfolgen bedeutet. Im zweiten Eintrag ging es um die Art und Weise, wie über Kimmich gesprochen wurde. Auch heute viele Varianten des Redens über den Krankenfall; Genesungswünsche, Häme, Schadenfreude, die Frage, ob und bis zu welcher Schwere einer Erkrankung Genugtuung angemessen ist, Vorwürfe in verschiedene Richtungen, ein Rauschen, ein Instrumentalisieren.

Jemand schrieb: Kimmich könnte zum Helden der Pandemie werden, wenn er sich öffentlich hinstellt und sagt: Ich habe mich geirrt. Ich lasse mich impfen und empfehle es jeden anderen auch. Das muss er nicht. Im Gegensatz zu denen mit Fackeln hat er sein Nichtgeimpftsein nicht als großen Gestus vor sich hergetragen, hat das Ungeimpfte nicht zu seiner Wut oder Identität gemacht. Er wurde gefragt, er hat geantwortet, über seine Bedenken gesprochen. Ein beiläufiger Vorgang, der nur Bedeutung durch seine Prominenz gewann. Und doch beispielhaft stand für nicht wenige, die ebenfalls (wenig) informiert waren über Langzeitfolgen und Totimpfstoffe.

Jetzt hat Kimmich, ebenso beiläufig, aufgrund eigener Erfahrungen und dem Einholen von Informationen seine Meinung geändert. Ohne Fackeln, ohne Diktaturgeschwafel, ein fast schon spröder Vorgang, gut in diesen aufgepeitschten Tagen.

Ansonsten: Die Inzidenz sinkt weiter. Diskussion über die Abschaffung der Testpflicht für 3-Mal-Geimpfte. Ein Viertel der Deutschen sind geboostert. Etwa jeder 60. in Weimar gilt als aktiver Coronafall. Der Einzelhandel fordert die Abschaffung der 2G-Regel.

13. Dezember | Detektor

Ein Bekannter schreibt, dass er nicht in einem vormundschaftlichen Staat lebe wolle. Ein anderer teilt Videos, in denen Anthony Fauci mit Josef Mengele verglichen wird. Auf Twitter trendet Gürtelrose, weil eine Impfung diese angeblich auslösen soll. Ein Autor wirft Stefanie Sargnagel vor, nicht genügend zu differenzieren, wenn sie in einer Rede auf einer Gegendemo zur Querdenkerdemo in Wien ruft: »Scheißt den Nippies in die Klangschalen«.

Ich merke, dass ich viel zu ausgelaugt bin für eine Differenzierung in dieser Sache, viel zu erschöpft und wütend. Will nicht von DDR-Erfahrungen erfahren und mir erklären lassen möchte, wo es Überschneidungen zu einem von Olaf Scholz geführten Deutschland gibt. Will nicht erklären müssen, was einen Vergleich mit Mengele so widerlich macht, selbst wenn es ein Bekannter ist, den ich schätze. Will mich nicht in die Wirkungsweise von Gürtelrose einlesen müssen, um später einmal in einem Gespräch Informationen anbringen zu können. Will nicht aufwendig auseinanderhalten müssen, welcher Teil der Esobewegung wie wo ins Querdenkermilieu vernetzt ist, welcher ins rechte Spektrum, was davon eins ist.

Hab keine Kraft dafür, hab so viel Besseres zu tun, kein Interesse, finde das nicht notwendig mehr nach zwei Pandemiejahren, nicht notwendig in Wochen, in denen 300 tägliche Tote als Entspannung gelten, in denen Modellierer angesichts von Omikron davon sprechen, dass es keine Kurve mehr geben könnte, sondern eine Wand. Kein Interesse daran, die Fackelträger vor den Privathäusern von Politikerinnen verstehen zu wollen, kein Interesse an Dialogen mit Menschen, die sich per WhatsApp gefälschte Impfausweise besorgen, kein Verstehenwollen für die Tausend auf einer Brücke in Greiz, die 1500 in Reutlingen, keine Gedanken für Menschen, die Ministerpräsidenten erschießen wollen und sich dabei als ehrbare Bürger sehen.

Ich weiß, das ist einer der letzten, der extremsten Schritte auf einem längeren Weg. Der wo beginnt? Vielleicht mit einem gesetzten Smiley unter dem Bild von »Karl Lügenbach«? Wobei es nicht darum geht, keine Kritik zu üben, ganz im Gegenteil, es gibt so viel Kritik zu üben. Es geht um ein Mind-Set, eine grundsätzliche Verachtung, eine Verächtlichmachung, die stets das Schlimmste unterstellt.

Ich glaube, dass es nach fast zwei Jahren Pandemie einen Bullshit-Detektor gibt, der solche Arten von Meldungen, Erlebnisberichten, Aussagen schnell einordnen kann; es sind Schlüsselwörter, Bildauswahl, das Ausgelassene. Ein Detektor, der schnell und schmerzhaft anschlägt, weil die vermeintliche Meldung, das Videocast, dieses »unzensierte« Weblog mit dem seltsamen Layout stets in eine große Sache eingebettet sind und diese Sache am Ende immer mit Fackeln vor Häusern steht, »Friede Freiheit unsere Diktatur« brüllt und jemanden am Galgen baumeln sehen will.

Nein, ich möchte da nicht mehr differenzieren, Gegenargumente sammeln, Verständnis aufbringen. Ich möchte sagen: Es ist irre, dass du das Spritzen eines Impfstoffes, der dir sehr wahrscheinlich das Leben retten kann, damit vergleichst, an einer Grenze erschossen zu werden. Irre, dass du glaubst, ein Vergleich mit Mengele dir irgendeinen Erkenntnisgewinn bringt. Dein gelber Stern mit Spritze ist irre. Ich will dir nicht mehr erklären, warum das so ist, will nicht deine Worte dazu hören. Ich will nicht mehr differenzieren. Auch nicht am Anfang mehr, beim ersten Like, dem ersten Nicken. Dafür gibt es den Detektor. Er kennt den Anfang, kennt die Fackeln.

Ich weiß, dass es komplizierter ist. Dass der Ministerpräsident, der weiß, dass Coronaleugnerinnen ihn ermorden wollen, differenzieren will, die Innenministerin das ebenfalls möchte. Weiß, dass immer differenziert werden muss / wird. Die Soziologinnen und Sozialarbeiter müssen das, die Politologinnen, Journalisten, Polizistinnen, später die Ärztinnen und Pfleger. Sie müssen differenzieren, unterscheiden, um zu verstehen, um zu verhindern, um helfen.

Das ist mein Eintrag, ich habe viel zu viele Einträge dieser Art geschrieben, auch, um irgendwie zu fassen, was passiert, welcher Irrsinn. Ich suche keine Argumente mehr, versuche keine Differenzierung, wenn der Detektor anschlägt, wenn wieder einer sagt, was sonst nicht gesagt werden darf, wenn eine der Red Flags aufleuchtet, bei der Hybris, sich als Verfolgter einer Impf-Junta zu wähnen, das wehledige Suhlen in einer Opfermentalität, das bereitwillige Ausschalten allen Verstands und Anstands, der engagierte Verzicht, nur ein klein wenig an Ambivalenz auszuhalten, dann sage ich nicht: Erzähl mehr. Ich will es verstehen. Ich sage: Es ist irre.

Es ist irre und abstoßend, wenn du dich mit einem Juden einer Jüdin in Deutschland 1938 vergleichst, weil du kein Schuhgeschäft betreten kannst. Eins von vielen Weils: Dann bestellst du Schuhe über Zalando. Oder machst es wie bei einem Schuhladen in Weimar: Klopfst an die Scheibe, die Schuhe werden dir rausgebracht. Das ist deine Diktatur. Dir werden Schuhe auf die Straße gebracht.

Ansonsten: Wegen der coronabedingten Störungen der Gesundheitssysteme sind in Europa bisher nach Schätzungen etwa eine Million Fälle von Krebserkrankungen unentdeckt geblieben. In Südkorea sollen Überwachungskameras mit Gesichtserkennung zu Nachverfolgung von Kontakten Infizierter genutzt werden. Die Impfungen mit Corona-Kinderimpfstoff beginnen, 2,2 Millionen Dosen sind vorerst dafür vorgesehen. In Neuseeland wird ein Mann wird beschuldigt, eine Art Stellvertreter-Impfprogramm betrieben zu haben, bei dem er dafür bezahlt wurde, dass er bis zu 10 COVID-19-Impfungen pro Tag für andere Personen erhalten zu haben.

12. Dezember | kolloidales Gold

Vor den Geschäften, die nicht als elementar für das Leben eingestuft sind, provisorische Absperrungen, davor jemand, der die Eintretenden auf einen Impfnachweis kontrolliert, die Kontrolleure die Einkaufswagenzuteiler des Pandemiewinters 2021. Auf den Gehwegen, in den Straßengräben noch immer die weggeworfenen Masken. Dazugekommen seit einiger Zeit die gebrauchten Selbsttests, liegen die Beutel, Schachteln und Anweisungen in Piktogrammen.

10. Dezember | Omikron III

Wie spricht man über etwas, über das allgemein gesprochen wird, obwohl kaum etwas gesichert ist? Wie geht man mit Nichtwissen um, obwohl ein sehr großes Bedürfnis nach Wissen besteht? Weil darüber gesprochen wird, auch dieser weitere Eintrag über Omikron, wider besseres Wissen.

Omikron ist ein beispielhaftes Pandemie-Ereignis. Die Aussagen stehen sich diametral gegenüber und ich muss mich mit den Widersprüchen zurechtfinden. Auf der einen Seite die Berichte über mildere Verläufe, die Äußerung Anthony Faucis, dass Omikron nicht schlimmer als Delta ist. Andererseits die Berichte, dass der Impfstoff auch bei dreifach Geimpften gegen eine Infektion und leichte Erkrankung nicht wirkt.

Ich weiß, dass es noch nichts zu wissen gibt, keine fertigen Studien, Analysen, Ergebnisse. Dennoch drängt es mich, eine Einordung zu bekommen, eine Tendenz zu erfahren. Muss ich mich sorgen, kann ich entspannen, darauf will ich es runtergebrochen bekommen, obwohl ich weiß: Vorerst ist die Sache viel zu komplex für einfache Antworten.

Was ich lese, was einigermaßen gewiss scheint: Die Mutante Omikron ist (deutlich) ansteckender als die bisherigen Varianten. Ab da wird es schon komplizierter. Weniger Hospitalisierungen, mehr Kinder im Krankenhaus, nicht so starke Verläufe, 2 Impfungen schützen nicht vor Infektionen, Booster schon, Boosterdurchbrüche bei schon 3fach-Geimpften, die Immunantwort um das 37fache gesenkt, Neutralisation etc.

Es fällt schwer, daraus etwas abzuleiten. Und es fällt schwer, zu warten und nicht aus den Ableitungen anderer etwas abzuleiten. Bedeuten die kranken Kinder in Südafrika, dass Omikron gefährlicher für Kinder ist? Oder es eher die Ungeimpften trifft? Was ist eine Antikörperantwort, welche Rolle spielen die T-Zellen bei einer Covid-Erkrankung? Ich habe keine Chance, etwas zu verstehen. Es ist die Zeit der Wissenschaftlerinnen und ich bin in Echtzeit bei ihnen.

Christian Drosten sagt im Podcast, dass Omikron die erste endemische Mutante des Sars-CoV-2-Virus sei. Und er sagt, dass diese (für Deutschland) zu früh käme, weil endemisch für Gesellschaften gemacht sind mit hohem Impfschutz oder/unter vielen Genesenen. Und Deutschland, so Drosten, habe, anders als Südafrika oder UK, zu wenige Genesene, zu groß die Impflücke, auch bei den Alten. Zusammen mit der hohen Ansteckungsrate sieht er darin die Gefahr.

Ich erinnere mich an Delta. Auch dort die Aussage, dass die Mutante ansteckender, aber nicht tödlicher sei. Zuerst die Erleichterung. Dann das Verstehen, dass es bei Corona immer darum gegangen ist, dass nicht Viele gleichzeitig krank werden. Die hohe Ansteckungsrate gefährlicher als eine hohe Todesrate.

Trotz wenig Wissens wird über etwas gesprochen. Es lässt sich nicht vermeiden, es ist auch notwendig. Und – auch das eine Lehre aus der Pandemie – das erste Sprechen prägt das Bild. Jetzt muss etwas gesagt werden, weil es alle interessiert, alle betrifft.

Ich stehe im Supermarkt und anders als in den letzten Monaten wird über das Supermarktradio für das Impfen geworben. Gestern war der Tag mit den meisten Impfungen in Deutschland, mehr als eine Million. Wie reagiere ein Ungeboosteter, jetzt, im endlich angekommenen Bewusstsein, dass Boostern zum Impfen gehört, auf die Nachricht: Selbst Boostern könnte mich nicht vor eine Omikron-Ansteckung schützen?

Was, wenn sich tatsächlich herausstellt, dass ich als 3fach-Geimpfter genauso ansteckend bin wie einer dieser auf einer Demo in Pirna krakeelenden Impfverweigerinnen? Was macht das mit meiner hohen Moral, macht es mit meinen Argumenten, wenn das verbliebene Argument ist: Aber ich werde höchstwahrscheinlich nicht krank, ich werde höchstwahrscheinlich nicht auf einer Intensivstation liegen, ich werde keinen Platz in Anspruch nehmen müssen?

Das Argument ist stark, es ist das stärkste aller Argumente. Aber genügt das? Wie werde ich darüber sprechen, wenn mein Facebook, mein WhatsApp, meine Gespräche geflutet werden mit den weiteren Widersprüchen – Du bist genaus Treiber der Pandemie, Dein heiliges Impfen schützt ja nicht mal davor, mich anzustecken?

Wie argumentiere ich, solange mein Argument noch ein Preprint ist? Und ich muss argumentieren, das ist ja das Irre. Gegen Omikron, der endemischen Mutante, hilft nur Impfen, weil bei einer so ansteckenden Variante nur das Impfen die Krankenhäuser und Intensivstationen freihält. Ja, wie spreche ich über Omikron, wenn ich doch so wenig weiß?

Ansonsten: Laut einer Umfrage sind 77 Prozent der Befragten für starke Einschränkungen für Ungeimpfte. Der Bundestag beschließt eine Impfpflicht für Klinik- und Pflegepersonal. Das Bundesamt für Statistik meldet, dass in der bisherigen Pandemiezeit eine Übersterblichkeit gemessen wurde. Wegen »leichten Infiltrationen in der Lunge« nach einer Infektion kann der Fußballspieler Josuha Kimmich vorerst nur sehr eingeschränkt am Training teilnehmen. Trotz der weltweit höchsten Infektionsrate lockert die Slowakei die Beschränkungen und begründet das mit Druck aus der Bevölkerung.

9. Dezember | verwischt

Heute alles müde, matt und flau, was weniger am Booster liegt. Die Coronawelt läuft dennoch weiter, immer weiter, versuppt zu einem verwischten Traumgebilde, wie ein computergeneriertes Bild zu den Schlagwörtern Kimmich, Weidel, Omikron in der Wombo-App.

8. Dezember | boostern

Am Tag, an dem Olaf Scholz als Bundeskanzler vereidigt wird, werde ich zum dritten Mal geimpft. Vor einem halben Jahr hätte ich nicht geglaubt, dass auch nur eins von beiden geschehen könnte.

Der eigentliche Termin ist für nächste Woche ausgemacht. Durch eine Verkettung mehrerer (legaler) Umstände ergibt sich die Möglichkeit, heute schon die sogenannte Boosterimpfung zu erhalten. Dafür muss ich keine Stunde nach Gera fahren, sondern nur zum Goetheplatz spazieren, wo sich im Kulturzentrum Mon Ami die Weimarer Impfstelle befindet. Fast täglich laufe ich dort vorbei, heute auch hinein.

Anders als das Geraer Impfzentrum, das sowohl von den Ausmaßen als auch den zackigen Abläufen an eine Fabrik im optimierten Schichtsystem erinnert, wirkt die Impfstelle gemütlicher. Die Stelle befindet sich über einem Kino, an den Wänden hier hängen Filmposter, Mein Leben ohne mich mit Sarah Polley gleich zwei Mal.

Ich freue mich über den Termin, überhaupt die Möglichkeit einer dritten Impfung. Ansonsten bin ich wenig aufgeregt. Ich suche keine Momente, die ich später pathetisch überhöhen kann, sondern einen Platz zum Sitzen. Wobei ich diesen nicht benötige. Nach den Formalitäten am Empfang sofort das Vorgespräch mit einer Ärztin. Anschließend bittet eine andere Ärztin sofort in Impfkabine 2. Sie nimmt kurz Bezug auf meine Angaben zu den Nebenwirkungen der zweiten Impfung, dann impft sie, gratuliert nachträglich zum Geburtstag, freundliche und herzliche Worte. Gemeinsam verlassen wir die Kabine, weil sie schon nach dem nächsten Impfwilligen sucht. Auch die Ärztin aus Kabine 1 tigert durch den Raum, fragt, wer der Nächste sei, beide wollen impfen und das schnell und effizient.

Nun bin ich geimpft, ein drittes Mal. Auf den Tag genau vor einem Jahr wurde in England weltweit die erste Corona-Impfung verabreicht, Margaret Keenan saß im Pinguinpullover in Coventry. Es scheinen zwei Zeitalter seither vergangen. Während ich zehn Minuten zur Beobachtung warte, scrolle ich mich durch die aktuellen Meldungen zu Omikron. Sie klingen desaströs und ich ahne, dass ich bald schon wieder hier sitzen werde. Dann schließe ich die Weltnachrichten, weil ich mir mein Hochgefühl über die steigende Zahl Antikörper in mir nicht verderben lassen möchte, zumindest heute nicht, und fotografiere für diesen Eintrag den zuversichtlich funkelnden Weihnachtsbaum vor den beiden Impfkabinen.

Ansonsten: Der amerikanische Coronaexperte Anthony Fauci erklärt, dass es nahezu sicher sei, dass Omikron nicht schlimmer als Delta ist. Laut einer Untersuchung der Virologin Sandra Ciesek reduziert sich Antikörperantwort gegen Omikron drastisch im Vergleich zur Delta-Variante, was bedeutet, dass der Schutz vor Infektionen auch bei Geimpften gegen null sinkt. Impfgegnerinnen demonstrieren vor dem Wohnhaus des neuen Gesundheitsminister Lauterbach. In Berlin dürfen Obdachlose ohne 3G-Nachweis nicht mehr vor der Kälte auf Bahnsteigen Zuflucht suchen. 2020 infizierten sich etwa vier Prozent der Hauskatzen in Europa mit Corona.

7. Dezember | 83 Millionen Intensivbetten

Jemand schreibt: »Gäbe es in Deutschland 83 Millionen Intensivbetten, gäbe es keine Überlastung des Gesundheitssystems.« Es ist polemisch gemeint, ein Gedankenspiel. Aber dennoch: Wie viele Intensivbetten inklusive Personal sollten in einem reichen Land mit 83 Millionen Einwohnerinnen zur Verfügung stehen?

Offensichtlich ist: Gerade reicht die Bettenzahl nicht aus; Operationen werden verschoben, Patientinnen verlegt, Sachsen gestattet die Überschreitung der Höchstarbeitszeit des Krankenhauspersonals. Ein Grund für die Überlastung: Im Vergleich zum letzten Jahr stehen weniger Intensivbetten zur Verfügung. Die Apparate sind da, das Personal hat gekündigt. Es ist der Politik, der Wirtschaft, dem Gesundheitssystem, der Gesellschaft nicht gelungen, während einer Pandemie, in der die Bedeutung von Gesundheitspersonal sehr deutlich wurde, die Zahl dieses Personals zu vergrößern oder auch nur zu halten.

Ein weiterer Grund: Dem Gesundheitssystem geht es grundsätzlich nicht gut. Die Mängel sind bekannt, die Ungerechtigkeiten. So und so viele Texte wurden darüber geschrieben. Aber viele Reportagen über Corona-Intensivstationen kann ich sehen, will ich sehen? Ich sehe, bin informiert und wenn ich es nicht von Bekannten höre oder selbst erfahren muss, dann sind die Zustände weit weg, auch aus Selbstschutz.

Ein dritter Grund: Die vierte Welle. Ist die Zahl der Betten ausreichend und ist nur die »Welle« zu groß? Was meint groß? Was wäre denn eine adäquate Zahl von belegten Betten? Wie viel Corona-Intensivpatientinnen wären für die Gesellschaft auszuhalten, wären für uns zu ertragen? Würden zweitausend zusätzliche Intensivbetten die vierte Welle annehmbar machen? Wären sie eine Rechtfertigung für die Sieben-Tages-Inzidenz? Würde ich denken, wir haben die Sache im Griff, weil da Platz ist für zweitausend künstlich Beatmete mehr?

Ansonsten: Vorerst keine Prämie für Intensivpflegerinnen, weil keine Einigung über die Formalitäten besteht. Um die Impfkampagne zu beschleunigen, sollen Tierärztinnen, Zahnärztinnen und Apothekerinnen Coronaimpfungen verabreichen dürfen. Eine Polizistin aus dem Saarland wird vom Dienst suspendiert, nachdem gegen sie Ermittlungen wegen des mutmaßlichen Verkaufs gefälschter Impfpässe eingeleitet wurde. In Königs Wusterhausten ermordet ein Mann seine Frau und seine drei Kinder, weil er eine Verhaftung wegen eines gefälschten Impfpasses befürchtete. Der Deutsche Presserat prüft eine Beschwerde gegen die Bild, die in einem Artikel mehrere Wissenschaftler als »Lockdownmacher« bezeichnet hatte. In Moskau erschießt ein Maskenverweigerer zwei Menschen. Auf Telegram teilen Coronamaßnahmengegner eine Liste mit Privatadressen und fordern, dass diese Menschen in Zukunft »kein unbeschwertes Leben« mehr führen dürften.

Bei einer Umfrage stimmen ein Drittel der befragten Thüringerinnen den Aussagen zu: »Es gibt geheime Organisationen, die während der Corona-Krise großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben« und »Die Regierung hat die Bevölkerung in der Corona-Krise gezielt in Angst und Schrecken versetzt, um massive Grundrechtseinschränkungen durchsetzen zu können.«

6. Dezember | Omicron II

Vor zehn Tagen ein erster Eintrag über die Mutante Omicron, eine Wortkombination wie aus einem ScFi-Pulp-Comic, vor zwei Jahren unvorstellbar, dass darüber die gesamte Welt in Aufregung geraten könnte. Seither ziehen sich die Augenbrauen der Expertinnen sorgenvoll nach oben. Einiges deutet auf eine höhere Ansteckung und Wiederansteckung hin, darauf, dass andere Gruppen gefährdeter sein könnten, dass der Impfstoff dennoch zu wirken scheint. Alles Vermutungen, kaum etwas gewiss.

