zu den bisherigen Coronamonaten

August-Dezember 2020 | Januar-August 2021 | ab September 2021

24. Juli | in Aspik

Fünf Monate Coronamonate. Weiterhin ist der 24. eines jeden Monats die Gelegenheit zu prüfen, ob, und falls ja, was ich noch fühle, ob die Wahrnehmung stumpf geworden ist, ob das, was mich erreichen sollte, noch durchdringt. Was spornt mich noch zu Gedanken an, besteht weiterhin eine Notwendigkeit, diese mit jemanden anderen als mit mir selbst zu teilen? Wie pflichtschuldig leiste ich das Schreiben dieser privaten Chronik ab?

Ich brauche, wie alle sie brauchen, eine Pause, ich werde sie mir nehmen. Dabei duldet die Pandemie keine Pause, es gibt keinen Stopp, kein Ausscheren und Ignorieren, denn, falls doch, könnte ich mir die Maske auch übers Kinn ziehen und denken: Ich trage doch eine Maske.

Weimar ist ein gutes Beispiel. Fast fünf Wochen lang keine offiziell festgestellte Infektion. Dann drei nach einer Party. Dann eine neunköpfige Familie, die Besuch aus Hof empfing, sich unbemerkt ansteckte, die Kinder gehen zur Zeugnisübergabe, jetzt sind 120 in Quarantäne.

Der Lebensmittelpunkt der Familie, deren Kindergarten und Schule befinden sich in einem Teil der Stadt, der auf einem Berg liegt, damit außerhalb ist und immer noch weit genug weg. Das ist einer der ersten Gedanken: Wo ist die Gefahr, wo bin ich, wie viele Meter liegen zwischen uns, werden diese genügen? Andere diskutieren in Foren darüber, dass die Familie keine Muttersprachler ist und was diese Information mit der Ansteckung zu tun hat, es ist keine Diskussion, es ist das Abstecken rassistischer Gedanken.

Fünf Monate Coronamonate. Grundsätzlich ist die Hälfte eines Jahres jedes Jahr ein seltsames Spiel: Silvester ist scheinbar eben erst geschehen und die Tage daran sind schon Erinnerung. Der Sommer hat gerade erst begonnen und doch ist der längste Tag des Jahres einen Monat lang vorbei. Anfang wie Ende befinden sich zugleich in Reichweite und großer Ferne.

Eine Studie hat festgestellt, dass in der Pandemie ein anderes Zeitgefühl herrscht; langsamer für die Getroffenen, schneller für die Zufriedenen. Ich kann nicht sagen, was die letzten Monate für mich waren: Sind sie gerast, stehengeblieben, habe ich die Veränderung akzeptiert, verstanden, ertragen, bin ich zuversichtlich, weiterhin furchtsam? Habe ich mich mittlerweile eingerichtet? Und wenn ja: Wie geht es mir damit? Wie lange geht das gut? Wie stelle ich gegeneinander, was in den letzten Monaten nicht geschah und was dafür eintrat? Das Tragische, das Wundersame? Wie lässt sich eine Bewertung finden, die einen Sinn ergibt und sei es nur, um mich zu beruhigen?

Es wird notwendig sein, weiter zu beobachten, zu überprüfen und diese verwirrende Zeit in Worte zu binden, sie wie in Aspik einzulegen, umhüllt von einer Schicht, die das Wesentliche nur verwackelt zeigt, aber so immerhin ermöglicht, dass diese Monate überdauern können als das, was sie sind: unmittelbar.

Im Juli wird es keine neuen Einträge geben. Ab August geht es an dieser Stelle weiter mit dem Mittendrin.

Ansonsten: Mit 815 Neuinfektionen gibt es so viele an einem Tag wie seit Juni nicht mehr, weltweit sind es dreihunderttausend Neuinfektionen. Ein Update der Corona-Warnapp behebt ein Problem, aufgrund dessen die App auf vielen Geräten nicht funktionierte. In der wiederaufgenommenen amerikanischen Baseballliga werden für die TV-Übertragung virtuelle Zuschauerinnen in die leeren Stadien projiziert.

23. Juli | Schutz im Holster

Über den Goetheplatz läuft ein Mädchen. An ihrer Jeans hängt eine Desinfektionsspritzflasche wie eine Pistole in einem Holster, der Covidschutz nur einen Handgriff entfernt.

Ansonsten: In Weimar steigt die Zahl der gleichzeitig Infizierten auf 11, der höchste Stand seit Pandemiebeginn, 81 insgesamt. In einem Video fordert Deutschrapper Farid Bang zur Einhaltung des Mindestabstands auf und droht bei Verstößen mit dem Langziehen von Ohren. Ein Superspreader-Vorfall an einem Fließband löste den Ausbruch bei Schlachthof Tönnies aus. Amsterdam fordert Touristen auf, am Wochenende die Stadt zu meiden. Nach der Meisterfeier in Liverpool gibt es mehrere Festnahmen wegen Verstößen gegen Coronaregeln. Mehr als die Hälfte aller Coronainfektionen verteilen sich auf drei Länder: USA, Brasilien, Indien. Corona in Kuba.

22. Juli | mittendrin

Ich sehe ein Video. Offenbar trägt der Filmende einen Schutzanzug, der Helm aus durchsichtigem Plastik, die Welt, die er oder sie dadurch sieht, verschwommen und unvollständig. Die Filmende läuft durch ein Krankenhaus. An den Wänden Stühle und Krankenhausbetten eng an eng, darauf sitzen und liegen Kranke. Die Sitzenden mit Atemschläuchen, große Zylinder mit Sauerstoff neben ihnen, ein unablässiges Zischen bläst in den Filmton. Die Liegenden regungslos, einige sind auf den Bauch gedreht, um den Druck von der Lunge zu nehmen. Der gesamte Gang voller Menschen, das Bild: Sie warten, erdulden, ertragen, sie leiden. Am Ende des Films ein Schwenk zu Angestellten. Sie ziehen den Reißverschluss eines grauen Plastiksacks zu, wenig Zweifel, wofür er verwendet wird.

Es ist unklar, woher das Video stammt. Jemand schreibt Texas, eine andere Mexiko. Vielleicht ist die Herkunft nicht von entscheidender Bedeutung. Das Video stammt aus der Gegenwart. Und selbst wenn nicht, selbst, wenn es zwei Monate alt ist, sagt es mir: Wir sind mittendrin. Das ist nicht Anfang, längst nicht Ende, das ist die Jetztzeit, die ewig lange Strecke zwischen damals und zukünftig. Wenn mich später jemand fragen wird, wie es denn war, während der Pandemie zu leben, dann muss ich auch von diesem 22. Juli 2020 sprechen, von diesem Video.

Ein Einschub. Ich denke an dieses mittendrin, wenn ich die Bilder aus Portland sehe. Schwarzbekleidete, ungekennzeichnete Militärs springen aus tarnfarbenen Trucks und schießen Menschen in den Kopf, verhaften sie, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Die Geheimpolizei auf der Straße, Techniken einer Diktatur, selbst wenn Mütter dagegen »Hands Up Please Don`t Shoot Me« singen oder eine Unbekleidete sich den Schwergerüsteten entgegenstellt, ist das eine Junta. Es ist nicht der Beginn von schlechten Zeiten, etwas, das sich andeutet und einmal Bahn brechen wird. Die Zeit ist jetzt da, geschieht in diesem Augenblick. Nichts muss mehr kippen, gekippt ist es längst schon. Wenn man später fragt, wie war es, während der Undemokratie zu leben, dann werde ich auch von diesen Bildern sprechen.

Ich denke an Portland und ich denke an das überfüllte Krankenhaus. Ich denke an die vielen verschiedenen Orte, welche die Zeit verbindet, in der sich alle zugleich befinden. Ich denke daran, dass mittendrin niemals zu greifen ist; ein Anfang schon, ein Ende auch. Aber mittendrin fließt weg, zwischen Fingern strömen die Ereignisse hindurch, mittendrin ist nichts Einzelnes, kein Tropfen, sondern Bewegung. Ich kann nicht innehalten und Distanz erzeugen, nur später einmal schauen und sagen: Hier bin ich getrieben, den Kopf geradeso über Wasser, habe ich während des Schwimmens das Schwimmen bemerkt?

Ansonsten: In einigen Bundesländern ist wieder die Betreuung verschnupfter Kinder im Kindergarten möglich. Laut einem Test hat hochgerechnet jeder vierte Mensch in der Region Delhi Coronaantikörper im Blut. Österreich führt wieder die Maskenpflicht im Supermarkt ein. Berlin lockert die Abstandsregeln für Gaststätten. Auf einer Pressekonferenz sagt Donald Trump: »Es wird wahrscheinlich leider schlimmer werden, bevor es besser wird« und fordert zum Tragen von Masken auf.

21. Juli | in der Welt

Gestern kommt die wunderbare Illustration zu einer Kindergeschichte, die ich vor einigen Wochen schrieb. Die Geschichte schrieb ich, weil es eine Anthologie geben soll und die Anthologie wird es geben, weil wegen Corona Lesungen ausfielen und das Buch mit den Geschichten diesen Ausfall kompensieren soll.

Ohne die Pandemie wäre diese Geschichte ungeschrieben, diese Illustration nicht gezeichnet. Sehr viel ist in den letzten Monaten wegen Corona verlorengegangen. Es tut sehr gut zu sehen, dass etwas geschaffen wurde und in die Welt kam wegen Corona.

Ansonsten: Auf einem viertägigen Gipfel beschließt die EU verschiedene Geldprogramme in Folge von Corona, Angela Merkel trägt dabei Maske und dazu Blazer in den Farben der französischen Tricolore. Die Veröffentlichung von Tenet, den neuen Film von Christoph Nolan, der als Startsignal für die Wiederaufnahme des regulären Kinobetriebs gilt, wird auf unbestimmte Zeit verschoben. Seit März hat das Robert Koch-Institut über zweihundert Drohmails erhalten. Nachdem ein Busfahrer einem jungen Mann ohne Maske den Zutritt in den Bus verwehrt, schlägt dieser den Busfahrer ins Gesicht. Donald Trump twittert ein Foto, das ihn beim Tragen einer Maske zeigt und schreibt dazu: »Niemand ist patriotischer als ich, Euer Lieblings-Präsident!«

20. Juli | Runde Zahlen

600000. Ich kann nicht bei jeder runden Zahl einen Eintrag schreiben. 600000. Ich kann mich nicht bei jeder runden Zahl betroffen fühlen. 600000 Coronatote.