Mir fiel auf, dass schon wenige Stunden nach dem Bekanntwerden der Mutante in jedem Gespräch wie von selbst die Rede auf Omicron kam. Wir wussten, was eine Mutante in der Pandemie bedeuten kann und deshalb konnten wir darüber sprechen, noch ohne etwas zu wissen.

Auch die Berichterstattung änderte sich, so, als ob das Auftreten einer Mutante ein eigenes Genre innerhalb der Pandemie-Berichterstattung darstellt. In erschöpfender Ausführlichkeit wurde das Auftreten von Omicron-Fällen in allen möglichen Ländern aufgezählt (1. Omicronfall in Thailand, 2 Omicronfälle in Finnland, Omicron auch auf den Kanarischen-Inseln nachgewiesen), eine Ausführlichkeit, die ein Gefühl zunehmender Bedrohung erzeugt, wie eine sich zuziehende Schlinge, wie das unablässige Schlagen auf Trommeln in Filmen, die so das Heraufziehen einer Schlacht erzählen sollen. Vielleicht ist diese Form der Informationsvermittlung einfacher zu schreiben (und zu lesen) als den Kollaps des Krankenhaussystems in Newstickern und Smalltalks zu thematisieren.

Dazu die Hinweise, dass Omicron zwar in Südafrika entdeckt wurde, das Virus aber nicht zwangsläufig in Südafrika mutiert sein muss. Sondern es vielmehr bedeutet, dass Südafrika – auch durch die lange und schmerzvolle Erfahrung mit Virenkatastrophen – über ein schnelles und genaues Erkennungssystem verfügt. Das Einreiseverbot aus afrikanischen Ländern wurde entsprechend betrachtet; einerseits Lob für die notwendige und schnelle Reaktion, andererseits der Vorwurf vorurteilsbelasteter Inkonsequenz, weil Omicron mittlerweile in vielen (westlichen) Ländern nachgewiesen wurde, über die kein Einreiseverbot verhängt wurde. Zeitungen schreiben, »das Virus aus Afrika«, andere illustrieren Omicron mit Karikaturen, die ein Ruderboot auf dem Mittelmeer zeigen, in dem schwarze Sars-CoV-2-Viren freudig auf Europa zusteuern.

Über den Ursprung Omicrons mehrere Theorien. Ebenfalls der Hinweis, dass das Virus auch mutiert sein könnte, weil die Impfquote in afrikanischen Ländern so niedrig ist, weil die (westlichen) Länder wenig Impfstoff dorthin liefern, weil es keine Freigabe der Impfstoff-Patente gibt, weil die Mutation so möglicherweise logische Folge dieses Verhaltens sein könnte. Darauf wiederum der Hinweis, dass in Südafrika ausreichend Impfstoff zur Verfügung stehe, im Land allerdings auch die Annahme, dass es neben Corona noch größere Virenbedrohung gebe etc.

Zum Teil sich widersprechende Informationen, ich kann spekulieren, empört sein, verängstigt, leicht zuversichtlich, komplett pessimistisch, der Eintrag könnte deutlich mehr Worte umfassen, so viele Informationsmöglichkeiten im Umlauf.

Auch wird spekuliert, dass mit Omicron schon die fünfte Welle festgeschrieben ist. In Südafrika steigen auffällig die Infektionszahlen, gerade bei Kindern die Krankenhauseinweisungen. Während hierzulande die vierte Welle aufgrund von selbstgemachten Problemen, Verfehlungen und Versäumnissen diese Ausmaße annehmen konnte, ist Omicron eine Gefahr von außen. Wie verändert es das Reden über die Pandemie, die Schuldzuweisungen, wie verändert es das Handeln? Denn Wenig-Wissen über die konkrete Bedrohung und zugleich Viel-Wissen über die wahrscheinlich entstehende Dynamik ist wieder einmal parallel vorhanden.

Die notwendige Erkenntnis nach zwei Jahren Pandemie: Trotz vieler Wissenslücken muss jetzt schon der Plan für die wahrscheinlich kommende Bedrohung gemacht werden, und das, obwohl die aktuelle Bedrohung bockig auf einem Hochplateau verharrt.

Ansonsten: Der sächsische Landtag stellt die epidemische Lage im Freistaat fest und schafft somit die rechtliche Grundlage für eigene Schutzmaßnahmen. Der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz verurteilt den Fackelaufzug von Gegnerinnen der Coronamaßnahmen vor dem Privathaus der sächsischen Gesundheitsministerin. Der neue österreichische Bundeskanzler kündigt an, die Sorgen und Ängste der Impfgegnerinnen ernstnehmen zu wollen. Mehr als 150 Unternehmen werben gemeinsam für die Coronaimpfung. Die EU erklärt, dass sie bislang mehr als 350 Millionen Dosen Impfstoff an andere Länder gespendet habe. Biontech plant, die erzielten Gewinne mit dem Coronaimpfstoff in die Entwicklung von Krebsmedikamenten zu invenstieren. Mehr als 14 Millionen Boosterimpfungen bisher. Neue Worte in der Pandemie.

5. Dezember | falsch-positiv

Ein Anruf aus dem Kindergarten. Ein positiver Schnelltest. Das habe ich vor einem Monat geschrieben. Mittlerweile hätte ich weitere Einträge mit diesem Satz füllen können. Denn seither gab es mehrere positive Schnelltests im Kindergarten, die sich später als negativ erwiesen. Falsch-Positiv als Routine des Pandemiealltags. Ich weiß ja, wie glücklich und dankbar ich bin, dass es keine Infektion gab. Weiß, dass sich so viele mit so viel größeren Problemen und Fragen herumschlagen müssen als mit Falsch-Positiv, das bestenfalls nur Umstände macht. Dennoch hat Falsch-Positiv Folgen; die präventive Quarantäne, das Meiden von Kontakten, Absagen, das Rausnehmen aus dem geplanten Leben, auch das nicht immer so angenehme präventive Informieren von Kontaktpersonen über eine mögliche Infektion, das Warten auf das Ergebnis des PCR-Tests, das Starren auf die Warn-App, natürlich die Sorge, das Ausmalen von Situationen. Falsch-Positiv legt mehrere Tage auf noch mehr Eis, als sie ohnehin schon liegen. Wenn das mehrmals fälschlicherweise geschieht, dann kostet das unnötig Kraft, wo ohnehin schon weniger Kraft vorhanden ist.

Ansonsten: Infektionsrisiko mit FFP2-Masken. Weihnachtsmarkt in Luxemburg. In Salzburg werden vor Landeskliniken Veranstaltungen angemeldet, um damit eine Bannmeile vor dem Krankenhaus zu schaffen gegen eine mögliche Belagerung durch Querdenker.

4. Dezember | Impfpflicht III

Ich lese die Einträge der beiden letzten Tage. Niemals hätte ich angenommen, dass, weil es tatsächlich geschieht, ich darüber schreiben würde, wie eine relevante Zahl von Menschen sich Impfungen stolz verweigern, wie Gruppen sich aktiv dem Lebensschutz entziehen, Leute versuchen, andere zu überreden, ebenfalls auf die Impfung zu verzichten. Es ist bizarr und absurd, jedes Wort darüber ergibt keinen Sinn. Und dennoch passiert es. Ein Todeskult, eine Todesideologie, deren Mitglieder aus Trotz den eigenen Tod und den von anderen in Kauf nehmen.

Ich kenne das Motiv aus Büchern, Filmen, aus der Geschichte. Aber niemals hätte ich angenommen, dass in meiner Gegenwart Impfen Teil eines Kulturkampfs werden könnte. Denn anders als Diskussionen über den Genderstern ist es beim Impfen eine Frage von Leben von Tod.

Und auch wenn ich öffentlich nicht darüber schreiben werde, macht mir diese Verweigerung, das Weltbild, das damit im Schlepptau hängt, im Freundes-, Bekannten-, Familienkreis zu schaffen, ist neben der Überraschung, der Fassungslosigkeit vor allem Sorge, Angst, Rat- und Hilflosigkeit.

Ansonsten: Trotz einer der weltweit höchsten Impfquoten verdoppelt sich in Portugal die Inzidenz innerhalb von drei Wochen auf knapp 200, die Lage auf den Intensivstation ist unter Kontrolle.

3. Dezember | Impfpflicht II

War mein gestriger Eintrag zu soft, zu sehr um Verständnis bemüht? Die Zahlen der Relation von geimpft/ungeimpft bei Infektionen, Übertragungen, Krankenhauseinweisungen, Intensivstationen sind ja kein Geheimnis, täglich erfahre ich, welches Leid das verursacht. Ich weiß, dass ein Teil jener, die ungeimpft sind, über das verfügen, was man ein geschlossenes Weltbild nennt. Kenne die Videos, kenne die Bilder, wie sich Ungeimpfte vor Krankenhäusern mit Kerzen vor Krankenhäusern postieren, wo um das Leben ungeimpfter Covid-Patientinnen gekämpft wird, und gegen das Impfen protestieren, lese die Texte über Ungeimpfte, die andere vom Impfen abhalten, die Toten, die das fordert, lauter Beispiele, die nicht zu fassen sind in ihrer zynischen Scheußlichkeit.

Im gestrigen letzten Absatz habe ich geschrieben, dass ich es nicht verstehen kann, weshalb man sich nicht impfen lässt. Dabei ist das natürlich auch zu verstehen. Psychologinnen, Soziologinnen, Politikwissenschaftlerinnen haben viele Erklärungen in viele kluge Texte und Bücher geschrieben; über die Funktionsweise von Verschwörungsmythen, über radikale Netzwerke, über das Denken, das auch in der Pandemie zum Tragen kommt.

Gerade heute erhalte ich ein Video, zugeschickt aus dem nahen Bekanntenkreis, es zeigt einen Virologen, der vor einer Katastrophe epischen Ausmaßes warnt, wenn die Impfungen nicht sofort gestoppt werden. Die Sorge desjenigen, der das Video schickt, ist ernst.

Ich frage mich, wie es möglich ist, solch ein Denken noch zu beeinflussen. Ob es möglich ist. Frage mich das bei denen im Freundes-, Bekannten-, Familienkreis, bin ernsthaft besorgt. Frage mich, was geschieht, wenn die Impfpflicht kommt. Wie dann die Reaktionen bei denen mit geschlossenem Weltbild sind. Der Mörder von Idar-Oberstein gab zu Protokoll, dass er an Merkel oder Steinmeier nicht rankäme. Deshalb das erreichbare Ziel. Ein Text in der ZEIT will wissen (in einer Zuschreibung, die ich als befremdlich empfinde), wie »der Osten« auf eine Impfpflicht reagieren würde. Die Antwort eines Extremismusforschers ist: Für die überwiegende Mehrheit würde die Impfpflicht Orientierung, Entlastung, letztlich Gerechtigkeit bedeuten. Für die radikalisierte Gruppe würde sie den Staat, die demokratische Gesellschaft noch weiter zum Hassobjekt machen.

Und vielleicht ging es darum im gestrigen Eintrag: um die weiterhin notwendige Befähigung, die Gruppen zu erkennen, dann zu differenzieren, zu urteilen, zu handeln.

Ansonsten: Starker Anstieg der Coronafälle in Südafrika. Wellenbrecher wird zum Wort des Jahres gekürt. Der evangelikale Fernsehprediger Marcus Lamb, der in seinen Sendungen gegen das Impfen Stellung bezog, stirbt an Covid 19. Um einen Impfnachweis zu bekommen, sich aber nicht impfen lassen zu müssen, hält in Italien ein Mann bei der Impfung eine hautfarbene Arm-Attrappe hin.

2. Dezember | Impfpflicht

Vieles deutet auf eine allgemeine Impfpflicht hin. In den letzten Tagen und Wochen auch mehrere Gespräche darüber geführt, die unterschiedlich waren in Tonalität, auch in ihren Schlüssen.

Dabei dachte ich zurück an meine Impfhistorie. Ich habe Impfen nie hinterfragt. Mich nicht eingelesen in Herstellung und Wirkungsweise, nie informiert über unterschiedliche Anbieter der Impfstoffe. Ich ließ mich impfen, weil die Annahme war: Der Impfstoff schützt mich. Der Stoff ist millionenfach verimpft, Expertinnen haben viel Zeit damit verbracht, ihn sicher und wirksam zu machen. Auch beim Coronaimpfstoff war es so: Nachdem klar war, dass es nicht AstraZeneca wird, war ich froh, nun geschützt zu sein. Angst hatte ich nicht, im Gegenteil, Angst war mir genommen, eine große Erleichterung.

Die Angst beim Impfen kam erst als Vater. Einerseits das sichere Wissen, dass Impfen mein Kind schützt. Und dennoch im Kopf die Berichte von Folgen. Und so gab es bei entsprechenden Us immer auch ein leichtes Unbehagen, das ich rational vertreiben wollte, was dennoch blieb, ein, zwei Tage lang.

Ich habe es hier schon mehrmals geschrieben, was für eine Leistung es ist, innerhalb eines Jahres mehrere Wirkstoffe gegen ein neues Virus zu entdecken und in milliardenfachen Mengen zu produzieren. Und was für ein Luxus, in einem Land zu leben, das sich diesen Lebensschutz leisten kann und für alle die Infrastruktur zum Impfen bereitstellt. Dass ich rein logisch nicht begreifen kann, weshalb man beim Impfen zögert, gerade beim Blick auf die Zahlen; auf die acht Milliarden Impfungen, auf die 260 Millionen Infektionen, die 5.2 Millionen Toten. Rational ergibt es für mich keinen Sinn, auf das Impfen zu verzichten, die Wahrscheinlichkeiten so klar und eindeutig verteilt.

Eine fast wahre Geschichte, weil ich gehört habe, wie Kinder Ungeimpfter als Schimpfwort verwenden. Ich stehe am Spielplatz, die Kinder teilen sich in zwei Gruppen. Eine große, das sind die Geimpften, eine kleine, die Ungeimpften. Das Spiel geht so: Die Ungeimpften müssen vor den Geimpften weglaufen, die Geimpften versuchen zu fangen. Gelingt das, ruft das Kind »geimpft« und der ehemals Ungeimpfte wird der großen Gruppe zugeschlagen.

Ich habe mit Ungeimpften gesprochen. Auch hier verschiedene Tonalitäten. Es gab Gespräche, in denen das Ungeimpftsein als stolze Ideologie präsentiert wurde, in denen der Widerstand gegen das Impfen den Widerstand gegen vieles andere mehr beinhaltete. Aber auch Gespräche, die überraschend leise waren, in denen die typischen Argumente (mögliche Langzeitfolgen, Veränderung der DNA, ich warte lieber auf den Totimpfstoff) verdruckst, fast beschämt vorgetragen wurden.

Zum Glück gab es auch diese Gespräche. Denn ich merke, dass, wenn ich erfahre, dass mein Gegenüber ungeimpft ist, sofort die Dominosteine umfallen, eins kommt zum anderen. Aus dem Ungeimpftsein wird ein Querdenker wird jemand, der auch Reichskriegsflaggen schwenken könnte etc. Die Schublade ist sofort auf und sie ist oft auch passend. Aber oft eben nicht. Oft ist es auch anders, komplizierter, das möchte ich annehmen, das möchte ich hoffen.

Auf Twitter bietet ein Arzt Hilfe beim Finden von Erst-Impfterminen an. Er sagt, jede könne sich an ihn wenden: jene, denen es peinlich ist, sich erst jetzt erstmalig zu impfen, jene, die sich schämen, die es versäumt haben, die nicht in der Lage sind, Termine zu machen, die ihre Meinung geändert haben. Ein Grund brauche er nicht, sagt der Arzt, ihm reiche die Bereitschaft zum Impfen. Ich finde das gut, auch wichtig, so zu denken, so zu helfen, nicht zu beschämen, nicht zu hassen, nicht immer sofort die Dominosteine umzustoßen.

Und dennoch weiß ich ganz sicher, dass es nicht ausreichen wird, dass es mehr Impfungen braucht, auch bei denen, die weder verschämt noch hilflos sind. Es braucht diese Impfungen als eines von mehreren Mitteln, um aus der Pandemie herauszukommen. Ohne wird es nicht gehen, es wird nicht gehen, ohne dass die meisten geimpft sind.

Und wenn sich in den nächsten Wochen nicht zeigt, dass die Mehrzahl bisher Ungeimpften ihre Meinung ändert, dann braucht es mehr, denke ich, diesen Eingriff, diese Abwägung des Einzelnen gegen alle. Ich versuche es rational zu formulieren. Die Gesellschaft rechnet die Schäden gegeneinander auf und kommt zu dem Entschluss, dass die Impfpflicht der kleinere Schaden gegenüber einer fortwährenden Pandemie ist mit all ihren Folgen.

Es ist ein sachliches Argument, denn am Ende verstehe ich es doch nicht, wie man freiwillig auf Schutz verzichten kann, ich verstehe es nicht und möchte dennoch nicht, dass Ungeimpfter ein Wort in einem Kinderspiel ist.

Ansonsten: Erneut sinkt die Sieben-Tage-Inzidenz leicht. Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz warnt, dass es bei einer Impfpflicht eine entsprechende dauerhafte Infrastruktur mit Mitarbeiterinnen brauche. Momentan gibt es mehr Covidtote in Bundesländern mit niedriger Impfquote. Eine knappe Millionen Coronaimpfungen an einem Tag. Bund und Länder beschließen verschiedene Maßnahmen, darunter ein Böllerverbot zu Silvester. Die britische Arbeitsministerin Coffey rät vom vorweihnachtlichen Küssen unter dem Mistelzweig ab.

1. Dezember | Cancel Culture

Flashback in den Mai sitze ich und aktualisiere alle fünf Sekunden www.impfen-thueringen.de, weil offenbar gerade einige Impftermine gecancelt werden – die einzige Cancel Culture, die ich ernstnehmen kann. Die letzten Tage schon mehrere Optionen im Kopf durchgespielt, wie ich an einen Impftermin gelangen könnte; Hausarzt, private Kontakte, terminloses Impfen.

Dabei gibt es genügend freie Termine. Ich könnte nach Suhl, Sonneberg oder auch wieder nach Gera fahren. Doch diesmal soll es nicht so umständlich sein, will ich nicht mehrere Stunden mit der Reise zur Spritze verbringen, auch nicht stundenlang anstehen. An der Weimarer Impfstelle laufe ich täglich vorbei. Ab nächster Woche sind die fünf vorgeschriebenen Monate seit der zweiten Impfung vergangen. Damit erlange ich das Recht, mich boostern zu lassen, meine Antikörper aufzufrischen, den Wirkungsgrad wieder über neunzig Prozent zu hieven. Diesmal soll es in Weimar geschehen.

Ich habe keine schlaflosen Nächte deshalb. Wenn es dieses Jahr nichts wird, dann im nächsten. Doch je mehr ich mich damit beschäftige, desto größer das Bedürfnis, rasch einen Termin festzumachen. Ich verfalle einem Impfterminzwang. Alle fünf Sekunden das Aktualisieren, immer fordernder der Klick, und dazwischen, während des Aktualisierens, tippe ich diesen Eintrag, obwohl ich eigentlich über die Impfpflicht schreiben wollte. Und nun beim letzten Satz, erhalte ich einen Termin, in weniger als zwei Wochen wird er sein, ich werde geboostert sein.

Ansonsten: Der Städtetag fordert einen »Impfknall«. Die Abstimmung im Bundestag über die Impfpflicht soll ohne Fraktionszwang erfolgen. In Nigeria wird nachträglich die Omikron-Mutante schon für den Oktober nachgewiesen. NRW führt die Maskenpflicht im Unterricht wieder ein. Wegen der starken Belastung von Intensivstationen sind mittlerweile mehr als 80 Covid-Patentinnen nach dem Kleeblattsystem in andere Regionen Deutschlands verlegt worden. Die Inzidenz sinkt, aber was heißt das wirklich? Mit 446 wird die höchste Zahl Coronatoter seit Februar gemeldet.

30. November | Plateau

Der R-Wert fällt unter eins, die Neuinfektionszahlen stagnieren, die Sieben-Tage-Inzidenz sinkt, von einem Plateau wird gesprochen: das erste Mal seit vielen Wochen ein Trend, der das Wachsen unterbricht. Gute Nachrichten, möglicherweise in der Summe die Folgen der eingeführten Beschränkungen, einer allgemeinen Verhaltensänderung, den steigenden Impfzahlen. Ich höre das gern, fühle bereitwillig anders als in den letzten langen Tagen.

Zugleich ist von einem Meldeverzug die Rede, von den überlasteten Labors, davon, dass wegen der Nachmeldungen der R-Wert zuletzt stets nachträglich nach oben korrigiert werden musste, den rotbeleuchtenden Krankenhäuser, die auf ihre Fassaden SOS schreiben, lauter Hinweise, dass die Zahlen nicht das vollständige Bild zeigen, dass das scheinbare Plateau viel zu früh als Zeichen für eine Entspannung dienen könnte. Wie wird dieses Plateau gedeutet werden? Wie werden sich die Entscheidungen und Ankündigungen des heutigen Tages auf die nächsten Wochen auswirken? Gibt es wirklich eine neue Tendenz oder weiterhin die Überlastung, die Eskalation?

Und wenn ich länger über diesen Eintrag nachdenke, merke ich, wie sehr ich in den letzten zwanzig Monaten mein Wohlbefinden auch von den täglichen Coronazahlen abgehängig gemacht habe, wie sehr sich meine Stimmung in Richtung des Corona-Trend-Pfeils justiert. Selbst wenn diesem nicht zu trauen ist, genügt es schon, mich heben zu lassen.

Ansonsten: Der zukünftige Bundeskanzler spricht sich für eine Impfpflicht aus. Laut einer Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts war die Notbremse verfassungsgemäß. Ein General wird den zukünftigen Corona-Krisenstab leiten. Nach einem Urteil kann das Verfremden eines Judensterns (z.B. ungeimpft) nun strafrechtlich verfolgt werden. In Sachsen und Thüringen wird gegen die Maßnahmen demonstriert. Weil immer wieder Mitarbeiterinnen beschimpft werden, schließt ein Testzentrum in Zittau.

29. November | Kontrollverlust

Gestern habe ich (wieder) die wenig originelle Metapher des Gefrierens verwendet, um das allmähliche Aussetzen der Welt zu beschreiben. Dieses Pausieren trifft bestenfalls auf nur einen Teil dieser Tage zu. An anderer Stelle ist die Geschwindigkeit immens, gibt es keine Ruhe, kein Innehalten. Dort ist von allem zu viel, ist Überlastung, sind Notfallpläne, wird sich gestemmt gegen das Auftürmen der Versäumnisse der letzten Monate, verliert sich dennoch die Kontrolle über das Geschehen. Wie soll auch die Kontrolle gehalten werden bei 60000 Neuinfektionen täglich, bei Inzidenzen von über 1000, wenn es heißt, dass die Ämter nur bis zu einer Inzidenz bis 50 Schritt halten können?

Und auch wenn der R-Wert sinkt, die Steigerungsraten nicht mehr im mittleren zweistelligen Bereich liegen, wenn Virologinnen in einem Papier einen Lockdown für vermeidbar halten – nichts fühlt sich so an, als wäre es geschafft. Das Aussetzen und das Entgleiten läuft nebeneinander, parallel, einander bedingend.

28. November | erstes Eis

Am Teich gewesen. Auf dem Wasser das erste dünne Eis und auch wenn ich versuche zu vermeiden, es in den Einträgen allzu deutlich zu formulieren, nehmen mich diese Wochen mit, belasten mich, habe ich mich längst auf der Bahn eines Mahlstroms eingefunden, ein Sog in den Winter hinein. Es macht mich mutlos zuzusehen, wie eine vierte Welle trotz verfügbarem Impfstoff und so viel Wissen, Erfahrung und Warnungen nicht zu verhindern ist, wie sie sich auswächst und das Vorherige zu übertreffen droht. Die Tage lassen mich müde und antriebslos sein. Es ist nicht nur Fassungslosigkeit. Die war im letzten Jahr um diese Zeit. Diesmal ist es Leere, Stille, Resignation, der Wunsch danach, sich einzuigeln und die kommende Zeit über sich ergehen zu lassen, ohne große Gefühlsregung ausharren.  

Ich verstehe vieles nicht. Das Gesundheitsamt Köln erlaubt 50.000 Menschen den Zutritt zu einem Fußballspiel, die Bitte um das Tragen von Masken wird nachgeschoben, verschämt fast. In Hamburg stehen hunderte Menschen vor einem Impfzentrum stundenlang in der Kälte, um den angekündigten Impftermin wahrzunehmen, der aber nicht wahrgenommen werden kann, weil die Stadt »vergisst«, das Impfzentrum zu öffnen.

Ich verstehe nicht, wie in dieser Situation nicht alles an das so offensichtliche Vermeiden von Coronasituationen gesetzt wird, wieso nicht alles auf Impfen gesetzt wird, wie stattdessen Impfstoffe zurückgehalten werden und diskutiert wird, welche Ärztinnen impfen dürften und welche nicht. Stattdessen wird in Ruhe evaluiert und überlegt, wann Maßnahmen ergriffen werden müssten und Maßnahmen werden ausgeschlossen und in sächsischen Landkreisen liegt die Inzidenz bei über 2000 und und und die Modellierer, die seit Wochen Szenarien für den kommenden Verlauf erstellen, streichen nach und nach die Szenarien mit den günstigeren Verläufen weg.

Ich verstehe es nicht und will es auch gar nicht mehr verstehen, will auch nicht mehr schreiben, dass man nach zwei Jahren Pandemie mehrmals gelernt haben müsste, was Abwarten in der Pandemie bedeutet. Jemand modelliert und sagt: Die Zahlen werden nicht ewig steigen, vielleicht ist in der übernächsten Woche schon ein Maximum erreicht. Vielleicht auch nicht. Doch die Zahlen laufen nach, wie die nächsten sechs bis acht bis fünfzehn Wochen bestenfalls aussehen werden, ist schon geschrieben.

Wie quälend es ist, die Zahlen herunterzulockdownen, weiß jeder aus dem letzten Winter. Wahrscheinlich wird es einen Lockdown geben (was immer auch geschlossen wird) und wenn nicht, dann wird er vielleicht nicht so genannt werden und wahrscheinlich wird es eine Impfpflicht geben, weil es ohne das Impfen der meisten keine Flucht aus dem Mahlstrom geben kann, wem das Ende November nicht klar ist, dem wird es niemals klar werden. Und wahrscheinlich wird es in den Monaten keine Veranstaltungen geben, im Mai vielleicht wieder, es wäre das dritte geschlossene Jahr in Folge, es sind keine temporären Strukturen mehr, das Geschlossene hat sich verfestigt und es wird schwer werden, sich davon zu lösen.

Die Wochen sind ein Mahlstrom und ich bin in aller Trostlosigkeit wieder bei den kalten Metaphern angelangt, das Eis wird dick werden, unumkehrbar die Überlastung, das Gefrieren, die Abläufe. Selbst wenn heute allen nach Anne Will eine gemeinschaftliche Erkenntnis käme und das Verhalten angepasst werden würde, der Winter ist geschrieben, die Frage ist, wie lang wird er dauern?

Ansonsten: Die Omicron-Mutante wird in verschiedenen Ländern nachgewiesen, u.a. auch Deutschland. Israel schließt für 14 Tage die Grenzen. Mehr als zehn Prozent der Bevölkerung habe eine Auffrischungsimpfung erhalten. Die Polizei beendet am Flughafen Lübeck eine Impfaktion mit unzulässigem Impfstoff des Unternehmers Winfried Stöcker. Die Landeskriminalämter melden, dass in den vergangenen Wochen der Handel mit gefälschten Impfzertifikaten spürbar zugenommen habe.

27. November | Omicron

Nun erhält B.1.1.529 einen Namen, omicron, und es ist kein zuversichtlich stimmendes Signal, wenn eine Mutante nach einem Buchstaben des griechischen Alphabets benannt wird. So besteht eine Aufgabe des heutigen Tages auch darin, Informationen zu sammeln, eine vernünftige Balance zu finden zwischen Skepsis und Besorgnis, um nicht sofort in einen Panikmodus zu verfallen, wenn in Texten von 32 Mutationen im Spikeprotein die Rede ist, weil alles, was man an einem Tag mit 76000 Neuinfektionen nicht braucht, wäre die Aussicht auf eine schlimmere Version des Schlimmen, ansteckender, tödlicher vielleicht.

Also lese ich und beruhige mich, weil nichts gewiss ist und alles sein könnte (Verbindung mit HIV? Übertragung durch ein Tier? starke Verbreitung wegen geringer Impfrate in Südafrika?), aber einigermaßen konkretere Erkenntnisse erst in ein, zwei Wochen zur Verfügung stehen werden, weiß zu schätzen, dass, im Gegensatz zu den anderen bedeutsamen Griechischen-Buchstaben-Mutanten diesmal sofort Maßnahmen ergriffen werden, dass der (Flug)Verkehr nach Südafrika innerhalb eines Tages zum Erliegen kommt, was das bedeutet, lese, dass es einen ersten Fall in Belgien gibt und weiß im Grunde, dass, wenn omicron sein sollte, wie der Panikmodus es annimmt, es ohnehin so kommen wird, dass man sich in einigen Monaten Delta zurückwünschen wird.

Aber vielleicht ja auch ganz anders. Und dann frage ich mich: Wozu dieses Spekulieren, dieses Doomscrollen, dieses Wissen, das noch kein Wissen ist? Ich lese über Dinge, von denen ich keine Ahnung habe, von Furin-Spaltstellen, Enzymen und Spike Gene Target Failure, habe nicht die geringste Chance, ohne Einordnung von außen ansatzweise zu begreifen, ob eine Gefahr vorliegt oder nicht, auch nicht die geringste Möglichkeit, etwas zu ändern an der Verbreitung oder Gefährlichkeit von omicron und bin im Grunde nur froh, dass heute offiziell eine Lesung im Landkreis Hildburghausen abgesagt wurde, wo die Inzidenz bei 1400 liegt.

26. November | einhunderttausend

Die Tage stolpern, greifen ineinander, einander vor, verhaken sich, bleiben stehen. Den Eintrag, der dieses Datum trägt, schreibe ich am Abend des vorherigen Tages über den vorherigen Tag. An diesem Tag überschreitet die Zahl der Coronatoten die einhunderttausend. Die Süddeutsche Zeitung druckt einhunderttausend Kreuze, viele Beiträge, welche die Zahl zum Anlass für eine Betrachtung nehmen, fast möchte ich schreiben, pflichtschuldig registrieren und weitereilen, weil am Tag des heutigen Datums die Zahl schon wieder bei einhunderttausendfünfhundert steht. Und weiter gerechnet wird, 78.000 Neuinfektionen x Todesrate 0,8 macht so und so viele Tote in sechs bis acht Wochen, eine Sieben-Tages-Inzidenz von 50.000 mal 0,8 macht so und so viele Tote pro Tag in sechs bis acht Wochen, all die Berechnungen, all die stillen Kreuze, die Tage stolpern, greifen vor.

Ansonsten: Die Europäische Arzneimittelagentur empfiehlt eine Impfung von Kindern und Jugendlichen zwischen zwölf und 17 Jahren. In Südafrika verbreitet sich die Mutante B.1.1.529. Der Apothekerverband meldet, dass Schnelltests knapp werden. Die neue Regierung will sich zehn Tage Zeit geben, um die Notwendigkeit anderer Coronamaßnahmen zu analysieren. São Paulo gibt bekannt, dass jede erwachsene Einwohnerin geimpft ist. Um Intensivbetten für Covid-Patentinnen freizuhalten, stellen mehrere niederländische Kliniken Chemotherapien ein. Wegen der 3G-Regel am Arbeitsplatz und deshalb fehlenden Mitarbeiterinnen erschienen die Thüringer Regionalzeitung in deutlich geringerem Umfang. . Die Inzidenz in Sachsen übersteigt die 1000 und ist damit fast doppelt so hoch wie im zweitplatzierten Thüringen. Sachsens Ministerpräsident erklärt, Bergamo in Sachsen nicht zulassen zu wollen. Allein unter Todkranken.

25. November | Weimarer Weihnacht

Jeden Tag sah ich, wie der Weimarer Weihnachtsmarkt aufgebaut wurde; Buden gehämmert, Lichterketten aufgehängt, Bäume aufgerichtet, Glühweinstände präpariert. Und jedes Mal fragte ich mich, wie es wohl ist, aufzubauen und dabei zu ahnen, dass man sehr wahrscheinlich in wenigen Tagen wieder abbauen muss.

Dienstagmorgen wurde eröffnet, Dienstagnachmittag kam der Erlass, dass in Thüringen keine Weihnachtsmärkte stattfinden dürfen. Fast zeitgleich die Meldung, dass die Städte Weimar, Erfurt, Eisenach eine Klage gegen den Erlass prüfen. Gestern 18.00 Uhr schloss der Weihnachtsmarkt, ab heute wird abgebaut. Die Buden, Stände, Karussells, Pyramiden werden entfernt, Theaterplatz, Markt, Schillerstraße werden entleert, allein die Eisbahn beim Denkmal wird bleiben.

Der Weihnachtsmarkt in Zeiten der Pandemie ist kein unpassendes Symbol für all die Hoffnungen, Illusionen und Versäumnisse, auch das Bizarre und Widersprüchliche. Da ist die Gesellschaft für Aerosolforschung, deren Mitglieder erklären, dass sie Absagen von Weihnachtsmärkten für wenig sinnvoll halten; die geringere Ansteckungsgefahr an der Luft, zudem träfen sich die Leute dann eben drinnen und feiern doch.

Und doch: Ich laufe über den Weihnachtsmarkt, sehe jemand Bekanntes, wir halten an, wir reden, vermeiden im Atem des anderen zu stehen, tun es dennoch. Die Wahrscheinlichkeit solcher Treffen so viel größer, wenn mehr Menschen zusammenkommen. Sie stehen am Glühweinstand, am Lángosstand, wo ein Schild hängt »Kein Verzehr hier«, stehen sie daneben und verzehren, überall hängen die Schilder 2G, doch gefragt werde ich nirgends, gefragt wird niemand beim Betreten der Innenstadt nach 2G, nach Tests, nach Symptomen, niemand guckt nach den Masken, auf Eigenverantwortung wird gesetzt, auch beim dritten Glühwein. An einem Stand gibt es zu den Bohnen gratis eine Erklärung dazu, weshalb wir jetzt in einer Diktatur leben.

Seit Tagen wurde aufgebaut, seit Wochen verdoppeln sich die Zahlen. Und auch wenn es rechtliche Gründe möglicher Entschädigungszahlungen geben kann, den Weihnachtsmarkt erst aufgrund einer Verordnung von außen abzusagen, muss es bizarr gewesen sein anzunehmen, dass dieser November, die dunkelgefärbten Landkreis Mitteldeutschlands keine Folgen haben werden für den Markt; dieses trotzige Aufbauen und Aufbäumen, das auch verzweifelte Weitermachen, als wäre es ist wie im Juni des letzten Jahres, als es in der Stadt vier Wochen lang keine einzige Neuinfektion gab. Dieses bockige Ignorieren der Gegebenheiten auch ein passendes Symbol für die deutschlandweite Coronapolitik dieses Herbstes.

Am Mittwochabend schiebe ich das Fahrrad über den nun geschlossenen Weihnachtsmarkt. Kein Karussell wird sich noch drehen, keinen Lebkuchen werde ich hier kaufen können. Kleinere Menschengruppen laufen an den geschlossenen Buden vorbei. In einigen Hütten brennt hinter heruntergelassenen Rollladen inoffizielles Licht, man steht auch davor, trinkt, spricht vor allem. »Das ganze Jahr über haben sie die Händler gefickt. Den größten Fick haben sie sich für den Schluss aufgehoben«, sagt jemand.

Ansonsten: Mit 76000 Neuinfektionen ein neuer Negativwert. In der Bundeswehr wird die Coronaimpfung Pflicht. Die neue Regierung kündigt an, einen Corona-Krisenstab einzuberufen. Joshua Kimmich wird positiv getestet. Russische Ärztinnen wollen Impfgegnerinnen aus Politik, Medien und Kunst durch Coronastationen führen, »Sie sollen mit eigenen Augen sehen, wie die Menschen um jeden Atemzug kämpfen, sie sollen die Geschichten unserer Patienten hören, die ihnen geglaubt haben und nicht uns.«

24. November | zum Bersten

Seit einundzwanzig Monaten laufe ich durch die Stadt und fotografiere, wie die Pandemie auf die Stadt wirkt. Ganz am Anfang gab es fast nichts festzuhalten, dann war es die Leere und das Geschlossene, dann die Hygienehinweise, dann die Maskenschilder, dann Geschwurbelkritzeleien an Litfaßsäulen, die weggeworfenen Masken, die Mitnehmmenüs der Gaststätten. Diesen Sommer wurde es von allem weniger, fiel es mir schwerer, Coronamotive zu entdecken. Nur die weggeworfenen Masken blieben. Seit einigen Wochen hat sich das geändert. Auf jedem meiner Spaziergänge finden sich mehrere Bilder, meist Variationen von 3G- und 2G-Beschilderungen.

Auch in den Worten wachsen die Motive wieder. Fiel es mir im Sommer, besonders im anbrechenden Herbst schwer, Einträge zu verfassen, fehlte die Kraft dafür, die Aufmerksamkeit, auch das Interesse, mich mit der Pandemie zu beschäftigen, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten, Beobachtungen zu erinnern, stapeln sich die Themen für die Einträge seit einigen Wochen, lasse ich aus Platzgründen vieles ungeschrieben, was mir im Kopf herumgeht.

Ich merke es auch in den Newstickern, aus denen sich mein Ansonsten oft speist. Zeitweise waren die Newsticker ausgesetzt, nur wenige Artikel erschienen, sie brachten wenig, was meine Aufmerksamkeit erregte, der Strom an Informationen versickerte, auch die Debatten, die Widersprüche, die mich beschäftigten, ich war dankbar dafür.

Nun sind die Ticker wieder angeworfen, die Corona-Ressorts der Medien sind bis zum Bersten gefüllt, die Titelbilder sind zurück, die Brennpunkte, die Pro und Contras. Ich hätte gern darauf verzichtet, hätte gern den Schlusspunkt hinter den 24. August 2021 gesetzt, anderthalb Jahre Coronamonate hätte mir gereicht. Jetzt werden es zwei geschriebene Jahre und ich ahne, auch das wird nicht genügen.

Ansonsten: Mit 67000 Neuinfektionen ein neuer Negativwert. Mit über 600000 Impfungen wird der höchste Tageswert seit Juli vermeldet. Österreich gibt eine Impflotterie bekannt; die Gewinnerinnen werden zu Weihnachten in einer großen Fernsehshow ermittelt. Mit gefälschter Approbationsurkunde gibt sich ein Theologe bei München als Arzt aus und impft 1400 Menschen. 3G am Arbeitsplatz tritt in Kraft. Diskussionen darüber, ob das Impfzertifikat ohne Boostern verfallen sollte. Thüringen bereitet die Verlegung von Patientinnen in andere Bundesländer vor. Die Thüringer Regierung verschärft die Coronamaßnahmen u.a. nächtliche Ausgehsperre für Ungeimpfte und die Absage aller Weihnachtsmärkte. Aerosolforscher halten die Absage von Weihnachtsmärkten und nächtliche Ausgehverbote für kontraproduktiv. Fotos tauchen auf, die den gekündigten Trainer von Werder Bremen, der sein Impfzertifikat fälschte, beim Feiern auf dem Kölner Karneval zeigen.

23. November | Enttäuschung

Ein Gespräch vor einigen Tagen. Mein Gegenüber meinte, neben vielen anderem wäre da auch ein Gefühl von Enttäuschung, Enttäuschung darüber, dass nach der 2. Impfung nicht alles vorbei sei, dass die Pandemie weitergehe, sogar schlimmer werde, dass es, anders als angekündigt, eine weitere Impfung brauche, mehr Maßnahmen.

Ich verstehe diese Enttäuschung, ich fühle sie auch. Ich hatte mir das anders gedacht. Ich bin enttäuscht; ich habe mich im Großen und Ganzen an die Regeln gehalten, habe mitgetragen, mitgesprochen, mich zwei Mal impfen lassen. Ich habe alles richtig gemacht. Und nun bin ich wieder in einer Welle, doppelt so hoch wie bisher schlägt sie, lese wieder von den überfüllten Intensivstationen, werde eingeschränkt, schränke mich vernünftigerweise freiwillig ein. Dabei war das anders ausgemacht.

Ich weiß, dass es ein Privileg ist, nur enttäuscht zu sein, aber nicht gesundheitlich betroffen, nicht selbst in einem Beruf zu arbeiten, in dem ich täglich mit den Folgen der Krankheit direkt konfrontiert werde. Natürlich ist meine Enttäuschung irrelevant zu der Meldung, dass in so und so vielen bayrischen Landkreisen keine Intensivbetten mehr zur Verfügung stehen, die Wortmeldungen all der Menschen, deren Operationen nun auf unbestimmte Zeit verschoben werden müssen.

Dennoch kann ich gegen das Gefühl nicht argumentieren. Ein Gefühl ist ein Gefühl. Es ist eines von sehr vielen zur Zeit. Und es ist da. An wen adressiere ich meine Enttäuschung? An das Virus? An ein Paralleluniversum, in dem mir direkt nach der 2. Impfung gesagt worden wäre: Es braucht aber drei Impfungen? Was hätte das mit meiner Erwartung gemacht, meinem Verhalten? Ein Paralleluniversum, in dem man die Erfahrungen aus Israel schon im Sommer auf Deutschland übertragen hätte und das Boostern entsprechend vorbereitet hätte? Ein Universum, in dem die Impfquote bei 90% liegen würde und längst schon die Impfung der Kinder begonnen hätte? Ein Universum, in dem 2G und 3G ernsthaft kontrolliert worden wären? Ein Universum, in dem Politikerinnen (und alle anderen) prognostizierte Szenarien lesen, verstehen und ihr Handeln danach ausrichten können? Ein Universum, in dem Sarah Wagenknecht in keiner einzigen Pandemie-Talkshow säße?

Nein, meine Enttäuschung ist wesentlich unspezifischer. Sie ist von allgemeiner Natur. Enttäuschung über den ungeraden Lauf der Welt, Enttäuschung über etwas Grundsätzliches, das sogenannte Schicksal, weil, egal was ich getan hätte, die Welle wäre dennoch so, wie sie gerade ist, eine pathetische, vielleicht auch wehleidige Enttäuschung über die Ohnmacht bei all dem, Enttäuschung, weil das Schlechte passiert, obwohl so viel Gutes getan wird und ich mich bei aller Enttäuschung glücklich schätzen kann, nur Enttäuschung zu spüren.

Ansonsten: Aus Protest gegen die geplante Biontech-Rationierung wollen Ärztinnen aus dem Saarland das Impfen einstellen. Der Lockdown in Österreich beginnt. Von verschiedenen Verbänden die Forderung nach einer Impfpflicht, in einigen Umfragen spricht sich eine knappe Mehrheit dafür aus. Nach einem Brandanschlag auf ein Polizeiauto in Linz erklären die Tatverdächtigen, dass sie die Polizisten, die sie zuvor bei Coronamaßnahmen kontrollierten, töten wollten. Hat man ein Recht auf Krankheit?

22. November | Dunkelziffern

Die hohen Zahlen bringen es mit sich, dass nicht mehr alle Zahlen erhoben werden können. Angesichts der vielen Fälle melden Gesundheitsämter nur mit großer Verzögerung, Labore stoßen an ihre Kapazitätsgrenzen, durch die Nachmeldungen sind oft auch die Hospitalisierungsraten fehlerhaft. Die Zahlen stimmen nicht, weil nicht alle in der Zeit erfasst werden, weshalb die Zahlen scheinbar nicht mehr wie zuvor weiterwachsen, vielleicht sogar sinken, obwohl das Gegenteil stattfindet, eine scheinbare Entspannung, dabei ein Blindflug in diesem Pandemienovember.