Dabei gibt es die runde Zahl nicht einmal. Im Moment, in dem ich von ihr erfahre, ist sie schon nicht mehr aktuell. Rund war die Zahl nur einige Minuten, dann stieg sie an. Die um eins erhöhte Zahl macht die Zahl an sich nicht weniger erschreckend. Im Gegenteil; plus 1 bedeutet ein Schicksal mehr.

Aber ich verstehe: Die runde Zahl ist Symbol. Ich brauche sie als Zwischenschritt, als Pause, um innezuhalten im Laufen, um zu schauen, was ist. Die runde Zahl erlaubt es mir, die Gegenwart einzufrieren.

Ich weiß, wie ich im März, bei zehntausend, bei zwanzigtausend Todesfällen dachte, dass diese Zahlen schon hoch sind, dass sie steigen werden. Ich fragte mich, wie werde ich fühlen, wenn die Zahl bei 50000, 100000, 500000 steht? Wird es einen Unterschied machen? Wird es sich ähnlich seltsam abstrakt anfühlen, weil eins und eine Million genauso fremd sind, weil die Zahl eine Zahl ist und keine Geschichte, die ich kenne?

Ich weiß, wie ich im März im Buch über die Spanische Grippe von 10, 20, 30 Millionen Todesfällen las und mich fragte, wie es damals gewesen sein musste, mit diesen Zahlen in der Gegenwart zu leben. Wie war es, zu wissen, dass die Zahlen keine vergangenen sind und deshalb nichts daran zu ändern ist, sondern Zahlen, die jetzt gerade geschehen und weiter geschehen werden, es wäre möglich, ihre Größe zu verringern.

606206 Coronatote zeigt die Zahl am 20. Juli 2020 an. 607000 Malariatote – 2/3 davon Kinder – zeigte die Zahl im Jahr 2010 an. Auch damals habe ich gelebt, mit dieser Zahl gelebt. Ich lebe immer mit Zahlen, die steigen, während ich lebe. Jede Zahl müsste ich zum Anlass nehmen, alles in Frage zu stellen, was das Steigen dieser Zahlen begünstigt. Stattdessen denke ich darüber nach, wie ich Tofu marinieren kann, wann ich die dritte Staffel von Dark schauen werde, mit wem ich gern mal eine Runde Tischtennis spielen würde.

Die runde Zahl hält mich davon ab. Sie friert die Gegenwart ein. Für einen Moment laufe ich um das Jetzt herum, umkreise es tänzelnd, starre entsetzt auf das Bild, das sich mir bietet, gelobe mir mehr Bewusstsein dafür, schreibe einige Worte dazu und dann setzt sie wieder ein, diese Gegenwart, lässt die Zahlen steigen, tick tick tick.

Ansonsten: Angesichts steigender Todeszahlen bestellen mehrere US-Bundesstaaten Kühlwagen für das Aufbewahren von Coronatoten. In Japan finden zum ersten Mal seit fünf Monaten wieder Sumokämpfe vor Zuschauern statt. Wegen Corona ist die Spargelernte in Deutschland dieses Jahr um 19 Prozent geringer ausgefallen als im Jahr 2019. Attila Hildmann ruft auf seiner Anti-Corona-Demonstrationen zum Mord auf.

18. Juli | Irrtümer I

Irrtümer der letzten Coronamonate (Liste unvollständig, Ergänzungen willkommen):

  • Deutschland ereilt eine zweite Infektionswelle, Stand Juli 2020
  • nach Massenveranstaltungen (Coronaspaziergänge, Black Lives Matter-Demonstrationen) erhöhte Infektionszahlen
  • MNS-Masken schützen nicht
  • MNS-Masken werden akzeptiert sein
  • nur Männer tragen MSN-Masken nicht/falsch
  • Beschluss einer Ausgangssperre in Deutschland
  • Frankfurter Buchmesse findet nicht statt
  • Peking ist die Zukunft
  • die Wiederaufnahme der Bundesliga wird viele Infektionen zur Folge haben
  • ich werde die Coronaapp dauerhaft aktiviert lassen
  • Erfolgsversprechungen diverser Heilmittel
  • alles wiederholt sich = Langeweile
  • Ansonsten schrumpft
  • die Coronamonate sind vorbei

Ansonsten: In einem Gefängnis in Texas infizieren sich über tausend Insassen mit dem Virus. An der Ostsee werden wegen zu großem Andrang einige Strandabschnitte geschlossen. Um eine zweite Virus-Welle zu verhindern, führt Frankreich ab Montag eine weitreichende Maskenpflicht ein. Beim EU-Corona-Gipfel weist Angela Merkel den bulgarischen Ministerpräsidenten Bojko Borissow auf das falsche Tragen seiner Maske hin. Only those with plastic visors were infected. Queen Elizabeth II. schlägt Tom Moore, den 100-jährigen Corona-Spendensammler, zum Ritter.

17. Juli | Ausgelassenes Streitgespräch

In den letzten Tagen mehrmals die Gelegenheit, in eine Diskussion über die Gefährlichkeit des Sars-CoV-2-Virus einzusteigen, über die Thesen von Sucharit Bhakdi zu philosophieren, die Notwendigkeit besprechen, einen Impfstoff zu entwickeln usw. usf.

Ich entscheide mich dagegen. Die Diskussion hätte mit jemanden aus dem näheren Umfeld geführt werden müssen, also auch außerhalb des kontaktlosen und damit geschützten virtuellen Raums stattgefunden. Vor allem aber ist meinerseits wenig überraschend wenig Interesse vorhanden, im siebten Monat einer Pandemie mit 600000 Toten, nach all den Studien, Bildern, Filmen, Augenzeugenberichten vermutlich wieder Grundsätzliches zum Thema einer Konversation zu machen, die genauso redundant und damit ermüdend wäre wie Streitgespräche darüber, ob das M-Wort möglicherweise rassistisch konnotiert ist und die Vermögensverhältnisse in Deutschland eventuell ungleich verteilt sein könnten. Dann lieber die Zeit investieren, sich auf die Reissues der PJ-Harvey-Werksausgabe vorzubereiten.

Ansonsten: Weltweit sind bislang mehr als 1,3 Millionen Ärzte und Pflegekräfte am Coronavirus erkrankt und machen damit zehn Prozent aller Fälle aus. Wegen Sicherheitsmängeln an den Arbeitsplätzen wird kurz nach Wiederaufnahme der Schlachtbetrieb in Tönnies-Fleischfabrik gestoppt. Weil ein Berliner im April sechs unberechtigte Anträge auf Coronazuschuss in Höhe von 77.5000 Euro stellte, wird er zu neunzehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. In Kanada wird ein Mann nach einem Streit über das Tragen von Masken von der Polizei erschossen. Forscher der Uniklinik Halle wollen ein mathematisches Modell entwickeln, mit dem das Risiko eines Coronaausbruchs nach Großveranstaltungen in Hallen berechnet werden kann und bitten dazu 4000 gesunde Freiwillige auf ein Konzert von Tim Bendzko.

16. Juli | Wohlfühlen und Konsum

In der letzten Woche stand tagelang die Türe offen für: keine Maskenpflicht mehr beim Einkaufen. Befürworter waren u.a. Wirtschaftsverbände. Ich verstehe das. Konsum benötigt – neben einem Einkommen – ein Gefühl von Wonne. Märkte sind dahingehend optimiert. Aus versteckten Lautsprechern plätschern gefällige Radiomelodien, Leuchtstoffröhren dimmen Wohlgefühl auf die Netzhäute, die Räder der Wagen drehen sich widerstandslos und führen wie von selbst zu den benötigten Produkten. Der Supermarkt ist eine Fruchtblase, welche die Keime der feindlichen Welt vom Konsumenten fernhält.

Das habe ich vor einigen Jahren einmal geschrieben. Heute versucht der Markt dieses Gefühl wiederherzustellen. Was nur schwer gelingt, wenn gleich am Eingang bereitgestellte Desinfektionsmittelspritzbehälter an die Pandemie erinnern. Wenn bunte Schilder nicht mit günstigen Preisen zu spannenden Produkten locken, sondern mich anweisen: Halte Abstand! Kaufe bargeldlos! Werde Dir Deiner Verantwortung bewusst!

Doch beim Konsumieren will ich keiner Verantwortung nachkommen. Ich will mich gehen lassen, mich im Strom der Angebote treiben lassen, hier und da, ohne darüber nachzudenken und zu reflektieren, ob ich die Ware brauche, wie sie geschaffen wurde, ob ich sie mir leisten kann, aus den summend beleuchtenden Regalen sinnliche Gewürze und nutzlosen Plastikschnickschnack greifen. Ich will vergessen, was ist, damit ich nicht mehr weiß, was ich habe, um etwas zu erstehen, was ich möglicherweise nicht brauche. Ich will hineingleiten in den Kapitalismus, bereitwillig mitwirken am Wachstum, Promille sein vom Bruttosozialprodukt.

Das geht nicht, wenn vor der Kasse Absperrband mich auf die hinteren Plätze verweist. Wenn mir die Fachverkäuferin das teure Kalbsfleisch über die Wurstrutsche an der Fleischtheke zukommen lässt. Wenn sich im Gang beim heruntergesetzten Mehl schon drei Einkaufswagen und damit deren Fahrerinnen befinden und ich annehmen muss: potentielle Überträgerinnen. Wenn die Kassiererinnen hinter Plexiglasscheiben sitzen und mir das Wechselgeld dennoch in die Hand drücken und ich denke: Hätte ich mal besser auf die bunten Warnschilder gehört.