Ansonsten: Kritik am Gesundheitsminister, der die Auslieferung von Biontech-Impfstoff beschränkt. Nachdem sich die Hinweise verdichten, dass der Trainer von Werder Bremen sein Impfzertifikat fälschte, wird er vom Verein entlassen. Ungeimpften Spielern des FC Bayern München soll das Gehalt gekürzt werden. Bei einem Spiel von Dynamo Dresden skandieren die Gästefans: »Sachsen, lasst euch impfen.«

21. November | hohe Stiefel alles dicht

Da demonstrieren sie, die Querdenker und Impfgegnerinnen und Nazis und Esoterikerinnen und normalen Leute, 35000 in Wien, an einem Samstag in einem Land mit einer Inzidenz jenseits der 1000 und einem Triageteam in Salzburg und einem Mann, der das vom FPÖ-Chef empfohlene Viehentwurmungsmittel falsch dosierte und starb, da stehen sie auf dem Heldenplatz mit ihren selbstgemalten gelben Sternen und hoffen auf den Beginn eines Bürgerkriegs und größer als ihre Angst vor der Coronadiktatur ist nur die vor den Systemschafen, die unter Kanaldeckeln hocken und die Demonstrierenden heimlich in die Waden impfen, deshalb die Empfehlung: hohe Stiefel tragen, noch größer nur die Angst, dass Hubschrauber flüssiges Pfizer versprühen, deshalb die Empfehlung auf Telegram: alle Körperöffnungen dicht halten.

20. November | anstehen

Vor dem Weimarer Impfzentrum heute etwas, das ich dort in den Coronamonaten nie sah: anstehende Menschen. In Schlaufen zieht sich die Schlange über den Goetheplatz, endet in den Arkaden beim Kasseturm, 150, vielleicht 200 Personen. A. steht ebenfalls an, vor einer halben Stunde ist sie gekommen, wird wahrscheinlich noch zwei Stunden stehen. Sie holt ihre Boosterimpfung. Heute ist kein Termin dafür notwendig, freies Impfen. Die Atmosphäre ist ruhig, fast gelassen. G. kommt hinzu und erzählt, dass die Stimmung vor dem Testzentrum am Markt anders sei, »revolutionär« sagt er, die Anstehenden dort seien eher wütend und gefrustet, weil sie sich testen lassen müssen, 2G. Während sie dort und hier anstehen, ist der Aufbau des Weihnachtsmarkts fast beendet, aus den ersten Buden heraus werden Kerzen verkauft.

Ansonsten: Ausschreitungen in Rotterdam bei Antimaßnahmen-Demonstrationen. In Sachsen ist es nun gestattet, Krematorien auch sonntags zu betreiben. Österreich beschließt einen Lockdown und eine Impfpflicht ab Februar. In Österreich sichert die Polizei Krankenhäuser und Intensivstationen vor den Angriffen von Impfgegnerinnen. Bayern sagt alle Weihnachtsmärkte ab.

19. November | Eimer Wasser

Heute müsste ich von den weichenstellenden Entscheidungen in der Politik schreiben, der offizielle Verabschiedung von der epidemischen Lage von nationaler Tragweite und der Neugestaltung des Infektionsschutzgesetzes, wie die einen verteidigen, die anderen kritisieren, wie es um Formalitäten geht, auch darum, allgemeingültige Maßnahme zu unterbinden, um zielgerichtet vor Ort agieren zu können.

Und von maximal verunglückter Kommunikation müsste ich schreiben, eben in den Tagen des Höchststandes eine Notlage zu beenden und nicht erklären zu können, was das meint, schreiben, dass der Eindruck von HickHack bleibt, von unwürdigem Ankreiden des Gegners, obwohl es in diesen Tagen eine gemeinsame Stimme bräuchte, ein einiges Signal, dass zwei Regierungen zugleich alle in Verantwortung nimmt und darin auch eine Chance läge.

Und schreiben müsste ich auch von Nüßlein und Sauter, den beiden CSUlern, die Millionen an den sogenannten Maskendeals verdienten und denen nun die Millionen vom Gericht zugesprochen wurden, weil sie gegen kein Gesetz verstießen und auch das mag formal gerecht sein und damit gerecht, aber gerecht wäre etwas anders, das versteht jeder außer Nüßlein und Sauter.

Stattdessen schreibe ich über den Eimer Wasser, von dem der RKI-Chef sprach in einem Gespräch mit dem sächsischen Ministerpräsidenten. Der Eimer als (eher verunglückte) Metapher dafür, dass von den 65000 Neuinfizierten statistisch gesehen mindestens 400 sterben werden, mehrmals weist Wiehler darauf hin, die Unerbittlichkeit der Zahlen, die Zahlen von heute sind jene von morgen. Und später wirft ihm ein Medizinjournalist in einem Interview mit dem DLF Panikmache vor und für einen Moment denke ich, ja, statistisch gesehen werden von den 65000 Infizierten 61000 überleben, 55000 werden nicht behandelt werden müssen, vielleicht 40000 werden nichts weiter mitbekommen als ein bisschen Kopfweh und Fieber, viele nicht mal das.

Aber darum ging es bei der Corona-Pandemie ja noch nie. Die meisten bleiben unbetroffen vom Virus, zum Glück. Es ging stets, um jene, die dieses Glück nicht haben. Und die Erkenntnis, dass dies glücklicherweise nicht allein eine Sache des »Glücks« ist, sondern zu großen Teilen in unser aller Händen liegt. Wie groß dieser Teil ist und wie viel Hände daran mitwirken, das wird ausgehandelt, gerade wieder.

Donnerstag vor zwei Wochen hieß der Eintrag »Höchststand I«, 34000 Neuinfektionen. Zwei Wochen später waren es 65000 Neuinfektionen, nicht ganz, aber ungefähr eine Verdopplung. In diesem Tempo wären es Anfang Dezember 120000 Neuinfektionen. Einiges spricht dafür, dass dies nicht geschehen wird. Vielleicht wird ein Peak bei 80000 erreicht, vielleicht waren die 65000 schon der Peak, auch, weil z.B. Sachsen aktuell keine Zahlen mehr meldet.

Ich sehe, dass in den Graphen die Skalen verschoben werden. Die Höchstzahlen vom letzten Winter wirken so kleiner, fast harmlos, unerhebliche Erhebungen zum Vergleich zu diesen Tagen. Aber die Tage damals waren nicht harmlos, heute sind sie es auch nicht. Ich fürchte, dass die veränderten Skalen meinen Blick ändern, dass ich, wenn der Lockdown kommt und unser Verhalten eingefroren ist und die Zahlen auf 50000, auf 40000 sinken, ich das Erfolg sehe, als etwas Gutes, als Glück. Ich fürchte, weil Eimer Wasser werden auch dann ausgeschüttet.

Ansonsten: Die Preise für Schnelltests in den Drogerien verdoppeln sich. Auf sogenannten »Lebkas-Partya« stecken sich Jugendliche in Bayern bei Positiv-Getesteten an, um zukünftig die 80€ für einen PCR-Test für Clubbesuche zu sparen. In Österreich stirbt ein Mann, der sich vorsätzlich mit dem Sars-Cov2-Virus ansteckte. Ein schwäbischer Arzt, der hunderte Patentinnen eine Corona-Impfung vortäuschte, wird mit einem Berufsverbot belegt.

18. November | Markus Lanz sagt leise ist nicht egal

Bei Markus Lanz sitzt Thomas Mertens, der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission. Er spricht davon, dass Infektionsketten schnell unterbrochen werden müssen, sagt über die Boosterimpfungen, dass Ältere deutlich gefährdeter sind, sagt: »Wir wissen aus der derzeit laufenden Welle, dass die Kinder erfreulicherweise für die Überlastung des Gesundheitssystems keine Rolle spielen. Wenn ich das richtig im Kopf habe, sind 32 Kinder über die ganze Pandemie auf Intensiv gelandet.«

Markus Lanz: »Ich habe eine andere Zahl im Kopf … 35, die gestorben sind.«

Thomas Mertens: »… 32 sind gestorben, Entschuldigung.«

»Ich hatte die 35 im Kopf … wie auch immer.«

»32 … ist egal …«

»… äh … ist nicht egal …«

»Von denen waren aber 20 vorerkrankt.«

Ich weiß, bei diesem Gespräch gibt es einen Kontext, es wird davor gesprochen und danach weiter. Dennoch beschäftigen mich zwei Momente darin sehr. Einmal der Schluss, das aber beim Verweis auf die Vorerkrankung der gestorbenen Kinder, so, als würde die Vorerkrankung etwas plausibel machen, unabwendbar, letztlich akzeptabel, so, als wären Vorerkrankungen eine Entschuldigung, wie selbstverständlich klingt dieses aber.

Mehr noch aber wirft mich das wie auch immer von Markus Lanz, besonders das ist egal von Thomas Mertens zu Boden. Es ist kein schriftlicher Text, es ist ein Gespräch, beide Äußerungen entstehen im Gesagten und weil das so ist, sind die Worte auch Impuls, vielleicht innere Annahme. 32 tote Kinder oder 35 tote Kinder, wie auch immer, ist egal.

Markus Lanz wird nach dem Aussprechen etwas bewusst. Und er schiebt ein leises, verhaltenes, zögerliches, ist nicht egal hinterher, viel zu leise, viel zu leise.

Ansonsten: In Österreich liegt die Inzidenz bei 953. Sachsen erreicht die Überlastungsstufe bei der Belegung von Krankenhausbetten. Nach einem Coronaausbruch an einer Waldorfschule in Freiburg stellt sich heraus, dass fast alle Atteste, die Schüler und Lehrer von der Maskenpflicht befreiten, gefälscht waren. Die Brandenburger AfD muss ihren Parteitag absagen, nachdem am Veranstaltungsort 2G gilt und dadurch die Hälfte der Mitglieder nicht teilnehmen könnte.

17. November | mittendrin

Ein Intensivmediziner schlägt vor, aus den Krankenhäusern in den am stärksten betroffenen Bundesländern (Sachsen, Thüringen, Bayern) schon heute die Patientinnen in die nördlichen Länder zu bringen, damit in den kommenden Wochen dort mehr Kapazitäten vorhanden sind. Und in Salzburg werden Triageteams gebildet, die in den nächsten Wochen entscheiden, wer behandelt werden soll und wer nicht. Und in (meinem) Wels blockieren Impfgegnerinnen auf einer Demonstration den Haupteingang des Spitals und die Rettungsausfahrt des Roten Kreuzes.

Und in Deutschland steigt die Inzidenz mit 52000 auf einen neuen Höchstwert. Und auf der Übersichtskarte werden die Farben geändert, um die neuen Inzidenzwerte unterbringen zu können. Und in einem Text über die Coronapolitik wird geschrieben, dass es im Sommer in der CDU-Regierung eine Tendenz zu 2G gab, gegen das sich aber der damalige Kanzlerkandidat Armin Laschet aussprach. Und im gleichen Text steht, dass das Gesundheitsministerium nur verspätet Unterlagen an die zukünftige Regierung schickt.

Und in Sachsen stoßen die Labore an ihre Kapazitäten. Und im ZDF läuft ein Spielfilm über ein historisches Ereignis, die ersten Tage der Pandemie. Und in Thüringen wird landesweit 2G eingeführt. Und in Weimar ist mittlerweile fast jeder Hundertste ein »aktiver Fall«. Und in der Schillerstraße werden die Weihnachtsbuden aufgebaut, auf dem Markt die Glühweinstände.

Und ich könnte das alles auch anders schreiben; über all die Städte schreiben, die kein Triageteam bilden, all die unblockierten Krankenhäuser, all die Filme, die nicht von Corona erzählen, aber würde das diesen November beschreiben.

16. November | Kindergarten

Wie ganz Weimar ist auch der Kindergarten in Warnstufe 3 versetzt. Die Kinder sind in verschiedene Gruppe aufgeteilt, die sich untereinander nicht begegnen dürfen; kein gemeinsames Spielen, kein gemeinsames Essen, keine gemeinsamen Unternehmungen. Abgesagt sind Feierlichkeiten wie das Lichterfest, Musikkurse können nur Kinder einer Gruppe besuchen. Die Gruppen dürfen nur zu bestimmten Zeiten auf dem Hof gehen, ein Plan muss erstellt werden. Letztens lief das Kind einer Erzieherin, das in einer anderen Gruppe ist, draußen zu ihrer Mutter. Die Erzieherin erschrak, rief »Aber du darfst doch gar nicht hier sein« und sagte später »Jetzt erschrecke ich schon, wenn mein eigenes Kind zu mir kommt.«

Obwohl die Regelungen aus den vergangenen Warnstufen-Zeiten bekannt sind, braucht es einige Tage, bis sie sich eingefunden haben, bis die Absprachen stimmen. Momentan gibt es viele Krankschreibungen, Gruppen werden zwangsweise zusammengelegt, die Öffnungszeiten sind verkürzt. Es gibt keine Alternative dazu, der Kindergarten tut, was ihm möglich ist, oft mehr als das. Die gekürzten Öffnungszeiten kollidieren mit den Arbeitszeiten. Wer um sieben Uhr zur Arbeit geht oder bis um vier Uhr arbeitet, der muss eine Lösung finden. Die Lösung heißt immer Verzicht. Manchmal gibt es nur Lösungen, die andere Kollisionen nach sich ziehen. Wenn die Lehrerin ihr Kind erst um acht Uhr abgeben kann, dann fällt die erste Schulstunde aus. Oder Kollegen müssen einspringen, die dafür wieder auf anderes verzichten müssen, lauter Dominosteine. Die Eltern-WhatsUp-Gruppen quellen über voll Emotionen, Aushänge werden gemacht, Mails verschickt, in vielen Gesprächen viel Frust.

Aufgeschrieben klingt es fast harmlos, lauter Banalitäten, alles irgendwie handhabbar, wegorganisierbar. Und natürlich ist nicht alles auf Corona zurückführbar, ist jeder Kindergartenwinter eine Zeit der Kompromisse, ist der Personalschlüssel stets unzureichend. In der Summe aber fügen sich all diese »Kleinigkeiten« momentan zusammen, explodieren und fliegen um die Ohren, trifft Verzicht auf Druck und das Wissen, dass es eigentlich anders sein könnte.

Die Erzieherinnen im Kindergarten arbeiten seit über zwanzig Monaten unter Pandemiebedingungen. Sie sind erschöpft, Zeit für Regeneration ist kaum vorhanden. Auch deshalb mehr Krankschreibungen, die wiederum die Belastung für die verbleibenden Erzieherinnen erhöht. Die Eltern, auch seit zwanzig Monaten in der Pandemie, wollen ihre Kinder unter guten Bedingungen wissen. Noch mehr Dominosteine. Der Winter beginnt gerade erst.

Ansonsten: Der Bundesverband der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft warnt vor Absagen von Weihnachtsmärkten als einen »Todesstoß für die Branche«. Diskussionen über die Impfpflicht in verschiedenen Berufsgruppen. Der neunte Tag in Folge mit einem Inzidenz-Höchstwert. In Österreich, wo die Inzidenz bei 919 liegt, ist das Vieh-Entwurmungsmedikament Ivermectin, das gegen eine Covid-Erkrankung helfen soll, ausverkauft.

15. November | Machtvakuum

»Machtvakuum« ist eines der Wörter, das seit Wochen durch Texte schwirrt und längst hätte Titel eines Eintrags werden sollen. »Machtvakuum« meint eine Situation, in der die amtierende Regierung abgewählt ist und sich darauf beschränkt, der noch nicht im Amt befindlichen Regierung vorzuwerfen, nichts gegen die Pandemie zu unternehmen und die noch nicht zusammengefundene Regierung panisch darauf bedacht ist, möglichst wenig zur Pandemie zu verlautbaren.

Ein Vakuum entsteht und das zur ungünstigsten aller Zeiten, weil es zwar auch anrührend ist, wie die 16-Jahre-Kanzlerin auf Abschiedstournee geht und dabei unbeholfen den französischen Präsidenten umarmt, es zugleich aber auch angenehm wäre, wenn die amtierende Regierungschefin Stellung zur Lage bezieht. Oder auch ihr Nachfolger irgendwie Position einnimmt, sich in irgendeiner Weise präsentiert als jemand, der den Ernst der Situation erfasst hat und in seinem Verhalten als Führungspersönlichkeit den Weg der kommenden Monate vorzeichnet.

So war das und ist in gewisser Weise weiterhin und doch hat sich mittlerweile das Vakuum etwas geschlossen. Es gibt (verabschiedete) Maßnahmen, die vor allem daraufhin zielen, Verantwortung an andere abzugeben. Dazu weist jener Teil der neuen Regierung, der öffentlich spricht, wenig missverständlich daraufhin, dass er den Sinn von Kontaktbeschränkungen für wissenschaftlich nicht erwiesen sieht.

Das Ausbleiben von Signalen, die Symbolkraft der gesendeten Signale sind fatal. Erst werden die Warnungen für den Winter nicht ernstgenommen, als das expotionelle Wachstum seine Dynamik entfaltet, verhindert das Machtvakuum, das eigentlich keines sein dürfte, ein sofortiges Eingreifen und nun wird deutlich, dass wieder ein relevanter Teil der Entscheiderinnen nicht begreift, was geschieht. Oder nicht begreifen will.

Und natürlich muss ich differenzieren, muss zwischen Bund, Land, Stadt unterscheiden, was ist schon »die Politik«? Doch was hilft die Differenzierung, wenn die Inzidenzzahlen jede Woche um 50% wachsen, die Intensivbettenzahl in der Pandemiezeit aber gesunken ist. Nicht alles davon ist außerschließlich politisch, ist auch wirtschaftlich, medial, sozial. Aber da ist auch Panik in den Augen, weil jedem, der spricht, auch bewusst ist, dass es eine große Menge Schuld gibt und damit auch eine Menge Schuldige.

Bei der zweiten und dritten Welle habe ich geschrieben, dass die Pandemie deutlich macht, dass das System, in dem wir leben, nicht für Krisen gemacht ist. Nun schreibe ich: Das System, in dem wir leben, ist für Krisen gemacht. Dafür gemacht, in Nichtkrisen und Krisen einen bestimmten Teil der Gesellschaft um jeden Preis zu verteidigen und schützen. Und den anderen nicht. Der andere läuft mit, wird ertragen, geduldet, überlastet. Selten war das deutlicher als bei einem 7-Tage-Mittelwert von 37505.

Ansonsten: Kritik an einer möglich Homeoffice-Pflicht, weil das »wäre das falsche Signal für eine sich langsam wieder normalisierende Wirtschaft«. Diskussion um eine 3G-Regel im öffentlichen Nahverkehr; die Betreiber halten sie nicht für umsetzbar. Der Maori-Stamm Ngati Toa spricht sich gegen die Aufführung des traditionellen Haka-Tanzes bei Demonstrationen von Impfgegnern aus. Weil in einem Landkreis in Bayern die Intensivstation voll belegt sind, werden Covidkranke nach Italien verlegt.

14. November | Diskursinzidenz

Gerade jeden Tag wieder zehn neue Aspekte der Pandemie, zwanzig argumentative Schlachten die durch miteinander konkurrierende Hashtags (#allesindenArm #ihrsprechtnichtfüruns #impfteuchinsknie #zurückzurvernunft #lindner #mailab ) geführt werden, dreißig zugespitzte Artikel, vierzig Gesprächsrunden, fünfzig Coronameinungskacheln von Sarah Wagenknecht und Oskar Lafontaine, sechzig Facebookposts von Facebookfreunden, siebzig Corona-Smalltalks auf dem Weg zum Bäcker, achtzig Titelseiten in Signalrot, neunzig trending Corona-Youtube-Videos, hundert anrührende Werbespots von Unternehmen, die mit Emotionen zur Pandemie Waren verkaufen möchten, dazu die wieder mit Einträgen überquellenden Corona-Newsticker, so viel Gesprächsbedarf, so viel Information und Desinformation, so viel Dringlichkeit, der Diskurs, gekoppelt an die Inzidenz, je höher die Zahlen desto mehr Einträge hier, so viel, was in Worte drängt.

12. November | Bilder von Narren

Die Bilder vom Karnevalsauftakt zeigen feiernde Menschen während einer Pandemie. Die Narren haben sich korrekt verhalten. Sie haben sich impfen lassen, geimpft sind sie zu einer erlaubten Veranstaltung gegangen, an der nur Geimpfte teilnehmen dürfen, deren letzter Test nicht älter als 24 Stunden sein darf. Die Narren sind im Recht.

Doch es fühlt sich so falsch an, diese Bilder vom Karneval zu sehen, viele tausend Menschen eng beisammen. Es fühlt sich falsch an, weil es naiv wäre anzunehmen, dass alle Narrenzertifikate kontrolliert wurden, alle Narrentests korrekt verliefen. Es fühlt sich falsch an an einem Tag, an dem 50000 Ansteckungen gemeldet sind und Deutschland damit weltweit das Land mit den meisten Neuinfektionen ist. Falsch an, weil ich die übervolle Zülpicher Straße stehe und weiß, dass, gerechnet nach dem bisherigen Verlauf, von den 50000 Neuinfizierten 1% sterben werden und bis sie gestorben sind, werden tausende Menschen um deren Leben kämpfen, Tage, Woche an den Intensivbetten stehen, Körper drehen, Zugänge legen.

Ich setze die zehntausend Feiernden gegen die 48-Stunden-Schichten der ECMO-Ärztinnen, setze die Erlaubnis, Karneval durchzuführen gegen all die untersagten Veranstaltungen, die Martinszüge und Lichterfeste der Kinder, gegen all die Entbehrungen der letzten Wochen und Monate. Ich sehe jene, die regelkonform feiern, und sehe jene, die regelkonform verzichten, eine Unwucht wird sichtbar.

Ich weiß, diese Art der Unwucht ist immer da. Wie kann ich essen, wenn andere verhungern? Wie kann ich Squid Game schauen, während an der polnischen Grenze Soldaten Kinder mit Tränengas beschießen? Doch das Narrenfest bringt die Unwucht in einen unmittelbaren Zusammenhang. Auch wenn jede der Närrinnen den Gesetzen folgt, auch wenn es ein unstillbares Bedürfnis gibt, die letzten zwanzig Monate feiernd hinter sich zu lassen, werfe ich den Narren ihre Gesetzestreue vor. Ich muss einen spießigen Satz schreiben, einen, der auch bei Nanu-Nana auf einer hässlichen Tasse stehen könnte; Nur weil es erlaubt ist, muss ich es nicht machen. Und vielleicht es auch so: Wenn sich Gesetzestreue falsch anfühlt, dann müssen auch die Gesetze falsch sein.