Vor allem: Wenn ich eine Maske trage. Ich lege sie vor Betreten an. Mein Atmen verändert sich. Ich verspüre den Drang, mich so schnell wie möglich der Maske zu entledigen. Um das zu bewerkstelligen, muss ich so schnell wie möglich den Einkaufsvorgang erledigt haben. Ich eile die Gänge entlang, habe zuvor einen Plan geschmiedet, um ohne Ablenkungen durchzukommen, greife nur das Notwendige ab. Ich verweile nicht, lasse mich nicht treiben und locken. Es ist das Gegenteil von Konsumieren.

Ich verstehe die Wirtschaftsverbände. Die Pandemie ist ein Angriff auch auf ihr Modell von der Welt. Ich verstehe, dass niemand wollen kann, dass Konsum zukünftig kontaktlos abläuft, dass Städte zu Orten werden, deren einzige Funktion darin besteht, Amazon-Vertriebszentren vorgelagert zu sein. Und ich weiß, dass, wenn die Maskenpflicht fürs Einkaufen abgeschafft werden würde, ich noch viel schneller durch die Gänge eilen würde, als ich es mit Maske tue.

Ansonsten: China meldet ein unerwartet hohes Wirtschaftswachstum im zweiten Quartal. Wegen Corona kommt es zu einem starken Einbruch bei der kommunalen Gewerbesteuer. Eine von russischen Geheimdiensten finanzierte Hackergruppe soll bei Cyberangriffen versucht haben, Erkenntnisse über mögliche Coronaimpfstoffe zu erbeuten. Nach vier Wochen Pause setzt Schlachtbetrieb Tönnies die Produktion wieder fort, achttausend Schweine werden in der ersten Schicht geschlachtet.

15. Juli | Geschichten vermeiden

Von Geschichten über Corona versuche ich das Schreiben fernzuhalten. Ich packe sie ins Ansonsten, man muss klicken und sich weiterleiten lassen, um die Geschichte zu erfahren, oft ist sie in englischer Sprache verfasst.

Ich halte mich von Coronageschichten fern, weil sie anekdotisch sind. Nein, eigentlich halte ich mich fern, weil sie mir nahegehen, viel näher, als wenn ich abstrakt über Zahlen, Studien oder Anfänge schreibe. Geschichten sind passiert, meistens nie so, wie sie erzählt werden und dennoch erreichen sie mich sofort.

Ein Amtsträger aus Florida, der mehrfach gegen die Maskenpflicht stimmte, erkrankt schwer an Corona und liegt auf der Intensivstation. Die Geschichte der religiösen Frau, die ihre vorerkrankte Tochter auf eine »Coronaparty« in ein kirchliches Zentrum mitnimmt, sie dort ansteckt, die Tochter erkrankt, stirbt. Der Amerikaner, der twittert, er werde niemals Masken tragen und einige Wochen später twittert jemand seine Todesanzeige. Der Amerikaner, der in Texas zu einer Coronaparty geht und später auf der Intensivstation der Krankenschwester sagt, er habe einen Fehler gemacht. Auch er stirbt.

Es sind Geschichten, an deren Ende man sagen müsste: Selbst schuld. Schadenfreude scheint eine mögliche Reaktion zu sein, so, wie wenn sich Jair Bolsonaro oder Boris Johnson infizieren. Ich kann keine Schadenfreude bei diesen Geschichten empfinden, keine Genugtuung. Sie lassen mich leer und ratlos zurück. In ihnen ist kein Sinn außer: Ein Vermeiden wäre möglich gewesen. Der Technokrat würde sagen: Zumindest ein Verlängern des Lebens durch ein Verschieben des Todeszeitpunktes, eine kalte Definition von Leben.

Ansonsten: Um für das Tragen von Masken zu werben, malt Banksy Ratten in eine Londoner U-Bahn. Die amerikanische Regierung fordert Krankenhäuser auf, ihre Daten nicht mehr an die örtlichen Gesundheitsbehörden, sondern ans Weiße Haus zu schicken. Nach Verstößen gegen die Coronaregeln schließt auf Mallorca der Ballermann wieder. Nach einem Streit über das Tragen einer Maske sticht ein Amerikaner auf einen anderen Amerikaner ein und wird daraufhin von der Polizei erschossen.

14. Juli | Von oben die Ferne

In Weimar steht ein Turm. Er ist 81 Meter hoch und wurde letzte Woche gebaut. Der Bürgermeister hat der höchsten mobilen Aussichtsplattform der Welt City Skyliner seinen Segen gegeben. Davor sitzen Menschen, sie trinken Cappuccino, Köstritzer Kirsche und Long Drinks. Später steigen sie in den Turm ein und fahren mit der mobilen Aussichtsplattform empor.

Sind sie oben, sehen sie auf Weimar. Sie sehen die Stadt, die einen Monat ohne Infektionen war und sehen nun drei Infizierte, sechzig in Quarantäne. Sie sehen Deutschland, sie sehen, wie Attila Hildmann die Reichsflagge schwenkt und Clemens Tönnies um Lohnkostenbeihilfe bittet. Sie sehen Europa und sehen, dass die Lage eine andere ist als im April.

Sie stellen fest, dass die Pandemie sich verlagert hat und dass von den Regionen, die den Anfang bestimmten, nur wenig noch zu hören ist und das Virus mittlerweile in viele Bereiche der Welt vorgedrungen ist. Sie sehen, wie das Virus in diesen Bereichen auf andere Umstände trifft und damit andere Situationen schafft; Indien, Südamerika, Russland. Sie sehen zweite Wellen in Israel und Südkorea, sie sehen ein virusfreies Neuseeland. Sie sehen, wie in Amerika die Lage außer Kontrolle geraten ist, wie sich täglich Infektionszahlen übertrumpfen und sie sehen nichts, was das ändern könnte.

Die Menschen auf der Aussichtsplattform sehen in die Labors – über hundert sind es – die schnellschnell nach Impfstoffen forschen. Die Menschen sehen ein rasches Verschwinden von Antikörpern. Sie sehen Studien, die Folgeschäden für Erkrankte und für jene mit milden Symptomen zeigen. Sie sehen die Untersuchungen, die ergeben, dass 5x-10x so viele Menschen wie laut offiziellen Zahlen schon infiziert sein könnten, die Hälfte ohne Symptome, ein weiteres Viertel mit milden Symptomen. Sie sehen Untersuchungen, die eine Zukunft der Welt entwerfen, in der das Virus ein dauerhafter Begleiter der Menschen bleiben wird.

Sie sehen, wie Ereignisse aufploppen und für mehrere Tage das Geschehen bestimmen, bevor diese zurückkehren in den ewigen Strom von Informationen: Hildmann, Tönnies, Aufhebung der Maskenpflicht, Mallorca.

Wenn die Menschen genug von der Welt und der Zeit gesehen haben, fahren sie den Turm hinab, mischen sich unter den Alltag, gehen ihrer Dinge nach. Sie haben in die Ferne gesehen und wissen: Es sind über den Daumen gepeilte Eindrücke, ein Aufschnappen hier und da, nichts, was Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Sie merken sich ihre Blicke, damit sie sich Sommer 2022 erinnern können, wie sie Sommer 2020 wahrnehmen wollten.

Ansonsten: Österreich hebt die Einreisebeschränkung für den Kreis Gütersloh auf. Eine Studie ergibt, dass die Menschen die Zeit während der ersten Coronawelle anders als sonst wahrgenommen haben; wer älter und unzufrieden war, für den verging die Zeit langsamer, wer jünger und zufriedener war, verspürte eher eine Beschleunigung. Weil der amerikanische Basketballspieler Richaun Holmes eine Essensbestellung entgegennimmt, muss er für zehn Tage in Quarantäne in ein Hotelzimmer in Disney World gehen. Die Punkband ZSK veröffentlicht einen Song über Christian Drosten, Titel: »Ich hab Besseres zu tun«.

13. Juli | Im Rückblick der Anfang

Eine zweite Nachbetrachtung zum Rückblick. Den ersten Eintrag in die Coronamonate las ich schon mehrmals. Er ist mir vertraut. Er ist der Anfang meines Schreibens. Ich lese ihn so genau, weil ich hoffe, dass sich in den Worten über den Anfang etwas, das später geschieht, erkennen lässt. Ich hoffe auf Prophezeiungen, Beobachtungen, die ich extrapolieren kann, bis in die Gegenwart, darüber hinaus. Der Anfang soll mir helfen zu verstehen.

Der Anfang ist eine Gegentat zur Normalität. Er legt Widerspruch dagegen ein, dass alles so bleibt, wie es ist. Indem der Anfang geschieht, beginnt das Neue. Vielmehr muss der Anfang nicht sagen. Nur: Ich bin der erste Schritt jenseits einer Grenze, von der du jetzt erst zu ahnen beginnst, dass sie existiert. Ich habe geahnt, deshalb habe ich zu schreiben begonnen.

Der Anfang ist ohne Schuld. Ich mache diese Zuschreibung, weil zum Zeitpunkt des Anfangs alle folgenden Irrtümer und Fehler noch nicht gemacht sind. Das folgende Schlechte, die Kette von Tragödien, die Katastrophen sind am Anfang ungeschehen. Sie sind vermeidbar. Am Anfang gäbe es noch die Möglichkeit, das Schlimme zu umgehen, zumindest gegenzusteuern.

In diesem Bild vom Anfang liegt Wut, weil das Schlimme dennoch geschah und jemand Verantwortung dafür tragen muss. In diesem Bild liegt Melancholie, weil das Geschehene unabänderlich ist. In diesem Bild liegt Furcht, weil ich nicht sicher sein kann, ob nicht genau dieser Moment ein weiterer Anfang ist, der Möglichkeit gäbe, das kommende Schlimme zu verhindern. Der Anfang ist vielleicht die Abschaffung der Maskenpflicht, vielleicht der Urlaub auf Mallorca, vielleicht der Besuch auf einer Gartenparty.

Jeder Moment ist ein Anfang und doch sind bestimmte Momente mehr Anfang als andere. Die Suche nach Patient Null ist eine der zentralen Aufgaben beim Verstehen von Epidemien. Sein Finden hilft Epidemiologen beim Begreifen und damit beim Besiegen. Um ans Ende zu kommen, muss man den Anfang kennen.

Der Mensch, mit dem alles begann, ist der Anfang. Eine Kleinigkeit nur – der erste Mensch isst nicht vom infizierten Tier, wird vom infizierten Tier nicht gebissen, dem ersten infizierten Menschen fällt ein Stein auf den Kopf, so dass er stirbt, bevor er den zweiten Menschen ansteckt – und die Pandemie wäre nicht geschehen, weil es das Virus nicht über den ersten Menschen hinaus geschafft hätte.

Ein Ereignis nur, das verhindert. Sind zwei Menschen angesteckt, braucht es schon zwei Ereignisse. Bei vier Menschen vier Ereignisse. Je öfter das Schlimme in der Welt ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es sich vermehren wird. Sich dagegen zu stemmen wird zu einem Kraftakt. Jeder weitere Tag vervielfacht die Stellen, an denen es auftritt, erfordert mehr Stärke, macht dessen Verschwinden unmöglicher.

Ich lese einen Artikel, er heißt »Wo alles begann«. Der Artikel schreibt über den Hunana Seafood Wholesale Market von Wuhan, er schreibt von Kamelfleisch, Pfauenfleisch, Bambusratten, Zibetkatzen, von Tieren, die lebend in gestapelten Käfigen auf Käuferinnen warten, von Blut, Urin und Sekreten, die sich vermischen, von faulen Tierkadavern. Der Artikel schreibt von Zwischenwirten, schreibt vom Wuhan Institute of Virology, der Labortheorie, von Genomsequenzen, die nicht mit den Viren aus den Fledermaushöhlen übereinstimmen. Der Artikel sucht nach dem Anfang.

Erst am Ende merke ich, dass der Artikel vom 7. Mai ist, über zwei Monate alt. Patient Null der Covid19-Pandemie ist seitdem immer noch nicht gefunden. Es wäre der Ursprung der Pandemie. Meinen Anfang habe ich gefunden. Er ist der 24. Februar. Er sagt nichts außer: Ich bin ein Anfang von vielen.

Ansonsten: Jens Spahn warnt: Wir müssen sehr aufpassen, dass der Ballermann kein zweites Ischgl wird. Auf der Plaça d’Espanya in Palma wird gegen die strenge Maskenpflicht demonstriert. Der Vorstandsvorsitzende des Weltärztebunds schlägt eine zweiwöchige Quarantäne für Mallorca-Urlauberinnen vor. In Berlin kam es nach Einschätzung von Justiz und Rechtsmedizin in den letzten Monaten zu einem deutlichen Anstieg an häuslichen Gewalttaten. 83 Millionäre fordern höhere Steuern für den Wiederaufbau nach Corona.
https://twitter.com/jimmisimpson/status/1282102554843742210

12. Juli | Im Rückblick der Irrtum

Beim gestrigen Wiederhineinlesen in den Februar stellte ich fest, dass mein Coronaschreiben mit einem Irrtum begann. Der Irrtum ist nicht komplett, aber erheblich. Ich nahm an, dass Gesichtsmasken weder mich noch andere schützen würden.

Der Irrtum beruhte aus dem Wissen der damaligen Tage. Ich konnte nicht wissen, was schützt. Also las ich mich ein. Was ich las, vermittelte mir Wissen. Ich nahm die Quersumme dieses Wissens und schlussfolgerte. Mit dem Wissen von heute kann ich sagen, dass ich damit falsch lag. Doch auch mein Wissen von heute ist keins, dass ich eigenständig überprüfte. Ich habe keine Studie gemacht, die nun beweist, dass Gesichtsmasken schützen. Mein heutiges Wissen ist erneut der Konsens dessen, was ich las.

Ich kann nicht sicher sein, dass ich in einem halben Jahr den gleichen Eintrag nicht erneut schreiben werde. Mein heutiges Wissen muss nicht zwangsläufig identisch sein mit meinem zukünftigen Wissen. Warum bin ich deshalb nicht beunruhigt?

Ich weiß, dass ich bei dem überwältigenden Teil alles Wissens auf andere angewiesen bin. Ich werde niemals eine Studie machen. Andere müssen sie für mich machen, andere müssen sie mir erklären. Ich kann hinterfragen, logisch denken, kritisieren, vergleichen. Aber letztlich muss ich den Wissensbeschafferinnen und vielmehr noch den Wissensvermittlerinnen vertrauen. Ich muss annehmen, dass sie redlich handeln, transparent, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen agieren. Erscheint mir etwas zweifelhaft, muss ich diesen Zweifeln nachgehen. Nicht immer werde ich das Zwielichtige klären können, ich werde im Ungewissen gelassen werden. Doch kann ich nachvollziehen, wie die Unzulänglichkeiten zustande kamen, kann ich verstehen, wieso mein aktuelles Wissen früherem Wissen überlegen ist.

Es ist eine Methode der Wissensaneignung, die fehleranfällig ist. Ständig werden Irrtümer geschehen, ich werde mich korrigieren müssen, ich werde enttäuscht sein. Die Alternative wäre, selbst Wissen zu erschaffen. Dann käme ich zu nichts anderem mehr. Oder mir kein Wissen anzulesen, weil ich keinem nicht selbst überprüften Wissen trauen könnte. Dann wäre ich sicher, weil ich nichts wissen würde. Es gäbe keinen Irrtum, ich hätte immer recht, ich wäre der einsamste Mensch der Welt.

Ansonsten: Während des Lockdowns stellt ein englisches Pflegeheim mit den Bewohnerinnen berühmte Albumcover nach: »Born In The USA«, »Aladdin Sane« oder »Queen II«. Wegen Corona wird die erste Hinrichtung in den USA seit siebzehn Jahren gestoppt. Um die Umsatzeinbrüche in der Coronakrise zu mildern, lässt die amerikanische Stadt Tenino eigenes Geld drucken. Disney World öffnet wieder seine Pforten und heißt die Gäste mit einem Video willkommen:

11. Juli | Die Maske als Bild

Ende Februar schrieb ich über die Maske als Bebilderung der Pandemie. Ich schrieb, dass Gesichtsmasken weder mich noch andere schützen würden, dass Schutz eine Illusion wäre. Meine Worte von damals klangen ein wenig stolz darauf, einem vermeintlichen Widerspruch auf die Schliche gekommen zu sein, dem Widerspruch zwischen Bild und Wirklichkeit.

Heute, 4 ½ Monate später, weiß ich es besser. Ein Widerspruch besteht weiterhin, wenn auch anders, als damals gedacht. Was bleibt, ist die Maske als Bild der Pandemie, das Meer, auf den alle Ströme zufließen, die Maske als Essenz dessen, was dieses Jahrzehnt bisher ausgemacht hat.

Nur würde ich heute, Stand Mitte Juli 2020, nicht die Maske als Bild nehmen, sondern eine Maske, die jemand unter die Nase gezogen hat; aus Unwissenheit, aus Bequemlichkeit, aus Trotz, aus Widerstandsfantasien, ein Bild, welches zeigt, dass Linderung vor der Nase liegt und dennoch meilenweit entfernt ist, ich müsste das Bild nicht erklären, es spräche für sich selbst, die Pandemie, in der die Maske unterhalb der Nase getragen wird.

Ansonsten: Hunderte Urlauber aus Deutschland feiern am Ballermann, ohne die in Spanien geltenden Coronaregeln einzuhalten, die wenigen Menschen, die Maske tragen, werden ausgelacht. In Spanien werden Coronainfizierte von den Regionalwahlen ausgeschlossen. Die Bundesregierung warnt vor Betrügern, die sich als Vertreter eines imaginären Bundesamts für Krisenschutz und Wirtschaftshilfe ausgeben und mit einem Foto von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier werben. Peter Altmaier nennt als Kriterium für ein Ende der Maskenpflicht im Einzelhandel den Rückgang der täglichen Neuinfektionen auf unter hundert.

10. Juli | Parlamentarische Bestuhlung

In den letzten Wochen haben sich mehrere Termine für das Sommerende gefunden, dann, wenn Veranstaltungen wieder erlaubt sein werden. Einige Termine finden mit »parlamentarischer Bestuhlung« statt, mit Tischen zwischen den Stühlen, die so Abstand zu den Vorder- und Hinterleuten gewährleisten. 15-25 Besucherinnen werden in normalgroßen Räumen möglich sein. Zu den Vorabgesprächen gehört auch eine Abstimmung des Hygieneplans dazu. Im Hinterkopf bei allen der Gedanke, dass die Planungen von heute trotz des sorgfältigen Einbeziehens von Alternativen jederzeit hinfällig werden können.

So wie Corona eine gigantische Zerstörerin ist, hat sie auch geschaffen. Neben dem Verstummen und dem Verzweifeln ein Aufbäumen, der Wille, dem Verschwinden etwas entgegenzusetzen. Geplantes geht verloren, anderes kann erst durch das Verlorengehen geschehen. Der Druck bleibt gleichmäßig groß. Auch wenn alles stehenzustehen scheint, ist das Strömen unablässig. Kraft verbraucht beides: Das Paddeln auf der Stelle und das hektische Mitreißenlassen.

Ansonsten: In Florida verkauft eine Familie Bleichmittel als Coronamedikament Miracle Mineral Solution und gründet dafür die fiktive Glaubensgemeinschaft Genesis II Kirche der Gesundheit und Heilung; mehrere Menschen sterben nach Einnahme des Bleichmittels. Chinesische Behörden warnen vor einer unbekannten, tödlichen Lungenentzündung in Kasachstan. Um in einem abgelegenen sibirischen Dorf die Quarantäne durchzusetzen, ziehen russischen Behörden einen Graben um das Dorf. Tönnies fordert wegen Quarantänemaßnahmen Lohnkosten von NRW zurück. Laut einer Umfrage befürworten 87 Prozent der Befragten eine Maskenpflicht beim Einkaufen.

9. Juli | Ausschuss

Jemand postet ein Video. Darin sitzen drei Männer vor Mikrofonen. Die Situation soll an eine Pressekonferenz erinnern. Die Bühne, das Licht, das Sprechen der Männer lässt erkennen, dass die Beteiligten über wenig professionelle Erfahrungen im medialen Darstellen verfügen. Diese Beobachtung ist unwichtig, für das Video zählt der Inhalt.