Jemand schreibt: »Bitte jetzt nicht wieder diese Pandemiephase wo alle Bilder von Menschengruppen posten um sich mal so richtig dolle aufzuregen« und fügt hinzu: »regt euch lieber über ein kaputtgespartes Gesundheitssystem chaotische Impfstrategie oder Querdenker-Desinformation auf als über ein paar hundert Leute die im Rahmen aller geltenden Regelungen einer etwas eigenartigen Tradition nachgehen«.

Ja, ich möchte nicht das junge Mädchen beschuldigen, das sagt, wenn der Alkoholpegel hoch genug sei, müsse man sich über Corona keine Gedanken mehr machen. Aber Freunde und Bekannte haben in den letzten Tagen auf Reisen und Veranstaltungen verzichtet, um für sich und andere kein Risiko einzugehen. Dem Erlaubten nach hätten sie anders handeln können. Sie haben es nicht getan. Ist es wirklich möglich, sich über Corona keine Gedanken zu machen, sollte das in diesem November ein erstrebenswertes Ziel sein?

Ansonsten: Aufgrund des in Mainz ansässigen Unternehmens Biontech kann die Stadt Mainz mit Mehreinnahmen von über einer Milliarde Euro rechnen und damit schuldenfrei werden. Laut einer Umfrage wählen 2/3 der Ungeimpften die AfD oder Die Basis. Oberösterreich verhängt ab Montag einen Lockdown für Ungeimpfte. Der bayrische Vizeministerpräsident lässt sich nun doch impfen. Deutschsprachige Länder haben den höchsten Anteil Ungeimpfter in Westeuropa.

https://twitter.com/derLampenputzer/status/1458757607582273536

11. November | Karneval

Heute beginnt Karneval und in Nordrhein-Westfalen ist mit 24-Stunden-Test das Schunkeln ohne Maske ausdrücklich erlaubt und der Prinz im Kölner Dreigestirn wird positiv auf Corona getestet und Christian Drosten sagt in einem Interview, dass er das Narrativ der »Pandemie der Ungeimpften« für falsch halte, weil »die Delta-Variante hat leider die Eigenschaft, sich trotz der Impfung zu verbreiten« und die Neuinfektionen übersteigen die 50000 und die Verdopplungszahl liegt bei 12 Tagen und der Generalsekretär der FDP löscht den Tweet, in dem er schreibt, dass unser Gesundheitssystem stabil und die Gesundheitsversorgung der Bürger gesichert sei, nach wenigen Stunden, und Bayern ruft den Katastrophenfall aus und der erste große Coronaausbruch in Deutschland fand Mitte Februar 2020 in Gangelt auf einer Karnevalssitzung statt und was ist dieser Eintrag, ein Newsticker, eine Montage, ein weiterer sich schließender Kreis, ein ewiger Pandemieloop.

https://twitter.com/yasminecmbarek/status/1458759594612871168

Nach 11.11 Uhr kommen die erwartbaren Bilder, mit dem Hinweis versehen 2G, die sind geimpft, mehrheitlich unter 40 etc. Aber ein wahnwitziger Kontrast; dort die Zülpicher Straße, dort die Krankenhäuser in Bayern, die keine Intensivbetten mehr freihaben, 11.11 gegen 50000 gestellt, ein Nebeneinander von Welten.

10. November | Stimmungsbild

Gestern an tausend Teichen gewesen, Reiher dort, Kraniche, hundert Schwäne, ein notwendiges Rausnehmen aus der Gegenwart, die Coronawelt weit weg, wenn die Schuhe im weichen Grund der abgelassenen Teiche einsinken. Und doch ist dieses Stimmungsbild von den Tagen, wenn ich die Zeit mit der vor einem Jahr vergleiche; viel düsterer die Äußerungen, die Ahnungen von der nahen Zukunft.

Viel besorgter die Warnungen der Wissenschaftlerinnen, viel besorgniserregender die Berichte der Ärztinnen, mehr Wut auf das Zulassen dieser Situation auf Entscheiderinnen, mehr Unverständnis, Fassungslosigkeit, auch Resignation, Enttäuschung, Fatalismus, das Wissen um das Eintreten des nun Unvermeidlichen. All dem gemein ist, dass nach den Erfahrungen des letzten Coronawinters gewiss ist, was kommt; Schließungen, Belastungen, Überlastung, ein Wachsen der Zahlen, viele Kranke, viele Tote. Krankenhäuser sagen Operationen ab, weil Intensivbetten für (mehrheitlich) ungeimpfte Covid-Patentinnen gebraucht werden, das berechnete Szenario, das eine notwendige Senkung des R-Werts um 15% bis Monatsmitte beinhaltet, trägt den Titel »ein Wunder geschieht«, Christian Drosten schließt aufgrund der aktuellen Lage weitere hunderttausend Coronatote nicht aus und nichts muss genauso kommen, aber die Ahnung, nein die Erfahrung ist, dass die Wahrscheinlichkeit für vieles davon hoch ist, weil die jetzige Dynamik nur mit großer Verzögerung aufzuhalten ist, weil bei vielen der Wille fehlt, diese Dynamik überhaupt zu erkennen und ernst zu nehmen, weil die letzten zwanzig Monate gezeigt haben, dass vieles in dem Raum, in dem wir leben, nicht dafür gedacht ist, eine bestimmte Form von Gerechtigkeit zu ermöglichen. In den Äußerungen, den Erwartungen geht es mittlerweile nicht mehr um die Frage, was das Schlimmste verhindern könnte, sondern darum, wie es sich in diesem Schlimmen einigeln lässt. Dass es in diesem Jahr keine Weihnachtsmärke geben wird, kein Weihnachten, dass diese Dynamik bis ins Frühjahr reichen wird, scheint sowieso abgemacht.

Das, was ich an diesem Abend an den Teichen dagegensetze, ist eine andere Dynamik. Aus den Erfahrungen zeigt sich auch, dass jetzt eine Zeit beginnt, in der vielen das Gefährdende deutlich wird und sich das Verhalten wegen dieses gestiegenen Gefahrenbewusstseins ändert, noch bevor Maßnahmen ergriffen werden. Aber ist das so? Wird sich wirklich das Verhalten vieler ändern, der Geimpften bei 2G, der Ungeimpften überhaupt? Ich sehe aufs Wasser, es wird kalt und dunkel, und ich weiß, dass sich dieser Schlusssatz auch als Metapher für das Stimmungsbild dieser Tage verwenden lässt.

8. November | Booster

Über das »Boostern« wollte ich länger schon schreiben, eher als Folklore, als ein Testat des Zeitgeistes; über Schaubilder, die aufschlüsseln, welcher Booster-Impfstoff mit welchem Impfstoff am effektivsten wirkt, über den »Booster« als weiteren Raketenbegriff nach Sputnik V und was das symbolisch sagen könnte etc.

Stattdessen nun ein Eintrag, der wenig poetisch ist, sondern mir eher als Vergegenwärtigung von Wissen dienen soll. Denn nach den letzten Tagen verstehe ich, dass der Begriff »Booster« kein passender ist. Eigentlich sollte es »Impfung« heißen. So, wie ich es lese, verliert sich nach den Monaten die Wirkung der zweiten Impfung, sinkt der Schutz vor einer Ansteckung (und auch Krankheit) deutlich. Nach sechs Monaten ist dieser noch immer signifikant besser als ohne Impfung, gerät aber in Bereiche, in denen Geimpfte zur Ausbreitung beitragen.

Zu verstehen, dass die dritte Impfung kein nice-to-have ist, nichts, das man sich irgendwann mal irgendwie holen sollte, um sich zwei Prozentpunkte sicherer zu fühlen, sondern elementar für einen selbst ist sowie für die Bekämpfung der Pandemie, stellt für mich eine ähnliche Erkenntnis dar wie damals die Sache mit den Masken oder den Aerosolen: etwas Grundsätzliches in der Pandemie muss ich neu verstehen lernen. Es gab Erkenntnisse, ich habe danach gehandelt, es gibt neue Erkenntnisse, nun muss ich meinen Blick und mein Handeln ändern.

Dieses Ändern stellt nicht die Wissenschaft, nicht mein Vertrauen, nicht mal den Impfstoff in Frage. Diese Art der Veränderung ist etwas, das ich im Laufe der letzten beiden Jahre mehrmals schon beobachten konnte. Sie macht einen Widerspruch auf, vielleicht sogar ein Paradoxon. Von der liebgewonnenen Überzeugung – mit zwei Impfungen bin ich auf der sicheren Seite und kann mich verhalten, als gäbe es keinen Virus – muss ich mich verabschieden, wenn ich weiter durch die Pandemie kommen will.

Ich muss mich davon verabschieden, dass 2G so etwas wie Schutz garantiert. Im Gegenteil: Paradoxerweise erhöht 2G die Gefahr, weil 2G Sicherheit verspricht und ich mich deshalb anders verhalte. Die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung steigt, weil ich glaube, wenn ich mich als Geimpfter unter Geimpften bewege, kann ich mich nicht anstecken. Wohl auch deshalb lese ich vermehrt von 2G+G: Zutritt zu einem Ort gibt es nur geimpft oder genesen plus tagesaktuellem Test.

Ich hoffe, dass in den nächsten Wochen offen ausgesprochen wird, dass zweimalige Impfungen nicht ausreichend schützen, dass erklärt wird, wie es zu dieser Erkenntnis kam und nicht verschwiegen, sondern offen mit dem Widerspruch umgegangen wird. Dass erklärt wird, dass die Aussage von gestern gestern korrekt war und heute nicht mehr, dass dieser »Fehler« offen besprochen und nicht unter den Tisch gekehrt wird, dass so schnell Wege gefunden werden, diese dritte Impfung vielen zu ermöglichen, weil paradoxerweise jene, die zuerst geschützt wurden, weil sie am verwundbarsten sind, nun wieder am verwundbarsten sind.

Das ist der Boostereintrag, den ich schreibe, über einen weiteren Wendepunkt innerhalb der Pandemie. Und füge hinzu, welcher Luxus, über eine dritte Impfung zu schreiben, während so viele nicht einmal die Chance auf eine erste hatten.

Ansonsten: Mit 201 wird der bisher höchste Inzidenzwert in Deutschland gemeldet. Weil in den USA Big Bird in der Sesamstraße die Impfung für Kinder empfiehlt, sprechen führende Republikaner von »Gehirnwäsche« und »Propaganda«. In einer Talkshow über Corona fallen die Worte »Tyrannei der Ungeimpften«. Wie Corona endemisch wird.

7. November | Feindbilder

Von einem »Feindbild« habe ich geschrieben, als ich von der Wut geschrieben habe und in diesem Zusammenhang auf die Ungeimpften verwiesen, was natürlich auch Unsinn ist, weil Feindbilder meistens Ablenkung sind, eine Vereinfachung von Komplexem ist und »die Ungeimpften« auch keine homogene Gruppe darstellen.

Aber manchmal denke ich schon: Wenn alle, die sich impfen lassen dürfen, sich hätten impfen lassen, dann wäre die Situation an diesem Novembersonntag eine andere. Ich denke auch: Da gibt es zwei Jahre nach Entdeckung eines Virus einen Impfstoff, der schon in milliardenfachen Mengen produziert ist und »wir« leben in einem Land, das reich genug ist, sich ausreichend Impfstoff für alle leisten zu können und das außerdem innerhalb kurzer Zeit eine Infrastruktur schafft, die kostenloses Impfen für alle ermöglicht und alle ernstzunehmenden Expertinnen versichern, dass für die allermeisten das Risiko bei einer Erkrankung wesentlich höher ist als bei einer Impfung und dennoch entscheiden Millionen gegen eine Impfung. Ich denke: Was denn noch? Ist es wirklich ein Warten auf Totimpfstoffe aus China? Oder geht es eigentlich um etwas ganz anderes?

Es gibt mittlerweile eine Menge Allegorien zu dem Verhalten von Ungeimpften. Die meisten stimmen irgendwie, ein egoistisches, unsolidarisches, trotziges, unüberlegtes, schlampiges, verantwortungsloses, provokantes, gefährliches, eigensinniges, zynisches Verhalten. Aber es ist auch nicht so, dass Impfen allein die Pandemie beendet, zumindest nicht in diesem zweiten Coronawinter. Auch Geimpfte stecken sich und andere an und je mehr Zeit vergeht, desto mehr. Es sind verschiedene Maßnahmen, die zusammen vorgenommen werden müssen, damit die Zahlen unten bleiben. Diese Maßnahmen sind kein Hexenwerk, sie müssen, anders als im März 2020, auch nicht neu gefunden werden.

Und damit kommt das zweite Feindbild, Entscheidungsträgerinnen, die diese Maßnahmen nicht planen, nicht wollen, nicht durchsetzen, die letztlich versagen in ihrer Funktion, uns zu schützen, uns das Bessere zu ermöglichen. Wenn der bayrische Gesundheitsminister im November 2021 sagt, dass bestimmte Dynamiken in der Pandemie nicht vorhersehbar sind, dann ist das erst einmal nicht zu fassen. Schließlich gibt es Ordner voll mit Studien, über sechshundert Tage von Erfahrungen, hundertfach Prognosen und Verlaufserwartungen mit Exponentialfunktion, es ist nicht so, dass diese Gegenwart mal eine Zukunft war, die niemand annehmen konnte.

Oder vielleicht doch? Heute erst führe ich ein Gespräch, in dem es um die unwirklich anmutende Schließungsfeier eines Impfzentrums in Erfurt für 200.000€ geht. Im Gespräch fällt der Satz: »Die [Politiker] haben wirklich und ohne böse Hintergedanken geglaubt, mit der zweiten Impfung wäre die Pandemie vorbei.« Vielleicht haben die meisten das geglaubt, mich eingeschlossen, und wenn nicht geglaubt, dann zumindest gehofft, zumindest bis Herbstbeginn. Aber es ist eben Aufgabe von Entscheidungsträgerinnen über das Glauben und Hoffen noch andere Strategien parat zu haben und dabei die Lasten gerecht zu verteilen.

Es ist wieder einer dieser Sätze, die naiv klingen und vielleicht so gemeint sind. Aber angenommen eine Impfpflicht kommt. Wer soll sie in den Weg leiten? Die lustlose aktuelle Regierung noch? Die sich aushandelnde neue Regierung, die sich erst Anfang/Mitte Dezember bilden wird? Und dann? Impfpflicht heißt ja nicht, dass morgens die GSG9 vor deiner Tür steht und drei Männer dich festhalten, damit ein vierter dir eine Nadel in den Oberarm rammt. Impfpflicht ist 2G für alles, der effektive Ausschluss aus vielen Teilen des öffentlichen und beruflichen Lebens. In Österreich funktioniert das gerade. Der sogenannte »Schnitzellockdown« animiert viele »Impfmuffel«, sich doch noch schnell impfen zu lassen.

Aber selbst dann: Wie viele Millionen können heute an einem Tag noch geimpft werden? Wieviel Zeit vergeht bis zum vollständigen Impfschutz? Wo steht der R-Wert dann, stehen die Inzidenzen? Ich weiß um die Gefahr von Feindbildern, ich pflege sie in diesen Tagen mit besonderer Hingabe, lasse sie bei allem Bemühen um Rationalität und Ambiguität gewähren in diesen Tagen.

Ansonsten: Pfizer stellt ein Medikament gegen Covid19 vor, dass innerhalb 5 Tagen alle Todesfälle und einen Großteil der Hospitalisationen verhindert hat. In Griechenland besticht ein Impfgegner den Arzt mit 400€, um anstatt der Impfung Kochsalzlösung zu bekommen, um so als geimpft zu gelten, woraufhin hin der Arzt normalen Impfstoff verimpft. Verschärfung von Coronamaßnahmen in verschiedenen Ländern.

6. November | das haben wir uns nicht ausgedacht

Vor einem beliebten Weimarer Restaurant ist eine Tafel aufgestellt, darauf geschrieben die 3G-Regeln, nur mit denen der Zutritt erlaubt ist, darunter: »Das haben wir uns nicht ausgedacht«. Ich frage mich, warum dem Wirt diesen Zusatz so wichtig ist, dass er ihn auf der Tafel notiert haben wollte. Will er mit dem Zusatz seinen Unmut äußern? Ist es als Entschuldigung gedacht? Wofür? Für die Unannehmlichkeiten? Wäre es nicht ein Argument für den Besuch seines Restaurants zu wissen, dass es dort unwahrscheinlicher wäre, sich zu infizieren? Und wenn er sich entschuldigen möchte, bei wem? Bei denen, die 3G für überflüssig halten? Hofft er auf Beifall, auf ein Schulterklopfen?

Mich bringt dieser Zusatz dazu, ihn einzuordnen. Ich ahne, wie ich den Satz zu interpretieren habe, ich sortiere ihn ein, den Schreiber, das Restaurant. Ich ahne, dass es genauso gewollt ist.

5. November | Höchststand II

37120 Neuinfektionen, der nächste Höchststand, was kann ich sonst festhalten als diese Zahl, es kann ja nicht darum gehen, die nächsten Einträge ausschließlich mit Höchstständen zu bestreiten. Vielleicht das: gestern schrieb ich von Wut und befrage mich heute danach. So viele arbeiten gegen die Pandemie; jene, die die Intensivbetten betreuen, die täglich Impfungen verabreichen, die Tests vornehmen, Tests auswerten, Daten sammeln, eingeben, die Erkenntnisse gewinnen, darüber öffentlich sprechen, die Impfzertifikate kontrollieren, auf Masken bestehen, die organisieren, möglich machen, warnen, helfen, so viele. Und trotz all der vielen heißt der Eintrag Höchststand II und was deutet darauf hin, dass es nicht noch einen dritten solchen Eintrag geben wird?

Ich versuche, in den Einträgen scheinbar Eindeutiges zu vermeiden, versuche, so nüchtern wie es mir möglich ist zu formulieren. Etwas wie Wut ist eindeutig, ist etwas, das ich vermeide in Worte zu gießen, weil sie Feindbilder produziert, Dinge vereinfacht, die komplexer sind als ein Feindbild es jemals sein könnte.

Aber natürlich ist sie da, diese Wut, die Wut darauf, dass »es« schon wieder passiert. Worauf die Wut? Weiterhin auf jene, die ihr Ungeimpftsein als Agenda betrachten. Auf jene, die Pläne parat haben sollten für diese erwartbare Situation. Wut auf das letztlich fassungslos machende Unvermögen, aus mehrmals gemachten Fehlern zu lernen. Wut auf den November, das System, das Virus.

Als Sinnbild dieser Tage die Nachricht, dass in Erfurt die Schließung des dortigen Impfzentrums gefeiert wird, Motto: »Danke fürs Impfen«. Jan Delay spielt, die Kosten für die Feier sollen bei 200.000€ liegen. Und natürlich, wer fast ein Jahr lang impft, der soll auch feiern, der soll gefeiert werden. Aber das Symbol ist kaum zu schlagen in diesem Coronanovember 2021, 200.000€ für das Beenden von etwas, das jetzt dringend benötigt wird, ein Ende, wenn es gerade einen nächsten Anfang gibt.

Ein anderes Symbol: Der Kindergarten rutscht in die rote Warnstufe, was bedeutet, dass Gruppen getrennt und alle gemeinsamen Aktivitäten abgesagt werden. Ich könnte schreiben, warum nicht viel früher in der Stadt, in der die Inzidenz bei den 5-14jährigen tagelang jenseits der tausend lag. Ich schreibe: Die Gruppen sind getrennt, die Kinder können nicht miteinanderspielen.

Die nächste Stufe wäre die Schließung und wer ehrlich ist, hält das nicht für ausgeschlossen. Und da ist die Wut, weil die Ungeimpften mit ihrer Agenda so oft sie wollen sagen können, dass sich Astrid Lindgren angesichts der Coronamaßnahmen im Grab umdrehen würde; am Ende tragen sie als eine gesellschaftlich und epidemiologisch relevante Einheit eine der Hauptschulden daran, dass mein Kind nicht mit seinen Freunden spielen kann, dass dieser Eintrag so heißt, wie er heißt.

Ansonsten: Thüringens Ministerpräsident sagt: »Wir werden in den nächsten Tagen an die Situation kommen, dass wir nicht mehr genügend Intensivbetten haben.« Und: »Wir werden niemandem mehr garantieren können, der ungeimpft ins Krankenhaus kommt, dass er überhaupt noch hier behandelt wird.«

4. November | Höchststand I

33949. Die Zahl der heutigen Neuinfektionen und damit der bisherige Höchststand in Deutschland. Ich füge hinzu: Die Inzidenz 2021 wird anders gesehen als vor einem Jahr. Dennoch. 34000 Infizierte bedeuten über den symbolischen Wert hinaus viele Kranke und Tote in den nächsten Wochen und Monaten.

Der bayrische Gesundheitsminister sagt: »Ich glaube, dass wir eine Dynamik momentan erleben, die wirklich nicht vorhersehbar war«. Vielleicht in dieser Höhe, vielleicht in der Schnelligkeit. Grundsätzlich nicht. Vielleicht war es angemessen, nach dem Sommer den Großteil der Impfzentren zu schließen, vielleicht auch, Teststationen zu verringern und Tests kostenpflichtig zu machen. Vielleicht war es das für eine gewisse Zeit. Aber es war nicht angemessen, nichts für den Winter bereitzuhalten, nicht ständig die Zahlen im Blick zu haben, um jederzeit Entscheidungen überdenken und widerrufen zu können.

Man, wir, die Gesellschaft, die Politik hat sich darauf verlassen, dass allein die Impfung genügt, die Pandemie in Deutschland zu beenden. Es gab keinen anderen offiziellen Plan als dieses Verlassen. Ein Blick nach Israel hätte gereicht: sich dort die Wellen anschauen, die Wirkung der Impfauffrischungen und zu dem Schluss kommen, dass ohne dritte Impfung nichts enden wird.

Es ist leicht, so etwas am Tag des Höchststands zu schreiben, ich habe es in den Einträgen vom Sommer, vom September nicht getan, nichts von Boostern oder wieder zu öffnenden Impfzentren geschrieben. Dennoch: Das Ende der epidemischen Notlage erklären und Maskenpflichten abschaffen und zwei Wochen später ein Höchststand, passt nicht zusammen, nicht die Schließungen und die scheinbar plötzliche Notwendigkeit, in den nächsten Monaten 60 Millionen impfen zu müssen, nicht die geringeren Testgelegenheiten und die hohen Zahlen.