Das Video trägt den Namen Außerparlamentarischer Corona Untersuchungsausschuss. Initiator ist die Gruppe Ärzte für Aufklärung. Sie will untersuchen, »warum diese restriktiven Maßnahmen im Zuge von CoVid-19 über unser Land gekommen sind. Warum die Menschen jetzt leiden und ob es eine Verhältnismäßigkeit zu den drastischen Regierungsmaßnahmen gibt.«

Ich schaue das Video an, es dauert fünfundzwanzig Minuten. Mit einigen Punkten stimme ich überein (Einschränkung demokratischer Rechte, Darstellung von Zahlen, Verschieben von Operationen). Ansonsten bin ich größtenteils irritiert. Die Männer im Video sprechen darüber, dass das Virus nicht gefährlicher sei als das Grippevirus, Maskentragen nichts bringe, eine Zwangsimpfung bevorstehe. Die im Video genannten Informationen stehen im Gegensatz zu den Informationen, über die ich verfüge.

Ich weiß nicht, welche wissenschaftliche Relevanz die im Video genannten Informationen besitzen. Grundsätzlich bin ich auf Vermittlerinnen angewiesen, die Studien lesen können und ihre Kernaussage für mich, den Laien, herausstellen. Ich bin darauf angewiesen, dass sich bei aller Diskussion ein wissenschaftlicher Konsens ergibt, der gesellschaftlicher Konsens wird, nach dem ich handeln kann.

Ich bin ratlos, weil im Video der Konsens über die Bewertung der Pandemie ein anderer ist, als ich ihn in den letzten Monaten erfahren habe. Eigentlich bin ich nicht ratlos. Das Video liefert mir gute Hinweise, um was es ihm geht. Das Video raunt. Die drei Männer fragen mehrmals die Frage aller Rauner: »Cui Bono?«, wer profitiert.

Eine Antwort geben sie nicht, sie belassen es beim Raunen. Die Männer zitieren das Grundgesetz, die Stelle mit dem Recht auf Widerstand. Sie sprechen von drakonischen Maßnahmen, fragwürdigen Motiven, eklatantem Fehlverhalten, Verantwortungslosigkeit, verletzter Sorgfaltspflicht. Sie fordern eine drastische Veränderung der parteipolitisch geprägten Entscheidungsstrukturen.

Irgendwann verstehe ich: Das Video will eine Gegenöffentlichkeit herstellen. Es versucht sich in einer ähnlichen Optik (Pressekonferenz) und ähnlichem Wortgebrauch (Ausschuss). Das Video grenzt sich von »Lügnern, Scharlatanen und Verschwörungstheoretikern« ab. Dafür nennt das Video die akademischen Grade der Männer. Sie zeigen mir: Zu mir sprechen Ärzte, renommierte Sachverständige, seriöse Zeitgenossen. 2000 Ärzte haben sich der Bewegung mit einer Unterschrift angeschlossen, 2000 seriöse Ärzte. Das Video ist seriös, weil seine Sprecher und Fürsprecher es sind und damit auch deren Anliegen, das sagt mir dieses Video.

Die Pandemie ist da. Nicht darauf zu reagieren, bedeutet verheerende Folgen. Zu reagieren bedeutet, die Folgen zu mindern und zugleich andere Auswirkungen in Kauf zu nehmen. Einen dritten Weg gibt es nicht.

Das Video sagt: Es gibt diesen dritten Weg. Das Video sagt: Die Pandemie ist gar nicht da. Also kann es auch keine Folgen geben. Ich verstehe, warum das Video so auf die Gegenwart sehen möchte. Ich möchte gern auch so sehen.

Die Wahl zwischen 1 und 2 ist eine Wahl zwischen verheerend und weniger verheerend. Die Erkenntnis, dass die Gegenwart ist, wie sie ist, ist schwer zu ertragen. Die Erkenntnis ist: Die Gegenwart ist keine gute. Das Video kann die Gegenwart nicht ertragen. Also schließt es die Augen. Die Ärzte für Aufklärung schließen die Augen, ihr Ausschuss schließt die Augen, alle, die das Video bejahen, schließen die Augen. Sie wollen hören: Hier gibt es nichts zu sehen, während das Haus in Flammen stehen.

Derjenige, der das Video mehrfach postet, schreibt in seinem Post: »Einen Aluhut trage ich nicht, aber Fragen wirft das schon auf und deshalb bin ich weder ein Verschwörungstheoretiker, ein Rechter, ein Nazi oder ein irgendwie gearteter Extremist.« Ich unterstelle ihm nichts davon. Ich würde ihn gern fragen, ob er dieses Video für bare Münze nimmt. Aber ich traue mich nicht, weil ich fürchte, dass auch er sagen könnte: Ich schließe die Augen.

Ansonsten: Nach dem Wahlkampfauftritt Donald Trumps in Tulsa steigen dort die Infektionszahlen. Kurz nach Wiedereröffnung müssen mehrere Pubs in England wegen Coronainfektionen wieder schließen. Um die Virusausbreitung zu vermeiden, plant Tokio eine Prämienzahlung für die vorläufige Schließung von Nachtklubs. Die USA tritt aus der WHO aus. Weil in Brasilien Indigene doppelt so häufig an Covid-19 wie der Rest der Bevölkerung sterben, stoppt Jair Bolsonaro Corona-Maßnahmen in Indigenengebieten.

8. Juli | Corona als Mannequin

Ich fahre mit der Straßenbahn. Auf einem Display werden in schneller Folge Informationen aus dem Stadtgeschehen angezeigt. Eine Information verweist auf eine Kunstinstallation. Ich freue mich, dass Kunst in den exklusiven Reigen der Informationsvermittlung aufgenommen wurde.

Das Display informiert mich über die Aktion eines Künstlers. Der Künstler reist mit 111 Schaufensterpuppen durch das Land und stellt sie an öffentlichen Orten auf. Die Mannequins hat er mit Absperrband umwickelt. Damit will er die »die unüberwindbare Trennung, die das momentan eingeschränkte Leben und die Beschneidung der Grundrechte aller Menschen mit sich bringen« zeigen, »Eine vertraute Gemeinschaft wird aufgelöst in eine Herde aus Individuen, alle separiert, und ein jeder sich sehnend nach vertrauter Nähe.«

Ich denke, Schaufensterpuppen und Kunst, das ist eine Kunst, so wie sich die Macher der Rosenheim Cops Kunst vorstellen: der Künstler mit extravagantem Schal, etwas überkandidelt, nicht so bodenständig wie die geerdeten Rosenheim Cops. Dieser Rosenheimer Künstler nimmt Mannequins als Symbol fürs Menschsein und macht damit etwas; klebt Logos von großkapitalistischen Ausbeuterfabriken auf die Mannequinkörper, um auf großkapitalistische Ausbeuterfabriken zu verweisen, verschmiert Kunstblut auf den Mannequinkörpern, um Krieg zu kritisieren, lässt die Mannequins mit einem Selfiestick sich selbst fotografieren, um auf Narzissmus in sozialen Medien aufmerksam zu machen.

Hier umwickelt der Künstler die Mannequins mit rotweißem Absperrband. Ich schaue auf das Mannequin und ich verstehe sofort. Ich nicke das ab und denke: Genauso ist es. Da ist ein Absperrband, ich bin der Körper, ich bin isoliert. Ich schaue auf diese Kunst und ich verstehe sie sofort. Ich muss diesen einen Gedanken nicht weiterführen. Ich brauche keinen Widerspruch einlegen. Die Kunst strömt so sanft in mich wie ein harmloses Aerosol.

Ich überlege, was ich täte, wenn ich Künstler wäre und den gesamten Leipziger Augustplatz für meine Kunst zur Verfügung hätte. Würde ich ihn mit rotweißem Absperrband so absperren, dass für 24 Stunden weder Mensch noch Auto noch Straßenbahn auf den Platz kommen dürften? Würde ich nicht 111 Schaufensterpuppen auf den Platz stellen, sondern 9000 Mannequins, für jeden deutschen Coronatoten ein Mannequin? Oder 500000 Mannequins auf dem Leipziger Augustplatz, für jeden Coronatoten weltweit?

Würde ich eine Box aufbauen, eine Art Telefonzelle, in die man treten könnte und dann würde Luft hineingepustet werden, die mit dem Sars-CoV-2-Erreger kontaminiert wäre und wer einträte, würde nicht wissen, ob ich, der Künstler es ernst meinte mit der »Ansteckungsbox«, ob man wirklich Corona bekommen würde, wenn man sich der Kunst aussetzte oder ob es nur um die Vorstellung davon ginge oder eben gerade nicht, ob diese Unsicherheit die Kunst wäre oder die Ansteckung an sich.

Die Installation auf dem Augustplatz trägt den Namen It is like it is. Der Künstler reist damit durch die Republik, er hat die isolierten Schaufensterpuppen schon vor Tönnies Schlachtbetrieb aufgebaut, er wird mit seiner Kunst, die jeder versteht, bald in jeder Nähe sein.

Ansonsten: Der brasilianische Präsident infiziert sich mit dem Coronavirus und sagt: »Es ist wie Regen, irgendwann erwischt er dich.« Die bei seiner Verkündigung der Infektion anwesenden Journalisten müssen in Quarantäne gehen. Als erste Amtshandlung nach der Diagnose stoppt Jair Bolsonaro ein Hilfspaket für Indigene und Afrobrasilianer.

Wegen steigender Coronainfektionen werden im Iran bis auf Weiteres Hochzeitsfeiern und Trauerzeremonien verboten. Das Papa Giovanni XXIII-Krankenhaus in Bergamo feiert den ersten Tag ohne Coronapatienten auf der Intensivstation. Eine britische Studie verweist darauf, dass auch milde Verläufe von Covid19 zu bleibenden Gehirnschäden führen können.

7. Juli | Mein innerer Christian Drosten

In den vergangenen Tagen habe ich mich in nicht wenigen Situationen befunden, in denen mein innerer Christian Drosten die Hände über den Kopf zusammenschlug: drei Stunden in einem kleinen, unbelüfteten Radiostudio ohne Maske vor einem Mikrofon. Mehrere Stunden in Zügen, ohne die vor und hinter mir sitzenden Männer und Frauen, die keine Masken trugen oder unter der Nase oder am Kinn um einen korrekten Sitz ihrer Masken zu bitten. Eine Stunde beim Italiener, eng die Tische zusammengestellt. Zusammensein mit seit Ausbruch der Pandemie nicht mehr gesehenen Freunden aus anderen Clusterbereichen der Republik.

Lauter Situationen, die im April nicht denkbar schienen. Um ehrlich zu sein, ich zögerte kaum, mich hineinzugeben und es darin auszuhalten. Den Umständen entsprechend verhielt ich mich verantwortungsbewusst, die Umstände selbst waren es nicht.

Immerhin: Ich zögerte. Vor Eintritt in die jeweilige Situation war mir das Risiko bewusst. Ich schaute und wägte ab und stieß mich hinein. Ich wollte dort sein, das war ausschlaggebend, nicht die Pandemie.

Aber ich zögerte, auch, als mir ein Mann mit Backenbart schwer schnaufend auf dem als Einbahnstraße ausgewiesenen Weg in einem Einkaufszentrum entgegenkam und ich entscheiden musste, ob ich hektisch beiseite springe oder ob wir eng aneinander vorbeigehen, unsere Atemströme für einen Moment auf derselben Welle. Ich wägte ab, als eine Tür aufging und jemand heraustrat, während ich gleichzeitig eintreten wollte. Ich stand unschlüssig, als mir eine Bekannte ein kurzes Gespräch auf der Straße anbot.

Mein innerer Drosten hält mich von Umarmungen ab, von Wangenküssen sowieso, vom Händeschütteln. Beim ganzen großen Rest allerdings kann er momentan nur traurig enttäuscht die Schultern zucken, während ich mich durch einen Sommer bewege, der Gefahren birgt, denen ich mich leidenschaftslos und schuldbewusst aussetze.

Ansonsten: Entgegen der Ankündigung mehrerer Ministerpräsidenten wird die Maskenpflicht bundesweit nicht aufgehoben. Nachdem in Frankreich ein Busfahrer mehrere Gäste auf die Notwendigkeit des Maskentragens während der Fahrt hinweist, prügeln die Gäste ihn tot. Weil wegen Corona mehr Menschen zuhause bleiben und in heimischen Gewässern baden werden, befürchtet die DLRG mehr Badeunfälle. Laut einer Umfrage leidet ein Drittel der japanischen Ärztinnen, Krankenschwestern und anderen Mitarbeiterinnen wegen Corona unter depressiver Stimmung. Weil die Quarantänezentren voll sind, schränkt Neuseeland internationale Flüge ein. Das Buch »Corona Fehlalarm?« von Sucharit Bhakdi ist auf Platz 1 der Sachbuch-Bestseller-Liste.

6. Juli | Planet Corona

Befreiend, drei Tage lang nicht über Corona schreiben zu können und damit zu müssen. Fast so, als wäre die Pandemie eine Sache wie beispielsweise die Denkmalstürze: interessant, weil sich daran viele Aspekte von Gesellschaft, Geschichte und Gegenwart diskutieren lassen, aber auch die Möglichkeit, das Thema komplett auszublenden, geradeso, als könnte ich selbst bestimmen, welchen Teil der Welt ich an mich heranlasse und an welche Teile ich nur bei Bedarf heranfliege, mich wie auf kleinen Planeten niederlasse und dort stöbere und entdecke und wenn ich genug habe, steige ich in mein Raumschiff und fliege weiter, bis der nächste farbenfrohe Pulsar mich lockt. So, als wäre die Pandemie eine Station unter vielen und nicht mein Flug.

Von allem, was in den letzten drei Tagen auf dem Coronaplaneten geschah, kenne ich nur Bruchstücke und kein einziges Bruchstück wird den Weg ins Ansonsten finden. Lese ich in zehn Jahren in diesen Monaten, wird es sein, als sei an diesem ersten Juliwochenende nichts geschehen; keine Zahlen, keine Infektionen, keine Aufreger, keine Massenveranstaltungen, keine Widersprüche, keine Toten, der Flug war friedlich, der Planet Corona Idyll.

Ansonsten: –

3. Juli | Schmach der Maske

Manche Gespräche über Corona enden mit dem Ausruf: »Ich will diese verdammte Maske einfach nicht im Gesicht haben.«

Ich argumentiere: solidarischer Akt, fünfzehn Minuten am Tag wird das wohl möglich sein, Schutz ist in mehreren Studien nachgewiesen etc. Aber der Satz steht. ICH WILL DIE VERDAMMTE MASKE NICHT IM GESICHT HABEN

Die Maske ist aus Stoff und der Stoff sitzt auf der Haut, drückt dagegen, spannt. Die Maske reibt sich selbst unter der Nase. Sie ist eine penetrante Begleiterin. Anders als der Sicherheitsgurt im Auto, der ebenfalls schützt und dabei auf den Körper drückt, lässt sich die Maske beim Tragen nicht vergessen. Ich spüren ihren Stoff auf meinen Lippen, atme den Geruch des Stoffes, schmecke den Stoff, spüre einschneidend die Gummibändchen, die Maskenränder schieben sich in mein Gesichtsfeld. Mehr noch: Ich muss entgegen meiner Überzeugung, dass die Maske sinnvoll ist, die Maske aktiv über mich legen, mich damit bedecken, muss mich dahinter verstecken.

Mit Maske kann ich der Welt nicht mutig oder verächtlich entgegentreten. Ich ducke mich hinter einem lächerlichen, weil unnützen Stück Stoff weg. Indem ich die Maske zeige, zeige ich jedem meine Konformität, ich, der eigenbestimmt über sein Leben entscheidet. Mit Maske gebe ich mich zu erkennen als jemand, der Autoritäten folgt. Dabei misstraue ich ihnen. Das lässt die Schmach des Maskentragens doppelt schwer wiegen: die Maske als Stigma und meine Schwäche, mich ihrer zu entledigen. Die Maske ordnet mich ein, sie zeigt jedem an, wo ich vermeintlich stehe, obwohl meine Geisteshaltung eine andere ist.

»Merkel-Burka« wird die Maske von wenigen genannt. Darin schwingen zwei als solche empfundene Schmähungen mit, zwei Worte, die in Verbindung mit Frauen gebracht werden, einmal die Herrschaft, einmal die Unterwerfung. Für jene, die diese Wortkonstruktion verwenden, muss die Coronamaske die beschämende Verbindung von beiden sein, verkörpert die Maske eine doppelte Unterordnung, eine Degradierung.

Im Gegensatz zu Gesetzen, zu Politikerinnenreden, zu Talkshowdiskussionen, zu wissenschaftlichen Studien und Newstickern ist die Maske etwas, das konkret ist. Die Maske ist konkret und konkret ist sie an mir dran. Ich kann sie greifen, sie greift mich an, wirkt auf vier von fünf meiner Sinnesorgane unmittelbar ein, behindert dabei mein Empfinden. Sie schränkt mich ein. Die Maske macht die Pandemie, die ich nur von Hörensagen kenne, wirklich. Sie ist die unmittelbarste Verdinglichung der fernen Pandemie. Sie ist das Form gewordene Absolute, mit dem Corona die Welt geißelt.

Ich teile diese Sätze nicht, habe diese Gefühle in überwältigender Mehrzahl nicht. Ich weiß, dass ich zuspitze und dass niemand, der die Maske ungern trägt (ich z.B.), alle Sätze genau so schreiben würde, bestenfalls in Ausschnitten. Aber durch den Satz ICH WILL DIE VERDAMMTE MASKE NICHT IM GESICHT HABEN sehe ich auf diese Weise darauf, es hilft, dieses Sehen auf den Kern allen Unwohlseins.

Ansonsten: Laut einer Studie über die Ausbreitung von Aerosolen beim Singen sollte in Chören ein Abstand von zweieinhalb Meter zum Vordermann eingehalten werden. Elon Musk will Minifabriken zur Herstellung eines Coronaimpfstoffes bauen. Haustiere, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben, müssen den Behörden gemeldet werden. Nach dem Ausschlag im April hat sich die Zahl der Sterbefälle in Deutschland wieder normalisiert. An der Universität von Alabama sollen sich Studenten zu Coronapartys verabredet haben; Wer sich zuerst ansteckt, gewinnt. Laut des Sprechers des Zweirad-Industrie-Verbands war Mai der stärkste Monat, den die Branche jemals erlebt habe. [Die kommenden Tage bleibt es hier still, weiter geht es nächste Woche]

2. Juli | Allheilmittel

Gestern die Nachricht, dass die amerikanische Regierung so gut wie alle Vorräte Remdesivir aufgekauft hat. Remdesivir ist die momentan erfolgsversprechendste Arznei gegen Covid19, da es die Genesungszeit um mehrere Tage verkürzen soll. Dieses Beispiel zeigt gut, wie der Markt alles regelt, besonders für jene, die es sich leisten können.

Jedenfalls die Frage: Was passiert eigentlich, wenn es ein echtes Heilmittel geben wird? Eines, das entweder Erkrankte heilt, oder, besser noch, wie sonstige Impfungen präventiv wirkt? In Contagion bringen am Ende der Geschichte Armeefahrzeuge das wertvolle Serum in festungsähnlich gesicherte Gebäude, die Ampullen liegen wie Diamanten in kleinen Köfferchen, betonen so die Kostbarkeit der lebensrettenden Objekte. Wie wird das in der realen Welt vonstattengehen, mit der man zwangsläufig auskommen muss?

Angenommen, es wird einmal dieses eine Allheilmittel geben und keinen Medikamentencocktail, keinen Wettstreit zwischen zehn Impfstoffen, unter denen man wie beim Handytarif individuell den am besten geeigneten wählen muss. Und wenn es dieses Mittel gibt, dann wird es nicht für acht Milliarden zur Verfügung stehen, ganz sicher nicht von Anfang an.