Ein Déjà-vu im Déjà-vu im Déjà-vu. Nur sind »wir« jetzt später dran mit höheren Zahlen. Und haben doch all die erprobten Hilfsmittel zur Verfügung, die helfen könnten. Und haben doch zwei Regierungen, die momentan beide nicht regieren. Und haben die Wut auf jene, welche vorausschauend hätten handeln müssen und die Dynamik jetzt für »wirklich nicht vorhersehbar« halten. Haben die Ahnung, dass dieser Höchststand nicht der letzte bleiben wird, nun die Gewissheit, dass sich der kommende Winter in vielem nicht unterscheiden wird von dem im letzten Jahr.

Ansonsten: Nachdem ein zwölfjähriges Kind vermutlich in Folge einer Coronaimpfung starb, trendet auf Twitter der Hashtag #EsKoennteDeinKindSein. Der Fußballverein Sandhausen meldet 18 Coronafälle im Mannschaftsumfeld. Laut einer Umfrage sind 57% der Befragten für eine Impfflicht. Die Stadt Wien bietet Impfungen für Kinder an.

3. November | Angst IX

Ich habe die Seite www.mein-laborergebnis.de aufgerufen, den zweiunddreißigstelligen Code, der mir in der Abstrichstelle überreicht wurde, eingegeben und aktualisiere. Warte, aktualisiere, warte, aktualisiere, warte, aktualisiere. Gegen Mittag kommt das Ergebnis. Es ist mit grüner Farbe hinterlegt. Negativ. Das entsprechende Attest ist downloadbar. Ich downloade, verschicke das PDF gleich an den Kindergarten. Als Entwarnung. Auch die anderen informierten Kontakte werden benachrichtigt, Puh, Super, Glückwunsch, das Daumen-Hoch-Emoji kommen als Antwort.

Da ist Erleichterung, natürlich, zuallererst Erleichterung. Keine Infektion an einem Tag, an dem in Weimar 40 Neuinfektionen bestätigt werden, keine Quarantäne, keine unmittelbare Angst vor den nächsten Wochen. Bei dem Wort Angst stolpere ich erneut. Als ich gestern und vorgestern vom positiven Schnelltest erzählte, war da Besorgnis, viel Anteilnahme. Aber keine Angst. Ich denke zurück an den März 2020, als so wenig über das Virus bekannt war, als ich zögerte, Türklinken zu berühren, wir uns die Spielplätze versagten, die Rutschen und Schaukeln. Das war Angst. Die Angst vor dem Unbekannten, das Nichtwissen, dass das Schlimmste für alle jederzeit annehmen musste.

Dieses Nichtwissen gibt es nicht mehr. Deshalb auch nicht die Angst. Wer hat noch Angst? Die Geimpften nicht, sie sind vor dem Schlimmsten geschützt. Die Kinder nicht, ihr Immunsystem wird in der Regel fertig mit dem Virus, sagen die Wahrscheinlichkeiten. Die Ungeimpften nicht, für sie das Virus ein Hoax oder der Impfstoff die größte Gefahr. Niemand verspürt mehr Angst, ich schreibe das als allgemeingültige Aussage Anfang November 2021.

Ich denke an die Wellen. Die erste Welle, so die gemeinschaftliche Übereinkunft, so die Erinnerung, hat Deutschland gut bewältigt. »Wir« sind glimpflich durch das Frühjahr 2020 gekommen, im Vergleich. Diese Annahme bestimmt das Bild bis heute irgendwie. »Wir« handhaben das ganz gut mit der Pandemie. Durch die anderen Wellen sind wir nicht so glimpflich gekommen, auch nicht im Vergleich. Gerade scheint es, kommen wir ebenfalls nicht glimpflich durch.

Was ist der Unterschied zwischen der ersten und den anderen Wellen? Ich denke, es ist auch die Angst. Die Angst ist geschrumpft. Das ist ein Gewinn, ein Fortschritt. Ihr Fehlen macht diesen Coronawinter auch gefährlicher.

Ansonsten: Weil überproportional viele Dialysepatienten an Covid19 sterben, bricht der Umsatz der Dialysefirma Fresenius Medical Care stark ein, so dass diese 5000 Stellen streichen will. Die Polizei meldet fast zweitausend Fälle von gefälschten Impfpässen.

2. November | Anruf

Ein Anruf aus dem Kindergarten. Ein positiver Schnelltest, einmal wiederholt, ebenfalls positiv. Ich will sofort losfahren, mein Kind abholen. Mir wird gesagt: Am besten erst einen Termin für den PCR-Test machen. Ich rufe bei der Corona-Hotline Weimar an. Mehrmals nur der Anrufbeantworter, die Inzidenz liegt bei über 300, die Nachfrage ist groß. Dann erreiche ich jemanden. Er fragt freundlich Daten ab, erkundigt sich nach Symptomen, beruhigt, falsch-positiv sei denkbarer, ich solle ruhig bleiben.

Tatsächlich bin ich ruhig. Da ist erst einmal weniger Angst. Die Wahrscheinlichkeit für Folgen bei Kindern besteht, ist aber gering, erinnere ich mich, beruhige ich mich. Ich bin geimpft, sehr dramatisch sollte es nicht werden, beruhige ich mich. Da ist eher ein Gefühl von Das passt mir jetzt gerade überhaupt nicht. Der Positivtest bedeutet das Umorganisieren des Tages, möglicherweise der nächsten beiden Wochen, das Erinnern an Kontakte, das Informieren dieser Kontakte, all die Unannehmlichkeiten, die ein positiver Test mit sich bringt. Ja, ich denke Unannehmlichkeiten. Denke nicht: Existenziell. Ist es gut so, dass ich so denken kann? Ein Privileg?

An diesem Tag, sagt die Stimme in der Hotline, seien keine Testtermine mehr verfügbar. Die Ansturm groß, die Testorte wurden in den letzten Wochen abgebaut. 7.35 Uhr sei der nächste freie Termin. Ich feilsche, frage nach einem Termin eine Stunde später, wieder die Unannehmlichkeiten als Priorität.

Im Kindergarten wurde kein weiteres Kind positiv getestet. Ich solle unbedingt Bescheid geben, wenn ich das Testergebnis habe, das Gesundheitsamt informiere mit Verzögerung. Mein Einwand, dass es unwahrscheinlich sei, dass nur mein Kind infiziert sei, wird zur Kenntnis genommen, aber: Irgendwo müsse es ja anfangen. In Gedanken gehe ich meine Kontakte der letzten Tage durch. Es sind erstaunlich wenige. Im Vergleich zu anderen Wochen habe ich mich recht verantwortungsvoll verhalten, im Kino sogar die Maske aufbehalten, 160 Minuten lang geschützt.

Am nächsten Morgen der frühe Test. Vor dem Abstrichpunkt, der eine Art Vereinsheim neben einem Fußballstadion ist, stehen einige, warten auf die Öffnung. Jeder blickt jede an, jeder und jede weiß: Wenn wer um diese Zeit hier steht, dann ist es etwas Ernstes. Ein geschützter Mann ruft die Anstehenden nach und nach auf und rein. Drinnen sind mehrere Testkabinen in Benutzung. Der eigentliche Testvorgang geht schnell, so schnell, dass keine Zeit für die vielen Fragen bleibt (Im Fall eines Negativtest – wie bekomme ich eine entsprechende Bestätigung? Sollen sich die Erwachsenen ebenfalls testen lassen? Wie genau ist das mit der Quarantäne? Wann werde ich informiert über mögliche weitere Schritte?) Ein Zettel mit QR-Code wird mir in die Hand gedrückt. Damit kann ich das Laborergebnis über die Warn-App abrufen, das gehe schneller als ein Anruf vom Gesundheitsamt.

Dann ist immer noch Morgen und der Tag schon gelaufen, irgendwie. Irgendwie auch nicht, weil ich froh bin, dass es ein System gibt, das sich kümmert. Und doch denke ich an das gestrige Ansonsten, an Hamburg und die vielen fehlerhaften Schnelltests in Kindergärten, hoffe auf ein solches fehlerhaft, weiß, dass ich die Warn-App nun minütlich aktualisieren werde, warten werde, warten, warten.

Ansonsten: Wegen der hohen Inzidenz führt Sachsen landesweit 2G ein. Diskussionen, weil Paul Breitner seine Tafel nur noch für Geimpfte öffnet. Mehr als fünf Millionen Coronatote weltweit.

1. November | dramatischer

Beim gestrigen Eintrag gezögert, dramatischer in den Satz »Die Situation heute ist dramatischer wie zu Beginn des ersten Coronawinters« einzubauen. Trotz der höheren Zahlen werden die Impfungen viele schwere Verläufe und Tode verhindern, das ist die Versicherung, das ist die Beruhigung. Weniger werden sterben, keine tausend mehr am Tag. Ist es das, was zählt, was die Dramatik ausmacht? Ist es heute wirklich dramatischer als vor einem Jahr?

Doch wem mache ich etwas vor? Für wen sind diese Überlegungen gedacht? Muss ich jedes Wort abzirkeln, stets den sachlichen Ausdruck verwenden, weil alles andere gegen mich verwendet werden könnte, mich des Schürens von Panik überführt? Doch muss ich die Einträge vor denen rechtfertigen, die dramatischer auf die Goldwaage legen würden? Würden diese nicht auch bei einer Inzidenz von 100.000 und 10.000 belegten Intensivbetten von unzulässiger Panikmache sprechen, weil sie erstes für nicht relevant halten und zweites nicht glauben?

Vor einem Jahr schreibe ich in den Coronamonaten vom Lockdown Light, »Der Himmel ist grau, das Laub ist nass, die Verabschiedung vom normalen Leben ist im vollen Gang.« Bei niedrigeren Zahlen werden damals Maßnahmen ergriffen. Heute ist davon nur sehr leise die Rede. Heute gehört das Reden dem Ende der Maskenpflicht, dem Ende der Pandemie. Auch anders als damals heute die geringere Anzahl an verfügbaren Betten, das ausgelaugte Krankenhauspersonal, das anderthalb Jahre Pandemie hinter sich hat, das momentan fehlende Bewusstsein, dass eine Krise kommt, längst da ist, dass das allgemeine Verhalten, das Maßnahmen meist vorausläuft, nicht der Krise angemessen ist.

Gelernt habe ich aus zwanzig Coronamonaten, dass Erfahrungswerte und Warnungen nur zäh einsickern ins Bewusstsein. Dass es stets die Ablenkungen gibt, den mäandernden Diskurs, der auf Nebenschauplätzen Aufmerksamkeit beansprucht. Heute sind es Sarah Wagenknecht und Richard David Precht, welche die Diskussionsströme führen und Wogen schlagen mit Forderungen und Gedankengängen zu Öffnungen aller Art.

Diese Diskussionen muss ich aushalten, denke ich, das ist gelebte Demokratie. Ich denke: Ich empfinde die Situation heute dramatischer, weil sie nur wenige als dramatisch empfinden, viele nicht einmal irgendetwas empfinden, das mit Besorgnis zu tun hat. Das macht mich besorgt, mich auch in gewisser Weise fassungs-, ratlos.

Doch ich denke auch: Für die Mehrzahl der Einzelnen ist es November 2021 nicht dramatischer als 2020. Die Mehrzahl ist geimpft. Bei aller Unsicherheit können sie sehr sicher sein, dass das Schlimmste, das Dramatischste für sie nicht eintreffen wird; sehr viel wahrscheinlicher als 2020 werden sie keine schweren Verläufe haben, nicht sterben an Covid19. Dieser Verlust an individueller Dramatik ist mehr als relevant. Er ist elementar.

Dramatisch wird es (wieder) für Wenige; die Ungeimpften, nicht alle, aber einige Kinder, für die mit den Impfdurchbrüchen, für die, deren Operationen in den nächsten Monaten verschoben werden, für jene, die sich um die Wenigen kümmern müssen und sowieso längst am Limit agieren. Von ihnen wird wenig die Rede sein. Für sie wird es dramatisch. Vielleicht, vielleicht nicht dramatischer als vor einem Jahr. Aber sicher unnötig dramatisch. Es müsste nicht dramatischer sein. Wem mache ich etwas vor. Dramatischer.

Ansonsten: Ins Gespräch gebracht werden die Wiedereröffnungen von Impfzentren und die Rückkehr zu kostenlosten Tests. Thüringen bundesweit mit der höchsten Inzidenz. Nach knapp zwei Jahren öffnen in Neu-Delhi wieder die staatlichen Schulen. An Hamburgs Schulen führen neue Schnelltests zu vielen falschen Positivergebnissen, weil diese auch auf Erkältungsviren reagieren.

31. Oktober | zwei Karten Ende Oktober

Zwei Karten nebeneinander, beide zeigen Inzidenzdeutschland. Eine Karte ist von Ende Oktober 2020, die andere von Ende Oktober 2021. Auf der frühen Karte sind die Landkreise mehrheitlich gelb und hellrot, auf der heutigen dunkelrot, auch violett. Die Zahlen auf der aktuellen Karte liegen alle über denen der Pandemie von vor einem Jahr; Inzidenz, Intensivpatentinnen, Tote. Auch die Impfquote ist höher: 2020 0%, 2021 69%.

Die Karte und die Zahlen sagen, dass die Situation heute nicht allein ähnlich ist wie am Beginn des ersten Coronawinters. Sie ist dramatischer. Die Erklärung dafür lässt die Gegenüberstellung offen. Unterhalb der Karten wird spekuliert: Sind es die Impfungen, die sich unwirksam erweisen? Delta im Vergleich zum Wildtyp? Die Maßnahmen vom 2020 im Vergleich zu 2021? Ein verändertes Verhalten der Menschen?

Momentan liegt der R-Wert bei 1,25, eine Verdopplung etwa alle zwei Wochen. Bis Ende November, wenn die die epidemische Lage nationaler Tragweite für beendet erklärt ist, würde nach dieser Verdopplung die Inzidenz bei 600 liegen. Ich weiß, dass diese Rechnungen nie so aufgehen, ich weiß es, ich gehe davon, was könnte die Kartenfarben ändern bis dahin?

Ansonsten: Die Inzidenz für Kinder zwischen 5-14 Jahren liegt in Weimar bei 1147.

30. Oktober | das überwältigende Wiedereinsetzen des Vermissten

Gestern erstmals seit Pandemiebeginn wieder einen Film im Kino gesehen. Wie bei vielem, was man lange aussetzt, überwältigt das Wiedereinsetzen des Vermissten alle Sinne, selten so benommen und entrückt gewesen.

Im Rückblick, gestern Nacht noch, heute, erscheint es irre, absolut unverhältnismäßig, sich das zwanzig Monate versagt zu haben, aus Gründen verzichtet zu haben, die vernünftig waren, aber vielleicht nicht in jedem der zwanzig Monate. Die verpassten Filme, das verpasste Sehen wird sich nicht nachholen lassen, für immer wird eine Lücke in meiner Kinobiographie klaffen. Ich kann mir auf die Schultern klopfen, weil ich verantwortungsvoll gehandelt habe. Aber mit Glück erfüllt mich das nicht, eher ein Bedauern über das Nichtgeschehene, das Nichtgesehene.

Und dann gehe ich, in der Woche der höchsten Weimarer Inzidenz, wieder ins Kino. Es gilt die 3G-Regel, das Haus bietet an, sich vor Ort testen zu lassen. Maske bis zum Platz, dort wird sie abgenommen, zwei Plätze zwischen jedem belegtem Platz bleiben frei. Zumindest in der Theorie. Im Saal selbst sieht das anders aus, ich entscheide, während des Sehens die Maske aufzubehalten, vergesse während des Sehens die Maske, liegt das am Film, an der Maske?

Ansonsten: Wegen einer Corona-Erkrankung bei The Masked Singer fällt der Teddy aus.

29. Oktober | Pandemie der nur zwei Mal Geimpften

Die Inzidenz heute die höchste seit April, die Neuinfektionen diese Woche einmal bei 28000. Die Zahlen gesamtheitlich am Steigen, gesunken allein die Zahl der Intensivbetten, weil viele Krankenhausangestellte im Laufe der Pandemie kündigten, 4000 Betten mehr wären vorhanden, aber das Personal dafür fehlt.

Mir fehlt, wie schon mehrmals in diesen Einträgen, die Vorstellung, wie die nächsten Monate aussehen werden. Weil: die epidemische Lage nationaler Tragweite läuft aus, Lockdown und Schließungen werden von der alten und der neuen Regierung ausgeschlossen, die Maskenpflicht an Schulen fällt zum Teil. Gesagt wird von offizieller Seite, dass das deutsche Gesundheitswesen bewiesen habe, dass es in Extremsituationen bestehen kann, eine Aussage, die als Parole gedacht und zu verstehen ist.

Wobei: Ich kann mir die nächsten Coronamonate schon vorstellen. Die Zahlen steigen, irgendwie wird es gelingen, die aktuelle Dynamik zu durchbrechen, es kommt zu einem Plateau und ein bisschen mehr Maske wird es wieder geben und weiterhin Präsenzunterricht und Kinder werden keine Treiber der Pandemie sein, bis die Impfzulassung kommt und ein bisschen Impfkampagne und Ärztinnen werden von den Intensivstationen twittern und einige Artikel und Reportagen werden berichten und im Kollektivgedächtnis wird sich festsetzen, dass es gerade nicht so schön ist, manche werden jemanden kennen, den es erwischt hat und manche werden Zahlen rauskramen, die beweisen, dass es 2007 schon mal viel schlimmer war und Ende November wird man der 100000. Coronatoten mit einem betroffenen Special gedenken und man wird sich an die Zahlen gewöhnen, bis sie nachweislich fallen und nach dem 21. März dazu übergehen, sich zu erinnern und sich sagen, dass es nicht so schlimm gekommen ist, wie es hätte kommen können, gottseidank.

Es ist ein zweiter Winter wie 2020, irgendwie ähnlich die Parolen, mit ähnlichen Zahlen, die vielleicht andere Auswirkungen haben, irgendwie auch nicht, weil wir ja schon ein Jahr weiter sind. Neu hinzugekommen sind 3G, 2G, 2G+G, auch die Boosterimpfung, das ist die aktuelle Rettung, das ist die Maßnahme, diese 3. Impfung, nicht mehr nur von einer »Pandemie der Ungeimpften« ist die Rede, sondern einer »Pandemie der nur zwei Mal Geimpften«, das ist der eine Pfeil im eigentlich gar nicht so kleinen Köcher.

Ansonsten: Wegen steigender Zahlen verhängt Moskau die schärfsten Beschränkungen seit Juni 2020. Benedikt XVI. erhält eine Boosterimpfung. Nachdem in einem Thüringer Unternehmen Fotos von ungeimpften Mitarbeiterinnen im Pausenraum ausgehängt werden, erhält der Firmenchef Morddrohungen. 65 Prozent der Nichtgeimpften in Deutschland geben an, sich keinesfalls impfen lassen zu wollen. Die Maskenpflicht in Schulen in NRW wird ab nächster Woche abgeschafft.

27. Oktober | zwei Enden der Pandemie

Heute gleich zwei Pandemieenden. In den USA empfiehlt die Arzneimittelbehörde die Zulassung für Biontech für 5-11jährige, hält den Nutzen einer Impfung für deutlich höher als mögliche Risiken. In Europa könnte eine ähnliche Zulassung vor Weihnachten erfolgen. Geimpfte und damit geschützte Kinder, eines der Enden der Pandemie.

Ein anderes Ende beschließt die zukünftige Regierung. Bis zum 25. November soll die »epidemische Lage nationaler Tragweite« auslaufen, ein sperriger Begriff für einen politischen Zustand, der bislang Maßnahmen gegen Corona ermöglichte. Bis 20. März 2022 soll eine Art Limbus gelten, in dem Maßnahmen wie Maskenpflicht noch möglich sind, jeweils in Verantwortung der Länder.

Was bürokratisch klingt und politisch gemeint ist, ist letztlich auch ein Zeichen: Ab dem 21. März wird die Pandemie nicht mehr als außerordentliche Gefahr für die Gesellschaft gelten. Spätestens dann wird der Ausnahmezustand das Unnormale sein, ein Ende nach zwei Jahren Corona, zumindest in Deutschland.

Dieses Ende ist eine der ersten konkreten Absichtserklärungen der neuen Regierung, ein Symbol, ein Ziel, ich verstehe es. Es beruhigt mich auf eine Weise. Im März werden die Kinder geimpft sein, die Sonne wird scheinen, die Vierte Welle vorbei. Eine fünfte wird es nicht geben. Was anderes als ein Ende soll also kommen?

Dieses Ende wird an einem Tag mit 23000 Neuinfektionen verkündet, die Inzidenz bei 118, bei Ungeimpften über 300. In Weimar hat sie mit 308 den bisher höchsten Stand erreicht, bei den Kinder zwischen 5-14 liegen die Zahlen bei 931. Bis zum sicheren Ende sind es von heute an noch fünf Monate, sicher fünf Coronamonate.

Ansonsten: Eine dänische Kommission stellt fest, dass für das Töten von Millionen Coronanerzen im November 2020 keine rechtliche Grundlage bestand. Der Lehrerverband warnt vor dem Ende einer Maskenpflicht an Schulen. Höchstzahl an Coronatoten in Russland.

26. Oktober | böswilliges Missverstehen

Der gestrige Eintrag war seltsam gezügelt und viel zu gefasst, viel zu sehr um Ausgewogenheit bemüht, die ich bei diesem Thema nicht empfinde. Deshalb ein Nachtrag. Ich schreibe, wie sehr es mich weiterhin triggert, wenn ich mich tiefer hineinbegebe in die Argumentationen jener, die ihren Impfverzicht stolz als Ideologie vor sich her tragen; als Beweis ihrer Individualität, als Zeichen gegen einen als diktatorisch wahrgenommenen Staat, als Beweis von wasweißich.