Die Impfstoffproduktion wird anlaufen, Chargen werden hergestellt und es muss entschieden werden, wer zuerst geschützt sein darf. Wer entscheidet darüber, wonach wird entschieden? Entscheidet der Markt und damit die Teilnehmer mit dem meisten Geld? Wird nach dem Produktionsort des Medikaments entschieden? Nach Nationalität? Nach Mitgliedschaft in Staatsverbünden? Wird geklüngelt?

Und wenn das Serum im Land ist, wer bekommt das Vorrecht auf die ersten Impfungen? Geht es nach Systemrelevanz? Wie wird sich diese definieren? Werden Ärztinnen zuerst geimpft, Altenpflegerinnen, Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen, Supermarktverkäuferinnen, Fußballer? Politikerinnen und falls ja, bis zur welchen Ebene hinab? Wird es eine Impfstofflotterie geben, so, wie die USA damals die Einzugsbefehle im Vietnamkrieg auslosten? Wird man den Impfstoff kaufen können, auch auf dunklen Wegen?

Von wem wird die Verteilung wie diskutiert werden? Wie werden Coronaskeptiker auf die Nachricht reagieren, dass sie geschützt sein könnten vor dem Virus? Wie die klassischen Impfgegner? Wird man es ihnen gönnen?

Und wenn alle geimpft sind, wie wird sich das Impfen in den Alltag einfügen? Werden alle heute noch nicht geborenen Kinder bei der U5 neben Tetanus zukünftig auch gegen Covid geimpft werden? Wird man die Covidimpfung einmal jährlich auffrischen lassen können? Wird es ähnlich wie beim Grippevirus sein und werden sich jährlich Experten treffen, um den kommenden Covidvirenstamm zu vermuten und so ein jährlich wechselndes Serum entwickeln? Wer wird sich dann jährlich impfen lassen? Und, falls nur wie bei FSME alle drei bis fünf Jahre eine Auffrischung nötig ist, wer wird sich alle drei bis fünf Jahre daran erinnern? Wird, weil für 85% aller das Virus keine Gefahr darstellt, Corona vergessen sein, die Covid19-Impfung optional?

So oder so wird die Sache mit der Impfstoffverteilung eines der späteren Coronakapitel sein, Sommer 2021 wird es geschrieben werden, möglicherweise später, und es wird eine Menge erzählen über die Welt, die Menschen, ihre Gesellschaft.

Ansonsten: Seit gestern gilt der ermäßigte Mehrwertsteuersatz. Laut WHO wurden sechzig Prozent aller Covid19-Fälle erst im letzten Monat gemeldet. Nach einem Vierteljahr Quarantäne in einem Schloss in Brandenburg kann ein Orchester aus Bolivien nun die Heimreise antreten. Die Bundesregierung verlängert den Corona-Kündigungsschutz nicht. Aufgrund weniger Autogeräusche während des Lockdowns sinkt in Großbritannien die Singlautstärke von Vögeln um die Hälfte. Wer zu früh lockert, hilft dem Coronavirus.

1. Juli | Bleiche

Seit Mai brutzelt die Sonne auf die Plakatwand vor dem Lichthauskino, wo seit Mai dieselben sieben Plakate hängen: Systemsprenger. Kein Saal wurde seit März bespielt, Tenet, die große Sommerblockbusterhoffnung, immer wieder verschoben. Auf den überstrahlten Plakaten ist aus dem Gesicht Helena Zengels alle Farbe verschwunden, hat sich das aggressive Rosa zu leerem Weiß gewandelt, ist die Metapher Corona=Systemsprenger verblichen. Ab morgen läuft wieder ein Programm, es setzt den März fort.

Ansonsten: Die Rekordwärme in Sibirien löst Waldbrände in Torfgebieten aus. Die chinesische Partei lässt in Internierungslagern Frauen der Uiguren sterilisieren. In Ostafrika, Südamerika und Indien zerstören Heuschreckenschwärme die Ernten. In Deutschland erzeugen erneuerbare Energien im ersten Halbjahr mehr als die Hälfte des Stroms.

30. Juni | Rote Punkte

Die Zukunft wird viele Farben haben. Eine wird rot sein, rot wie die Punkte, die auf der Landkarte aufpoppen werden und daneben werden Städtenamen stehen, die wir alle tagelang lustvoll schaudernd als Synonym für Unbedachtsamkeit verwenden werden, weil dort das Virus ausbrach, in Fabriken, in Wohnblöcken, in Schulen, Göttingen, Gütersloh, Magdeburg.

Die roten Punkte und die temporär ins Bewusstsein des Landes rückenden, mittelgroßen Städte werden uns begleiten, bis ein Impfstoff gefunden sein wird. 365 Tage lang Detmold, Wernigerode, Erlangen.

Vielleicht auch Weimar. Weimar, das seit fast einem Monat keine neue Infektion hatte, keinen Todesfall bisher, insgesamt 69 ehemalige Infizierte, in den umliegenden Kreisen sind die Zahlen ähnlich, in ganz Thüringen etwa ein Zehntel der Infizierten wie in Schlachterei Tönnies. Weimar, das als eine der ersten Städte die Gastronomie wieder öffnete, Weimar, das so gut wie keine Erfahrung mit dem Virus gemacht hat, Weimar, das ein sicherer Ort war und sich deshalb in Sicherheit wiegt, Weimar, eine Gegenwelt zu den sich täglich übertrumpfenden globalen Zahlen.

Ist davon auszugehen, dass dies zu bleibt? Dass keine Touristin aus Göttingen, Gütersloh, Magdeburg fünfzehn Minuten am Grill mit dem Rostbratwurstverkäufer steht, dass das Virus weiterhin einen Bogen schlägt um die Ilm? Und was, wenn Weimar trotz der sicheren vier Monate einmal ein roter Punkt sein wird, wenn Freunde und Verwandte besorgt anrufen und fragen: »Hats Euch auch erwischt?«, wenn die Bundeswehr Massentests auf dem Stéphane-Hessel-Platz vor dem Bauhaus-Museum macht? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit dafür? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Bilder ausbleiben?

Ansonsten: Aufgrund steigender Infektionszahlen schottet die britische Regierung Leicester ab. Am New Yorker Broadway werden alle Vorstellungen für den Rest des Jahres abgesagt. Die isländische Regierung rät ihren Einwohnern, gegen Berührungsmangel und Einsamkeit in Coronazeiten Bäume zu umarmen.

https://twitter.com/baum_glueck/status/1277497899056795648

29. Juni | Ischgl. Das Unglück der 15 Prozent

Vor drei Monaten schaue ich eine Dokumentation über Ischgl. Die Dokumentation zeigt ein Dorf, das vom Wintersport nicht nur lebt, sondern sich komplett darin verloren hat. Im Zentrum steht die Seilbahn, die wichtigsten Männer des Dorfes verdienen daran, sie entscheiden im Gemeinderat über das Wohl des Dorfes, Seilbahnprofiteure ausschließlich. Die Dokumentation zeigt die Feiernden, sie zeigt das Saufen, sie zeigt die Selbstverständlichkeit, mit der Après-Ski die Welt um sich herum vereinnahmt. Wenn die Hölle gefriert, sieht sie aus wie Ischgl im Winter. Weil die Doku das zeigt, zeigt sie, weshalb das Virus alle Freiheiten genoss und von hier aus europaweit durchstarten konnte.

Vorgestern lese ich einen Text über Ischgl. Dort steht, dass bei über vierzig Prozent der Bewohnerinnen Antikörper vorhanden sind, sie sich mit dem Virus infizierten. Von diesen vierzig Prozent haben 85% keine Symptome gezeigt. Das Virus hat ihnen nicht nur nicht geschadet; sie haben es nicht einmal bemerkt.

Letztere Zahl ist nicht erstaunlich. Sie bestätigt, was von Anfang an Wissen war: Die überwiegende Mehrzahl hat vor SARS-CoV-2 nichts zu befürchten. Es sind glückliche 85 Prozent. Und inwieweit sie bereit sind, das Unglück der 15% zu mindern, ist eine der Grundfragen der Pandemie, von Beginn an war sie das.

Später erzähle ich in größerer Runde von diesem Zahlen. »Interessant«, ist eine Antwort, »Aber müsste man dann nicht noch mal über die Gefährlichkeit des Virus nachdenken? Was ist denn mit denen, die Herzinfarkte oder Krebs bekommen? Wo ist die Solidarität mit denen?«

Ich weiß, was ich darauf zu sagen habe, nenne auch einige der argumentativen Entgegnungen. Dennoch beschäftigt mich der Gedanke, diese Frage nach den 15% der Unglücklichen bei jeder Sache, länger, vielleicht, als sie das sollte. Oder nicht.

Ansonsten: Österreich führt verpflichtende Coronatests für Reisende aus Gütersloh ein. In Indien werden 10000 Betten aus Kartons in Krankenhäusern aufgestellt. Die Zahl der Coronatoten übersteigt die halbe Million. Reportage: Aus dem Inneren einer Corona-Klinik.

27. Juni | Chimäre / Bahnfahren II

Eine Ergänzung zur gestrigen Bahngeschichte. Die überwältigende Mehrheit der Passagiere trägt Masken. Auch so, dass diese ihren Zweck erfüllen. Vielleicht 1/10, besser 1/20 der Mitfahrer haben die Maske unter die Nase gezogen, haben sie übers Kinn gestülpt, tragen keine Maske. Die, absolut subjektive, Beobachtung aus etwa zehn Bahnfahrten: Es sind ausschließlich Männer, die Masken auf diese Weise oder nicht tragen.

Mir ist diese Beobachtung unangenehm. Lieber hätte ich sie nicht gemacht. Sie weckt ungute Gefühle in mir, ich bin versucht, von hasserfüllter Abneigung zu schreiben. Ich starre die Männer an, sie fallen mir auf, sie wecken Emotionen. Ich finde diese Männer asozial, unsolidarisch. Sie bedrohen meine Gesundheit, die von anderen, sie stellen im öffentlichen Raum Eigennutz über Gemeindewohl.