Da ist ein Wegwischen von hunderttausend Coronatoten mit Verweisen auf eine vermeintlich kaum feststellbare Übersterblichkeit, zugleich das fast schon verzweifelte Suchen nach Impfspätfolgen. Es ist eine Schmälerung einerseits, eine absolute Überhöhung anderseits, vollkommen außer jeder Balance, die völlige Unfähigkeit, Zahlen gegeneinanderzustellen, der Unwillen zu gewichten, der Vorsatz misszuverstehen, Auslassungen zu produzieren, sich in Details zu verbeißen, um daran vermeintlich Großes abzuleiten, Unlogik aus freien Stücken, das unbedingte Durchfechten der Ideologie, gemischt mit dem typischen Raunen von Verschwörungen, wäre es naiv zu schreiben, dass ich all dies nicht als ist-eben-so annehme? Ja, es gibt Nebenwirkungen in Folge von Impfungen und Menschen sind an Impfungen gestorben. Aber es sind die Relationen, die in dieser Ideologie nicht stimmen, das Einordnen, das Vergleichen, der fehlende Kontext.

Es ist anstrengend, sich dem auszusetzen, sollte es so nicht sein? Sollte Diskurs nicht so sein? Mich fordern, mich dazu bringen, eigene Standpunkte zu hinterfragen? Aber es ist kein Gespräch auf Augenhöhe. Es ist ein absichtliches, böswilliges Missverstehen zum Schaden vieler, oft ein Lügen. Diese 10, vielleicht 15 Prozent, vielleicht auch nur 2%, die sich Stimmen wie 70% verschaffen, sie kosten viel Kraft, so viel Zeit, all das, was rar ist. Es wäre so einfach, ein Stich, ein zweiter, vier Milliarden Mal schon gemacht, Langzeitstudien sind Massestudien, keine Studien über die Zeit, es wäre ein einfaches Verstehen, wenn man nur wollte, die schlechten Folgen so minimal im Vergleich zu den Covid-Erkrankungen, es wäre so einfach, stattdessen die ständige Auseinandersetzung mit den stolzen Verkennern.

25. Oktober | Kimmich II

Noch immer bestimmt das Reden über Joshua Kimmichs Äußerung, dass er mit dem Impfen warten wolle, die Diskussion. Neben den notwendigen und erhellenden Aufklärungen zu Kimmichs Befürchtungen von Nebenwirkungen, die Jahre später erst eintreten könnten, auch ein hartes Reden aus verschiedenen Richtungen, Kritik an Kimmich sowie die Äußerungen jener, welche diese Kritik als Beleg einer Coronadiktatur sehen.

Ich überlege, ob eine Impfpflicht nicht ehrlicher wäre. Denn natürlich wird Druck auf die Ungeimpften ausgeübt. Dieser Druck folgt einer nachvollziehbaren Logik. Etwas kopflastig formuliert vielleicht so: Die deutliche Mehrheit der Gesellschaft hat entschieden, Corona als Gefahr für ihre Mitglieder zu betrachten und entschieden, dass Impfungen eine der effektivsten Wege sind, diese Gefahr zu bannen. Wenn Teile dieser Gesellschaft diesen Weg nicht gehen, dann stellen sie eine Gefahr für die Gesellschaft da. Die Gesellschaft – Staat, Medien, Institutionen, auch das Private – muss dieses Entziehen dann eben auch als Gefahr betrachten und entsprechende Maßnahmen zum eigenen Schutz ergreifen; kommunikativer Druck, Motivation, Verbote etc.

Wie jeder, der sich für die Impfung entscheidet, trifft auch ein Ungeimpfter eine Entscheidung. Es gibt das Recht, sich nicht gegen das SARSCoV2-Virus impfen zu lassen. Aber die Ungeimpfte kann nicht erwarten, dass ihre Entscheidung ohne Konsequenzen bleibt. An den allermeisten Bereichen der Gesellschaften kann sie weiterhin teilnehmen, aber an einigen ausgewählten eben nicht oder nur eingeschränkt. Sie kann ihre Meinung äußern, kann ihre Entscheidung erläutern. Aber sie muss mit Gegenrede rechnen, auch mit heftiger, gerade weil ihr Verhalten letztlich eines ist, das andere gefährdet.

All dieses Reden und Gegenreden wird gerade an Kimmichs Interview vollzogen, ein Symbol für viel Unausgesprochenes und noch mehr längst Bekanntes, ist hilfreich und notwendig, wenn ein Informationsfluss stattfindet, ist dort kontraproduktiv, wo verzerrt und polemisiert wird, ein Satz, der hinter jedem Abschnitt stehen könnte, hier besonders.

24. Oktober | schlafwandeln

Wie ein Déjà Vu sollten sich diese Tage der vierten Welle anfühlen – die steigenden Zahlen, die Vorhersagen, das Abwiegeln, alles auf seltsam schlechte Weise vertraut und bereits mehrfach durchlebt und -litten. Doch ist es anders in diesem zweiten Herbst. Ich merke es an mir selbst. Das Wissen um das Geimpftsein lässt mich maskenlos durch jeden noch so engen Raum laufen. Ich feiere drei Mal Jugendweihe in der größten Halle, die die Stadt zu bieten hat. Die Sorglosigkeit ist größer als jede Inzidenz. Ich denke: Ich bin geschützt. Ich denke: Wer nicht geschützt ist, ist es aus freien Stücken. Ihm und ihr muss meine Besorgnis nicht gelten.

Diese irgendwie auch logische Sorglosigkeit wird verstärkt durch die mittlerweile bekannten systemischen Dynamiken, die in der Pandemie seit fast zwei Jahren für jeden offensichtlich sind. Warum sollte nach all der Zeit ausgerechnet jetzt jemand ernsthaft die Sorge um die Schulen und Kindergärten über irgendwelche anderen Interessen stellen?

Parallel zu dieser Sorglosigkeit ist mir – vermutlich vielen – bewusst, dass die Rechnung nicht aufgehen kann. Die Aerosole wandern ja dennoch durch die Schulklassen. Die Ungeimpften, die selbstsicher behaupten, dass ihr Immunsystem Schutz genug sei, erkranken ja dennoch und füllen die Intensivstationen, selbst wenn ich denke: Wer nicht geschützt ist, ist es aus freien Stücken. Und dort steht dennoch das ausgelaugte Personal und die ECMO wird dennoch gelegt, selbst wenn die gefäßkranke Patientin zuvor alle hundert Videos des Corona-Ausschusses gesehen und geglaubt hat.

Aber das Ende der pandemischen Lage wird dennoch in wenigen Wochen in Aussicht gestellt und das Reden vom Freedom-Day schwillt an, 3G2GkeinG und Maskenpflichten fallen und Apothekerinnen fälschen Impf-QR-Codes, die Impfquote bleibt stabil bei unter 70 und jemand redet von Impfapartheid, irgendetwas mit Boosterimpfungen, aber kein wirklicher Plan und irgendwie schlafwandeln wir alle weiter hinein in diese verdammte vierte Welle, die letzte aller Wellen, bevor Frühjahr 2022 wird, zwei Jahre Corona und dann muss das endlich vorbei sind, müsste es heute schon, fast 70% sind schließlich geimpft, warum enden sie einfach nicht, diese elenden Coronajahre?

23. Oktober | Kimmich

Der Fußballspieler Joshua Kimmich erklärt in einem Interview, dass er noch ungeimpft sei, weil er Langzeitstudien abwarten wolle. Kimmich ist Initiator von We Kick Corona, einer Stiftung, die medizinische Einrichtungen unterstützt und schreibt: »Corona ist dauerhaft nur in den Griff zu bekommen, wenn überall auf der Welt ausreichend Impfstoff verabreicht werden kann.« Diese Diskrepanz zwischen Ungeimpftsein und den Impfstoff als Notwendigkeit im Kampf gegen Corona sorgt für Überraschung, es wird diskutiert.

Ich nehme das Interview zum Anlass, noch einmal über Langzeitfolgen bei Impfungen zu lesen. Ich eigne mir Informationen an. Langzeitfolgen kann es geben, lese ich, als unmittelbare Folgen der Impfung, die über einen langen Zeitraum anhalten. Was als ausgeschlossen gilt, weil es in zweihundert Jahren Impfungen bisher noch nicht auftrat, sind Schäden, die erst Monate oder Jahre nach der Impfung geschehen. Auch die Narkolepsie, die als Folge der Impfung gegen die Schweinegrippe auftrat, geschah schon kurz nach den Impfvorgängen. Bei der Impfung gegen Covid kann eine Herzmuskelentzündung auftreten. Die Wahrscheinlichkeit einer Herzmuskelentzündung bei einer Covid-Erkrankung ist deutlich höher.

Wie die meisten Informationen in der Pandemie kann ich diese nur schwer beurteilen. Ich muss auf die Bewertung und Einordnung von Fachleuten zurückgreifen, denen ich Fachwissen und Kompetenz zuschreibe. Ich entscheide, dass ich vertraue, dass ich diese Informationen so lese. Sie ändern nichts an meinem Verhalten, nichts an meiner Überzeugung. Sie sind Argumente in möglichen zukünftigen Diskussionen.

Im Nachgang des Interviews zahlreiche Wortmeldungen, Beiträge, Threads, welche Informationen über unwahrscheinliche Spätfolgen einer Impfung zum Inhalt haben, diese unaufgeregt teilen, Kimmichs Bedenken ernstnehmen und informieren, auf diese Weise agieren und zerstreuen, nicht polemisch, ein sinnvoller Weg.

22. Oktober | 20000 Zahlen

20000 Neuinfektionen deutschlandweit, der höchste Wert seit Mai. Verdopplung der Todeszahlen innerhalb einer Woche, jetzt bei 116. Deutscher Hot Spot ist Thüringen mit einer Inzidenz von knapp 200. In Weimar liegt die Inzidenz bei 245, bei den 5-14jährigen um die 800. In Großbritannien 50000 Neuinfektionen, in Lettland steht die Inzidenz bei 900, weshalb das Land einen Lockdown beschließt.

Lauter Zahlen, die eines sagen: Die Vierte Welle ist (wieder) da.

Ansonsten: Der Bundesgesundheitsminister spricht sich dafür aus, Ende November das Ende der epidemischen Lage zu erklären.

20. Oktober | Rumänien

Ein weiterer Ort, der in der Pandemie für eine bestimmt Zeit steht. Diesmal Rumänien. Die Inzidenz liegt über 1000, alle vier Minuten stirbt täglich ein Rumäne, eine Rumänin an Covid. Geimpft sind nur 28% der Bevölkerung, was auch an Missinformationskampagnen liegt; Priester, die sagen, Impfen sei eine Sünde Prominente, die erklären, wie gefährlich Impfen sei, Ärzte, die behaupten, der Impfstoff sei tödlicher als die Krankheit, Medien, die davon profitieren, Politikerinnen.

In den Krankenhäusern gibt es Medizin, gibt es Beatmungsgeräte. Aber das Personal fehlt. Viele rumänische Ärztinnen arbeiten im reicheren Westeuropa. In diesem Oktober ist Rumänien Hochrisikogebiet, der Hot Spot der zweiten Phase der Vierten Welle. Seit dem 1. Oktober gelten Beschränkungen: »Restaurants, Kinos und Theater dürfen jetzt nur Geimpfte und Genesene betreten. Am Wochenende dürfen Ungeimpfte das Haus nicht verlassen, von acht Uhr am Abend bis fünf Uhr in der Früh.«

Ansonsten: In Weimar liegt die Inzidenz bei den 5-14jährigen bei 681. Thüringen führt nach den Herbstferien wieder die Maskenpflicht an Schulen ein.

18. Oktober | 2G 2

Besprechung für eine geplante Veranstaltung. Nicht unkompliziert, für den zweiten Coronawinter alle Eventualitäten einzubeziehen. An einem Punkt sagt eine von uns: Falls dann 2G sein sollte, kann ich nicht daran teilnehmen.

Alle verstehen sofort. Sie ist nicht geimpft und wird nicht geimpft sein. Wir sind uns sympathisch, die Zusammenarbeit klappt, wir haben gemeinsame Pläne. Zuerst ist da Überraschung. Nie hätte ich angenommen, dass die Impffrage eine zwischen uns wäre. In meinem Kopf für Sekunden ein Rasen, die Überlegung, was eine angenehme Reaktion wäre, ob es eine Reaktion geben sollte: ein Nachfragen nach ihren Beweggründen, ein Darlegen meiner Meinung, eine Diskussion. Diskussionen darüber, so viel ist klar, führen zu nichts. Sind anstrengend. Lenken vom eigentlichen Plan ab. Haben das Potential, die Zusammenarbeit dauerhaft zu gefährden.

Ihr Tonfall ist unaufgeregt, ohne jede Form einer Provokation. Sie gibt lediglich eine Information weiter. Und wir, die jetzt die anderen sind, eine Gruppe sind, die Geimpften sind, die einer Ungeimpften gegenübersitzen, nehmen diese Information auf. Und dann – geschieht nichts. Wir reden weiter. Wir arbeiten mit der Information. Fragen uns zielorientiert: Unter welchen Umständen könnte es zu 2G kommen? Können wir die Veranstaltung auch ohne sie bestreiten? Vielleicht verschieben? Wie lange?

Nur einmal kommt die Rede auf Long Covid bei Kindern. Ein kurzer Versuch, jeweils die eigenen Ansichten zu präsentieren, ein halbherzig vorgetragenes Unterfangen, weil beiden »Seiten« klar ist, dass die andere Seite nicht überzeugt werden wird, nicht heute, nicht hier.

Später denke ich, dass ich eigentlich damit leben kann. Ich kann ihre Entscheidung nicht nachvollziehen, halte sie für unvernünftig, vor allem unlogisch bei allem Wissen, das über die Covid-Krankheit und über die Impfung bekannt ist. Aber – ich kann mit der Entscheidung leben, denke ich, ich kann damit leben, sich so gegenüber zu sitzen und unterschiedlich auf die Welt zu schauen und in ihr handeln und zielorientiert mit dieser Unterschiedlichkeit zu arbeiten. Ich kann damit leben, zumindest könnte ich das, wenn alle, die geschützt sein wollen, geschützt sein können, wenn Kinder, wenn meine Kinder geschützt sein können und nicht in einer Stadt leben, in der die Inzidenz in ihrer Altersgruppe auf die 500 zueilt. Solange es für sie keinen Schutz geht, kann ich damit nicht leben, denke ich, halte ich die Entscheidung nicht für sozial. Aber später einmal, denke ich, könnte es so sein, auf diese Weise sich gegenübersitzen.

Später an diesem Tag denke ich daran, wie wir anfangs im Zimmer das Fenster öffneten und im gegenseitigen Einverständnis die Masken abnahmen und ich denke daran, dass ich gern schon zu diesem Zeitpunkt gewusst hätte, wer geimpft ist, wer nicht, denke, eigentlich sollte ich auch wütend sein.

Ansonsten: Der ehemalige US-Außerminister Colin Powell stirbt trotz Doppelimpfung an einer Covid19-Erkrankung. Biontech und Pfizer beantragen eine Impfstoffzulassung für Kinder in Europa.

16. Oktober | Kinderinzidenz Weimar

Die Inzidenz in Weimar steigt auf 142. »Das Infektionsgeschehen in Weimar hat seinen Schwerpunkt in den letzten Tagen nachweislich im Bereich der Schulen und Kindergärten bzw. in deren Folge bei den Familien dieser Kinder« steht auf der Stadt-Weimar-Seite, dazu die Forderung des Oberbürgermeisters: »Land soll Testpflicht in Schulen und Kitas sofort wieder einführen«. Die Inzidenz für die Altersgruppe von 5-14 liegt in Weimar bei 482 und auch wenn die Inzidenz gerade bei Kindern nicht die entscheidende Zahl sein sollte, denke ich, diese Zahl sollte so nicht sein.

Eine befreundete Lehrerin erzählt, dass in ihrer Schule bei einem Coronafall die Klassen getrennt werden, kleinere Kurse, das ist die Maßnahme bei dünner Personaldecke. Ich lese einen Text von Harald Welzer in Bezug auf das Coronamangement in Schulen: »Stattdessen fiel einer […] Kulturministertruppe nichts anderes ein, als junge Menschen zu Hochinfektionszeiten im Winter in Klassenräume zu pferchen und alle 20 Minuten das Fenster aufzureißen […] In Wahrheit saß diesen verantwortungslosen Frauen und Männern […] nur die Wirtschaft im Nacken, die zu viel Arbeitszeitverlust durch Homeschooling zu vermeiden versuchte. Verächtlicher kann mit einer nachrückenden Generation gar nicht umgegangen werden.«

Am Abend berichtet eine Freundin, dass sie ihre Kinder hat offlabel impfen lassen, damit diese nach anderthalb Jahren wieder in den Kindergarten gehen können.

15. Oktober | Impfzahlen

Diskussion um die Impfzahlen. Die sind zu niedrig, erklärt das Robert-Koch-Institut, man könne von fast vier Millionen Geimpfter mehr ausgehen. Diese neuen Zahlen stammen zum Teil aus einer Befragung, aus deren Ergebnis die tatsächlichen Impfzahlen hochgerechnet werden. In Portugal sind 98% der Erwachsenen geimpft.

14. Oktober | Liefers

Jan Josef Liefers, im April Protagonist von #allesdichtmachen, berichtet von Erfahrungen, die er bei einer Visite auf einer Intensivstation gemacht hat. Er klingt ehrlich betroffen, erzählt von Schicksalen. Später im Bild-Interview wettert er gegen die Impfpflicht, spricht von Erpressung. Ein paar Tage später sitzt er als kritische Stimme, Sachverständiger und Antipode bei Maybrit Illner, das ewige Talkshow-Diskurs-Karussell.

12. Oktober | Kindertests

Husten, Schlappheit, leichtes Fieber. Ein Test fürs Kind wird vereinbart. Möglich ist der erst am folgenden Tag, weil wegen der nun kostenpflichtigen Tests die Stationen verkleinert und verlagert werden und Umzüge stattfinden. Zudem lassen laut Hotline nach dem Wochenende viele Eltern ihre Kinder testen. Ein Tag später wird aufgrund der Symptome der geplante Schnelltest zu einem PCR-Test umorganisiert. Im Warteraum ausschließlich Mütter mit ihren Kindern. Als wir gehen, kommen uns weitere Eltern mit Kindern entgegen. Im Bekanntenkreis sind nahezu alle Kindergartenkinder krank zuhause. In Gedanken spiele ich die nächsten beiden Wochen durch, wie eine Quarantäne wohl aussehen könnte, spiele in Gedanken den Winter durch, die Rückkehr der Atemwegserkrankungen für Kinder, die Prognosen. Vielleicht beginnen diese Coronamonate gerade erst.

10. Oktober | hinter Mauern

Nach der (Corona)Ausstellung war vor der nächsten Ausstellung. So verbrachte ich von den letzten Tagen die meisten in der Burg. Hinter den dicken Mauern verschwand die Pandemie; seit vielen Monaten wusste ich über Tage nicht die Höhe der Inzidenz, kannte nicht den Stand der Pandemie, geht es rauf, runter, weiterso, fast so, als wäre es ohne Bedeutung.  Nichts in Erfahrung zu bringen und nicht einmal über dieses Nichts zu schreiben, fühlte sich wie ein Verrat an diesen Einträgen kann und andererseits dringend notwendig.  

Präsent ist die Pandemie in den Gesprächen über das Konkrete. Im Schloss gilt nun die 3G-Regel. Eine Teststation muss eingerichtet werden. Vorgaben gibt es viele, die praktische Umsetzung wird dem Schloss überlassen, all die Fragen, die damit einhergehen. Auch von anderen Seiten die Bürokratie. Einerseits dutzende Seiten mit Verboten und Geboten, andererseits die Abwesenheit von Hinweisen davon, wie sich diese praktisch umsetzen lassen. Die Pandemie als ein Leviathan, eine bürokratische Monstermaschine.

7. Oktober | 2G

Gestern die erste Lesung, auf der 2G gilt. Zutritt nur Geimpfte und Genesene. Als ich davon höre, ist der erste Gedankenreflex: Gut so, dann kommen nur die Vernünftigen. In der nächsten Sekunde schon das Innehalten, das Reflektieren des Reflexes, das Zurücknehmen. Einerseits unterstelle ich schon, dass, wer sich bis Oktober 2021 nicht impfen lässt, unvernünftig handelt. Gleichzeitig widerstrebt mir dieses Einteilen, dieses Pauschalisieren. Am Abend postet ein Bekannter erneut einen Beitrag in Zusammenhang mit 2G unter dem Schlagwort »Impfrassismus« und ich bin davon ebenso angeekelt wie von meinem Reflex, mehr noch.

5. Oktober | Abbau

Abbau der Coronamonate-Ausstellung. Schon seltsam: Gerade eben erschien es mir unwirklich, dass ich während der Pandemie eine Ausstellung über die Pandemie vorbereite. Erschien es unwirklich, dass ich, eben doppelt geimpft, schon aus den Coronamonaten lese und sie an Wände hänge, jedes Bild wie ein Schlusspunkt. Und nun ist dieses Abgeschlossene selbst schon Vergangenheit, während die Gegenwart weiterhin wütet, geprägt von den all den bekannten Coronathema – 2G, 3G, Triage, Intensivbettenbelegungsdiskussion, zu denen ich tatsächlich gerade gern mehr schreiben würde als nur eine Aufzählung. Aber andererseits würde es möglicherweise auch genügen, diese Seite hinunterzuscrollen.

2. Oktober | 700000

700.000 Covid-Tote in den USA. 100.000 davon in den letzten hundert Tagen, zu einer Zeit, als für jeden Impfstoff kostenlos zur Verfügung stand, so viele vermeidbare Tragödien.

30. September | Tisch

Mit #allesaufdentisch gibt es eine Art Nachfolgeaktion zu #allesdichtmachen und ich bin froh, dass es mich nicht drängt, mehr darüber zu schreiben als diesen Satz, weil mich wenig nur weniger interessiert, als Wotan Wilke Möhring im Gespräch mit Joachim Steinhöfel über die Meinungsfreiheit zu erleben.

28. September | wie Idar-Oberstein

In einem Zug bei Bad Kreuznach tritt eine Maskenverweigerin eine Mitfahrerin und droht: »Sie wissen ja, was in Idar-Oberstein passiert ist, Sie gehören ebenfalls abgeknallt.«

Nachdem die Kassiererin den Mann auf das korrekte Tragen der Mund-Nasen-Maske hingewiesen und den Kassiervorgang abgeschlossen hat, äußert dieser, er könne sie auch erschießen und verlässt anschließend den Markt.

Nachdem ein Wirt in Herford die 2G-Regel für sein Restaurant einführt, wird ihm gedroht: »Hoffentlich kommt der Tankstellenschießer rum.«

In dessen Verlauf äußerte der junge Mann, dass er es gut finde, wenn Personen, die andere zum Tragen einer Maske aufforderten, in den Kopf geschossen würde, wie jüngst in Idar-Oberstein geschehen.

27. September | 3Gs

Im nächsten Frühjahr … wird es wohl so sein, dass wir andere 3Gs haben werden: Genesen – und das heißt beispielsweise mit Blick auf Long-Covid nicht immer gesund – geimpft oder gestorben.

26. September | Wahltag

Vor der Wahl die Empfehlung, per Brief abzustimmen, damit im Fall einer kurzfristigen Quarantäne die Stimme nicht verfällt. Außerdem die Bitte, zur Wahl einen eigenen Stift mitzubringen. Im Wahllokal wird mir ein Stift ausgehändigt, an der Urne wieder abgenommen, einer der Wahlhelfer reinigt ihn augenblicklich mit einem desinfizierenden Tuch.

In anderen Wahllokalen werden Urnen vor die Lokale getragen, um auch Maskenverweigerinnen die Stimmabgabe zu ermöglichen. In Berlin droht die Polizei den Wahlhelferinnen Zwang an, wenn sie Maskenverweigerer nicht ins überfüllte Wahllokal lassen. Als anderswo jemand ohne Maske versucht, die Stimmabgabe zu blockieren, wird er von der Polizei abgeführt. In Oberösterreich zieht die impfkritischere Liste MFG ins Landesparlament ein, in Deutschland bleibt die coronamaßnahmenkritische Basis unter 2%. Ansonsten ist Corona kein Thema heute, es geht um Zukunftskoalitionen und diese Zukunft wird ohne die Pandemie gedacht.

25. September | kein Thema

Demonstration gestern u.a. auch in Weimar auf dem Theaterplatz. Warum darüber schreiben? Mit Coronaaugen schauen, wieviele Masken tragen, ob das Virus in den Reden und auf den Plakaten eine Rolle spielt? Eher nicht. Stattdessen diese Demonstration den Demonstrationen gegenüberstellen, die Eingang fanden in diese Einträge: seit anderthalb Jahren die vielen überregionalen Querdenkerdemos, in Weimar konkret die Coronaspaziergänge, der »Markt der Meinung«, die unsägliche »Weiße-Rosen«-Demo vom 1. Mai. Lauter Protestzüge, denen ich Aufmerksamkeit schenkte, für die ich Worte sammelte, auch im Großen erhielten diese Proteste im Verhältnis zur Teilnehmerzahl viel Beachtung, setzten Themen.

An diesem Freitag der Blick auf diesen Protest. 5jährige tragen Schilder, auf denen geschrieben steht: »Wir brauchen die Erde noch«, »Uns ist die Welt nicht egal« und »Ohne Bäume keine Träume.« Auf dem Anhänger, der als Bühne für die Reden dient, legt eine DJane auf. Während des Zugs durch die Stadt Beifall aus den geöffneten Fenstern. Es laufen mehr, deutlich mehr als auf den anderen Protestzügen. Dennoch bleibt die große Beachtung aus. Die Hunderttausenden laufen, aber ein Thema wird es nicht, diese Diskrepanz zwischen Geschehen und der öffentlichen Wahrnehmung.

24. September | Treibstoff

In diesen lichthellen Septembersonnentagen die Reaktionen auf den Mord; Parteiwerbespots, in denen mit Querdenkern geworben wird, Politiker, die sich gegen die Maskenpflicht aussprechen, weil »wir sehen, wie viel gesellschaftlichen Dissens die Maßnahmen verursachen«, Politikerinnen, die von »unterschiedlichen Sichtweisen zu den Coronaregeln«, die zu dem Mord geführt haben, sprechen, Bundestagsvizepräsidenten, die in großen Interviews kurz nach dem Mord stolz davon sprechen, dass sie sich nicht an »unsinnige« Coronaregeln halten, weil »ich von meinem Recht auf autonomes Handeln Gebrauch« mache, Innenminister, die von einem kontextlosen »Einzelfall« sprechen, lauter Relativierungen, lauter Bestätigungen, lauter Treibstoff.

23. September | liegt an Corona

Abends nach zehn mit einer Filmemacherin aus Tel Aviv auf dem Heimweg durch Weimar. Sie sagt: »Erstaunlich, wie wenig Leute noch auf den Straßen sind.« Ich sage etwas wie »Das liegt an Corona, da schließt alles eher« und weiß, dass dies nur die halbe Wahrheit ist.

22. September | Pandemie der Zahlen

Anfangs habe ich angenommen – ich nehme es noch immer an – dass die große Herausforderung der Pandemie Solidarität ist. Nach einem Gespräch gestern denke ich, es sind (auch) die Zahlen. Die Zahlen ertragen, die 4,7 Millionen, die 93000, die abstrakten Zahlen begreifen, übertragen in den konkreten Alltag, wo sie konkret meist wenig Auswirkung haben – das exponentielle Wachstum verstehen und mitdenken, die Wahrscheinlichkeiten erfassen, die Wirksamkeit von 85%, was bedeutet es, wenn 1 von x Kindern an PIMS erkrankt, wenn 1 von x von Geimpften an der Impfung stirbt, wenn 1 von x Ungeimpften erkrankt, wenn 1 von x Erkrankten stirbt, all die Wahrscheinlichkeiten zusammensammeln, die Informationen klauben und sich daraus die Welt bauen, wohlwissend, dass jemand drei Studien finden wird, die alle mühsamen Rechnungen auf den Kopf stellen und dennoch zu einer Überzeugung kommen, etwas, das der Müdigkeit, dem Überdruss, dem Erschöpftsein entgegensteht. Diese Pandemie ist eine Pandemie der Zahlen, jene zu finden, mit denen ich für mich, in meinem Kopf, in meinem Handeln, die Pandemie bewältigen kann, vielleicht ist das die Herausforderung.

21. September | statistisch wahrscheinlich

Der Mord war auch stochastischer Terrorismus: radikale Ansprachen an Viele, dass Einzelne zur Tat schreiten, wird so »statistisch wahrscheinlich, aber individuell unvorhersehbar«. Die Kanäle, die Personen, denen der Täter folgte und zuhörte, sind jene, die seit vielen Monate die Geschichten von der Coronadiktator erzählen, der Täter sagte, dass er mit dem Mord ein Zeichen wollte.

Wird die Tat das Verhalten Vieler ändern? Werden sie nun anders reagieren, wenn sie Menschen treffen, die mutwillig Maßnahmen unterlaufen, weil dabei stets das Wissen um den möglichen Extremfall mitwirkt?

Ansonsten: Die CDU wirbt in ihrem neuem Wahlwerbespot mit einem bekannten Querdenker für ihre Sache. Ungeimpfte sollen zukünftig kein Krankengeld mehr im Fall einer Quarantäne erhalten. Weil der brasilianische Präsident als Ungeimpfter keinen Zugang zu Restaurant erhält, isst er am Rande der Uno-Generaldebatte in New York Pizza auf der Straße. In den USA sind mehr Menschen an Corona gestorben als durch Spanische Grippe, was Corona zur schwersten Pandemie der jüngeren US-Geschichte macht.

20. September | anderthalb Stunden

Ein Mann betritt eine Tankstelle in Idar-Oberstein. Er will Bier kaufen. Am Tresen wird ihm vom Kassierer, einem zwanzigjährigen Studenten, gesagt, dass er eine Maske tragen müsse, ansonsten könne ihm nichts verkauft werden. Der Mann verlässt die Tankstelle. Anderthalb Stunden später kehrt er zurück, diesmal mit Maske. Wieder geht er mit Bier zum Tresen. Dort zieht er die Maske vom Gesicht und schießt dem Kassierer, dem zwanzigjährigen Studenten, von vorn ins Gesicht. Später auf der Polizeiwache sagt der Mann, dass der Student verantwortlich sei für die Gesamtsituation, da er die Regeln durchgesetzt habe.

Es ist nicht der erste Eintrag hier über einen Mord, der in Zusammenhang mit Masken geschieht. Vielleicht ist es nicht einmal die Überraschung, dass eine solche Gewalttat auch in Deutschland geschieht. Es ist der fehlende Affekt, der mich erschüttert. Anderthalb Stunden liegen zwischen dem ersten und dem zweiten Betreten der Tankstelle, anderthalb Stunden Zeit, keinen Plan zu fassen, keine Waffe zu holen, nicht zurückzufahren, nicht noch einmal Bier zu holen, nicht absichtlich die Maske abzunehmen, anderthalb Stunden, keine Waffe auf das Gesicht eines Menschen zu richten, anderthalb Stunden, die gelesenen und gehörten Worte, die Gedanken, die Wut, den Hass verklingen zu lassen, anderthalb Stunden, nicht abzudrücken, anderthalb Stunden, kaltblütig und mit Vorsatz kein Leben zu nehmen.

Ansonsten: Der Kassenärztechef fordert einen »Freedom Day« für Ende Oktober, ab dann eine Aufhebung aller Maßnahmen. Wegen uneinheitlicher Coronaregeln sagen Die Ärzte ihre Tournee ab. Weil Ungeimpfte nicht auf ihre Konzerte kommen dürfen, sagt Nena ihre Tour ab. Erfolgreicher Praxiseinsatz von Corona-Spürhunden bei einem Konzert von Fury in the Slaughterhouse in Hannover. Die Impf-Aktionswoche führt nicht zu mehr Impfungen. Im letzten Triell werben die drei Kanzlerkandidatinnen fürs Impfen.

17. September | endemisch

Im Montagseintrag ging es auch darum, dass eine pandemische Situation endemisch wird; aus der Ausnahme wird eine Wiederholung und damit Routine. Die Endemie, das zyklisch, örtlich begrenzt wiederkehrende Virus, ist das bestmögliche Ziel. Wenn es soweit ist, werden sich viele Fragen ergeben. Welche Einschränkungen werden in jeder Sars-CoV-2-Saison von der Mehrheit getragen werden? Wie werden die Auffrischungsimpfungen organisiert? Und: Wie viele Tote werden wir in jeder Sars-CoV-2-Saison, in der jährlichen Routine, bereit sein zu akzeptieren?

Ansonsten: Aufgrund der derzeit geltenden Coronaregeln sagt Nena ihre Tour fürs nächste Jahr ab. Hinterbliebene von Corona-Toten klagen wegen des ersten Ausbruchs in Ischgl gegen die Republik Österreich. In den westlichen Bundesländern sinken die Inzidenzen, in den östlichen steigen sie.

15. September | Impftod

Heute also der Tag, an dem alle Geimpften sterben, laut einer Prognose, die in den Channels seit Wochen geteilt wurden und über die heute unter dem Hashtag #Impftod gespottet wird. Viel zu absurd, um darüber zu schreiben, ebenso wie über Berichte von Impfgegnerinnen, die eine Maske tragen, um sich vor den vermeintlich kontaminierten Aerosolen der Geimpften zu schützen. Zugleich, bei aller Absurdität, sind es solche Gedankengänge, die drei Brandsätze gegen ein Impfzentrum im sächsischen Vogtland schleudern lassen.

Ansonsten: Wegen fehlender Großaufträge und Billigprodukten aus China haben deutsche Hersteller von Coronamasken ihre Produktion fast komplett eingestellt. Die Berliner Regierung nimmt die 2G-Regel für Kinder zurück.

14. September | Überwältigung

Doch am Ende mehr erstaunt darüber als erwartet, welch großen Raum die Phase »Impfung« innerhalb einer Pandemie einnimmt. Im ersten Halbjahr vor allem die logistischen und bürokratischen Prozesse. Seit Wochen und Monaten die Energie und Zeit, die auf die freiwillig Ungeimpften verwendet wird, so viel Kraft und Aufmerksamkeit fließt dahin, wird weiter fließen.

Und zugleich die Frage: Warum nicht mehr? Warum nicht für die Zeit, die bis Winter bleibt, eine flächendeckende Überwältigung mit Impfinformationen und Impfaufforderungen, noch mal mehr Plakatierungen, Sondersendungen, Impfluencer, noch mehr Bratwürste, Döner, Lotterien, Impfen am Stadion, Impfen beim Bäcker, Impfmobile, in allen denkbaren Sprachen, Hürden so gering wie möglich, Impfangebote als Dauerzustand, damit die Kraft bald woandershin wandern kann.

Ansonsten: Nicki Minaj twittert über angebliche Nebenwirkungen einer Coronaimpfung ihres Cousins auf Trinidad und erntet dafür viel Kritik. Weil während der Lockdowns 2020 Deutsche viele Hunde kauften, wurden Rekordeinnahmen mit der Hundesteuer erzielt. Impfpflicht für die Mitarbeiter von französischen Krankenhäusern, Alten- oder Pflegeheimen. Einführung der 2G-Regel in mehreren Bundesländern.

13. September | Dänemark

Dänemark beendet so gut wie alle Coronamaßnahmen. »Nicht wenige junge Menschen verabschieden sich mit einer Art Brunftschrei in diese Nacht ohne Coronaregeln« heißt es in einer Reportage darüber, wie Dänemark den Übergang von der Pandemie zur Endemie feiert.

Eine Studie, für die über 400000 Interviews in sieben Ländern gemacht wurden, findet Erklärungen dafür, weshalb Dänemark so handeln kann. Das Land hat den Kampf gegen das Virus als eine Art »moralisches Projekt« geführt, als Anstrengung aller, eine gemeinsame Anstrengung. Spaltung und Polarisierung wurden vermieden, indem auch die Oppositionsparteien die Maßnahmen unterstützten. Die Maßnahmen mussten aufgrund der daraus resultierenden Akzeptanz nicht so hart beschlossen werden, was die Akzeptanz weiter stärkte. In der Summe ist ein Vertrauen, Vertrauen in beide Richtungen.

Gleich, ob das bedeutet, dass Dänemark damit tatsächlich die Pandemie überwunden und beendet hat, hilft mir diese Erklärung besser zu begreifen, was der Gegensatz von erster und zweiten Welle war, was Frühjahr 2020 von Herbst 2020 in Deutschland trennte.

Ansonsten: The Minds of 99 spielen vor 50000 Zuschauerinnen in Kopenhagen. Berechnungen des Leibnitz-Institut für Wirtschaftsforschung ergeben, dass ein neuer Lockdown viermal so hohe finanzielle Schäden verursachen würde wie ein Ausschluss Ungeimpfter. Die Impfaktionswoche startet; geplant sind zahlreiche niedrigschwellige Impfangebote.

11. September | 5-11

Im Freundeskreis ist die komplette Bandbreite vorhanden: die Sorge um die Kinder so groß, dass Ärzte im Ausland gesucht werden, die unter der Hand Unter-12-jährige impfen, solche, die mögliche Impfungen an Kindern als Verbrechen gegen die Menschlichkeit sehen, die, die ihre Kinder impfen lassen würden, aber einer möglichen Infektion gelassen entgegensehen, jene, die unsicher Für und Wider abwägen und im Prinzip ratlos sind. Bisher waren all diese Positionen hypothetisch. Durch die Ankündigung, dass Biontech Impfstoffe für 5-11jährige vorbereitet, die ab Oktober einsatzbereit sind, werden diese Positionen auf die Wirklichkeit treffen und möglicherweise neu bewertet werden, glücklicherweise.

Ansonsten: Wer sich impfen lässt, erhält bei Kaplan Döner Berlin einen Dönergutschein. Die STIKO empfiehlt eine Impfung für Schwangere und Stillende. 265000 Neuinfektionen und 4400 Coronatote in den USA.

10. September | vermeidbar

Aus der Schweiz, dem Land mit der niedrigsten Impfquote Westeuropas, ein Text über die wieder an der Belastungsgrenze arbeitenden Intensivstationen und die Frage, ob, wenn Triage angewendet werden muss, der Impfstatus eine Rolle bei der Entscheidung, wer behandelt wird, spielen sollte. Aus Österreich ein Text, in dem es u.a. darum geht, ob Ungeimpfte für die Behandlung im Krankenhaus selbst bezahlen sollten.

Clemens Setz schreibt dazu: »Am besten einfach nur noch sympathische Menschen behandeln … und vielleicht eine App entwickeln, wo man anonymisiert darüber abstimmen kann, ob eine bestimmte Person behandelt werden soll.«

Ich zögere, diesen Eintrag zu schreiben. Es ist klar, wie die Antwort auf die Frage lauten muss, ob die moralische Bewertung des Umstands einer Erkrankung Einfluss haben darf auf die medizinische Behandlung, es gibt nur eine Antwort.

Ich zögere, weil ich den nächsten Satz mit »Allerdings« beginnen muss, auch wenn ich damit die einzige Antwort relativiere. Allerdings spielt der Umstand einer Erkrankung eine Rolle, wenn viele gleichzeitig an der gleichen Krankheit erkranken und die Erkrankung mit recht großer Wahrscheinlichkeit hätte vermieden werden können und durch die vielen vermeidbaren Erkrankungen andere, nicht vermeidbare Erkrankungen deshalb nicht angemessen behandelt werden können.

Ich drücke mich davor, deutlich zu schreiben: Wer sich nicht impfen lässt, nimmt bei einer schweren Erkrankung möglicherweise anderen Schwererkrankten die Chance zur Behandlung. Ich drücke mich davor, weil es genau diese moralische Bewertung vornimmt. Und zugleich geschieht das Geschilderte bereits, wird geschehen, ganz unabhängig von einer Bewertung.

Ansonsten: Biontech kündigt einen Impfstoff für Fünf- bis Elfjährige für Mitte Oktober an. Joe Biden kündigt eine Impfpflicht für viele Regierungsmitglieder an. Dänemark stuft Covid19 nicht länger als »gesellschaftskritische Krankheit« ein und hebt die letzten Coronamaßnahmen auf. Der Direktor der Klinik für Intensivmedizin Hamburg sagt: »Uns zermürbt, dass eigentlich alle Intensivpatienten momentan ungeimpft sind. Das Personal ist ein Stück weit frustriert, weil sich jeder mit einer Impfung gegen schwere Corona-Verläufe schützen könnte.« In Griechenland wurden seit Anfang September 5300 ungeimpfte Beschäftigte in Krankenhäusern vom Dienst suspendiert.

9. September | am Himmel

Von oben Motorengeräusche. Erwartungsvoll drehen sich Köpfe. Am Himmel ein Flugzeug. Es zieht einen Banner hinter sich her. Darauf steht: www.corona-ausschuss.de. Einen Nachmittag lang kreist das Flugzeug über der Stadt. Später am Abend rufe ich die Webseite auf. 69 Videos treten den Beweis an, dass es nie eine Pandemie gab. Die Seite fühlt sich retro an, wie eine Zeitreise nach 2020, mit all den Behauptungen von damals. Ich stelle mir vor, wie jemanden diese Seite so wichtig war, dass er Buchstaben auf einen Banner malte, ein Flugzeug mietete, den Banner an dieses Flugzeug band, einen Piloten bezahlte und sagte: Flieg stundenlang über Weimar, in der Hoffnung, jemand würde anderthalb Jahre nach Beginn der Pandemie die Meinung über die Pandemie ändern.

Ansonsten: Die Mutante My wird als potenziell besorgniserregend eingestuft. Afrika wird bis Ende des Jahres ein Viertel weniger Impfstoff erhalten als geplant, bislang sind nur drei Prozent der dortigen Bevölkerung vollständig geimpft.

7. September | zerknüllt

Die letzten Tage vermehrt die Operationsmaske zerknüllt in der Tasche getragen und nur aufgesetzt, wenn es unbedingt vorgeschrieben war, etwas, dass das Maskentragen zu einem symbolischen, aber keinem funktionalen Akt macht, ein Verhalten, so scheint es, welches von der überwiegenden Mehrheit praktiziert wird, im öffentlichen Raum ebenso wie im privaten.

Grundsätzlich fühlt sich diese Entspanntheit sehr angenehm an in diesen ersten sonnendurchfluteten Septembertagen und das ändert sich auch nicht wesentlich, wenn ich auf die Zahlen schaue, die auf dem Stand von Oktober 2020 sind, auch bei den Intensivpatientinnen, der maßgeblichen Zahl dieses zweiten Pandemieherbstes. Vielleicht diese Lockerheit, weil die Inzidenz bei »uns« Geimpften niedrig ist und dafür bei den Ungeimpften im dreistelligen Bereich liegt, in Hessen beispielsweise bei 270.

Warum ist das so? Denke ich: Wer geimpft sein will, kann mittlerweile geimpft sein. Wer nicht, entscheidet sich bewusst für eine »natürliche« Infektion und muss mögliche Konsequenzen tragen. Ist das ein kaltes, unempathisches Denken, weil die Menschen werden ja dennoch krank und liegen auf den Intensivstationen und haben mit den Folgen zu kämpfen? Oder ist dieser Blick unbedingt notwendig, weil, wie soll es sonst weitergehen?

Jedenfalls hilft es nicht unbedingt, wenn Til Schweiger, Miriam Stein und andere in einem kontrastreichen Filmtrailer über die vermeintliche Gefährlichkeit der Coronaimpfung Auskunft geben, hilft auch nicht, wenn mehrere Medien den möglichen Kanzler Olaf Scholz absichtlich missverstehen und ihn so zitieren, als wären alle Geimpften Versuchskaninchen in einem Experiment und hilft auch nicht, dass NoCovid-Ländern wie Australien oder Neuseeland, die gerade auf steigende Zahlen reagieren müssen, mit Häme oder Schadenfreude begegnet wird.

Ansonsten: Höchststand an Neuinfektionen in Israel. 15 Millionen Impfdosen wurden in den USA seit März ungebraucht weggeworfen. In Gera greift ein Mann ein Impfteam an und verletzt zwei Menschen. In Slowenien dringen Coronaleugnerinnen und Impfgegnerinnen in das Gebäude des Staatsfernsehens RTVS ein und verlangen, dass der Sender ihre Meinung zum Thema darstellt. Der erste Coronatodesfall in Neuseeland seit einem halben Jahr und damit der 27. insgesamt. Weil mehrere argentinische Spieler gegen Anti-Corona-Vorschriften verstoßen, werden diese während des Fußballspiels zwischen Brasilien gegen Argentinien vom Feld geführt. Große Antimaßnahmen-Demonstrationen in Frankreich und den Niederlanden.


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