Deshalb ordne ich sie ein; unter den wenigen sind es nicht selten Hundebesitzer und Rennradfahrer. Ich suche das Abteil nach diesen Männern ab, scanne den Sitz von Masken auf Gesichtern. Ich kontrolliere. Es ist ein spießiges Verhalten, linientreu, konformistisch, dogmatisch. Ich kacke Korinthen damit. Ich kenne dieses Gefühl von dem Tag an, als Masken verpflichtend wurden (siehe Eintrag 1. Mai) und seither kann ich nicht damit umgehen, mit dieser Verwandlung in eine Chimäre aus Kontrolleur und Gemeindewohlschützer.

Ich bin erleichtert, wenn die Männer ihren Hund oder ihr Fahrrad nehmen und aussteigen, wenn die Chimäre mit ihnen zusammen am Haltepunkt zurückbleibt.

Ansonsten: Nach dem Coronaausbruch bei Schlachterei Tönnies gibt es kaum Anzeichen für eine Virusübertragung auf die Einwohnerinnen des Landkreises. Ab 1. Juli muss die Fleischindustrie in NRW Beschäftigte auf eigene Kosten mindestens zweimal pro Woche testen lassen. Laut einer Umfrage sprechen sich 82 Prozent der Bewohnerinnen des Corona-Hot-Spots Ischgl dafür aus, dass Après-Ski zukünftig qualitäts- und maßvoller werden sollte.

26. Juni | Die Leihgabe

Im Zug nach Gotha hält jeder Abstand. Jede sitzt für sich, trägt Schutzmaske. Nur einer nicht. Der Mann auf dem Doppelsitz über den Gang hinweg fährt schutzmaskenlos. Er zieht sein beiges Shirt über die Nase, drückt dabei das Kinn auf die Brust, es sieht ungelenk aus, anstrengend, krank.

Eine Gruppe von vier Seniorinnen, die sich auf acht Plätze verteilen, werden auf ihn aufmerksam. Eine der älteren Damen schaut zum Mann. »Möchten Sie eine Maske?«, fragt sie, »ich hätt noch eine.«

Noch bevor er antworten kann, kramt sie schon eine hervor. »Ja«, sagt der Mann und fügt hinzu, dass er seine vergessen habe, keine böse Absicht sei das gewesen. »Ist mir auch schon passiert«, sagt die Frau und reicht ihm die Maske.

»Kann ich nehmen?«, fragt der Mann. Die Frau nickt. Er bietet Geld an, sie lehnt ab. Dann erzählt sie ihrer Gruppe, wie sie einmal ihre Maske vergaß und auf halbem Weg zum Supermarkt umkehrte, woraufhin jede der Senioren eine Maskengeschichte mit den anderen teilt.

Währenddessen zieht der Mann die geborgte Schutzmaske über das Gesicht. Er prüft den Sitz und schaut aus dem Fenster. »Ist Maske nass«, sagt er und dreht sich zur Seniorin hin. Sie reagiert nicht, sie ist in Gespräche vertieft.

»Die Maske ist nass«, sagt er dann. Er stellt fest. Mutmaßt, woher diese Nässe kommen könnte. Schiebt die Maske unters Kinn, fährt so weiter bis Seebergen.

Ansonsten: Auch der Trainer von Novak Djokovic gibt bekannt, dass er sich auf dem von Novak Djokovic initiierten Tennisturnier mit dem Coronavirus angesteckt hat. Für den Mittwoch wird in den USA eine Infektionshöchstzahl vermeldet, um fast fünfzig Prozent sind dort in zwei Wochen die Infektionen gestiegen. Nach Panikkäufen wegen des erneuten Ausbruchs rationieren in Melbourne Supermärkte den Verkauf von Toilettenpapier. Papst Franziskus verschenkt an stark von Corona betroffene Länder 35 Beatmungsgeräte. Die Bundesregierung verschickt an die wegen Corona aus dem Ausland zurückgeholten deutschen Touristen Rechnungen, die Preise liegen zwischen 200 bis 1000€.

25. Juni | Raunen / 180000 II

Ich lese den gestrigen Eintrag erneut. Mir fällt auf, dass ich im vorletzten Absatz etwas tue, was ich oft tue: Ich raune. Ich raune von einer Gefahr, ahne eine Verschlechterung der Situation voraus, gehe davon aus, dass von mehreren möglichen Wegen jener eingeschlagen werden wird, der näher an den Abgrund führt.

So schreibe ich an einigen Stellen in den Monaten, mich stört das selbst. Warum tue ich dies? Um, wie alle Pessimisten, die Enttäuschung gering zu halten? Tritt das Schlimme ein (2. Welle, erneuter Lockdown, überfüllte Intensivstationen, Mutationen), werde ich nicht überrascht sein. Tritt das Schlimme nicht ein, umso besser.

Aus den Graphen, den Mutmaßungen der Expertinnen, den Ableitungen der Wissenschaftlerinnen lese ich nicht das Entspannende heraus. Ich lese die Bedrohung. Ich nehme mir jene Zahlen, die Erkenntnisse aus vergangenen Pandemien, welche mein Bild schwarz malen.

Dabei muss ich hinterfragen. Ich muss die schon mehrfach erwähnten 180000 Neuinfektionen hinterfragen. Sie sind ein Symbol für eine Pandemie, die im vollen Gang ist und keine, die in die Sommerpause geht, damit wir an die Strände reisen können. Die Zahl sagt: Das Schlimme tritt weiterhin ein. Es gönnt uns keine Verschnaufpause.

Was sagt die Zahl 180000? Sie sagt, sie ist zu klein, denn viel mehr Neuinfektionen wird es an diesem Tag gegeben haben, Infektionen ohne Symptome, ohne Tests, an Orten, wo nicht gemessen oder übermittelt wird. Sie sagt mir auch nicht mit Sicherheit, dass sie den Tag mit den höchsten Infektionen abbildet. Sie sagt, schon im März, am Anfang der Pandemie, als es kaum Tests gab, kann sie wesentlich höher gelegen haben, man wird es nicht mehr in Erfahrung bringen können.

Ich weiß es nicht. Die Zahl ist zweifelhaft. Dennoch muss ich die 180000 hinnehmen. Ich brauche 180000 für das Bild, das ich mir von der Lage mache, für meinen Blick, meine Geschichte, die ich mir erzähle. Die Zahl bestätigt meine Vorahnung. Sie ist unzuverlässig und wesentlich verlässlicher als jeder Telegramm-Kanal, jeder Leserbrief in einer Regionalzeitung, der mutmaßt, dass es keine zweite Welle geben wird, jedes geraunte Kommentar eines Mitmenschen.

Im Grunde – und das weiß ich selbst am besten – suche ich wie alle einen sicheren Zufluchtsort für den Herbst, eine Insel in einem großen See, die nur mit einem Ruderboot erreichbar ist, eine Hütte steht dort, in der sich ein Jahr aushalten ließe, ein Jahr gegen den Strich, ohne die Welt, bis der Impfstoff kommt auf das Wasser schauen, die glatten Spiegelflächen.

Ansonsten: Der amerikanische Präsident streicht Gelder für mehrere Coronateststationen. Mit 35000 Neuinfektionen verzeichnen die USA den dritthöchsten Tageswert seit Pandemiebeginn, immer mehr Infektionen finden sich in republikanisch geführten Staaten. Bei Temperaturen um 30 Grad (und damit 8 Grad kälter als in Sibirien) drängen tausende Britinnen an die Strände. Die Vereinten Nationen warnen aufgrund von wirtschaftlich bedingten Kürzungen bei Drogenprävention vor einem Anstieg des weltweiten Drogenkonsums. Nobelpreisträger warnen vor Corona als Gefahr für die Demokratie. Kanzleramtschef Braun warnt vor Sorglosigkeit. 17 Mitarbeiter einer Dönerfabrik in Moers werden positiv getestet.

24. Juni | Einfügen

Der 24. eines jeden Monats. Rückblick. Vier Monate Coronamonate, ein Drittel Jahr Pandemie. Was gibt es noch zu sagen?

Es fühlt sich nun altbacken an, über Corona zu schreiben, so, wie heute in High Fidelity über Nick Hornbys Begeisterung für Cheers zu lesen; etwas, das von Wichtigkeit war, nun aus der Zeit gefallen ist, so, wie alles einmal aus der Zeit fallen wird. Corona ist da, es hegt die Tage ein, wie das Wetter, Verkehrsfunk und neu gestreamte Filme mich einhegen. Ich hinterfrage nicht deren Anwesenheit. Diese Dinge sind eben da, sind eine Konstante, an deren Existenz es nichts zu rütteln und zu ändern gibt. Nicht einmal ein Abfinden und Ertragen ist es mehr, es ist wie das Blau des Himmels und das Grau der Asphaltstraßen und dass die Preise der Eiskugeln in Weimar jedes Jahr um zehn Cent steigen.

So fasse ich auch die Nachrichten dazu auf; ein routiniertes Abarbeiten, weder von Sorge noch Lust geprägt, einen Reißschluss zieht man hoch, wenn man Kleidung trägt, die ersten drei Einträge des Coronanewstickers überfliegt man eben. So ist Juni 2020, kein Empören und Verstecken und Befürchten. Corona fügt sich ein, ich arbeite es ein in den Alltag, denke es leidenschaftslos mit. Ich mache kein Aufheben darum, so, wie ich nicht ausstelle, dass ich in ein Toastbrot beiße oder Schuhe anziehe. Darüber schreibe ich nicht. Warum sollte ich auch? Jeder tut diese Dinge.

Deshalb die Frage: Warum das Aufheben um Corona? Warum darüber schreiben, wenn es nicht mehr erwähnenswert ist, wenn Corona längst Teil der Normalität geworden ist? Das wenige Empörungsflackern wird erfahren abgehandelt, es reißt kurz aus dem Trott, in dem ich nach wenigen Stunden schon zurückfalle. Alle Witze sind gemacht, alle Elbowbumps ausgetauscht, alle Standpunkte diskutiert.

Und dann ist da die Zahl 180000, sind die deutschen Schlachtbetriebe, die nach und nach als rote Coronapunkte auf der Karte aufploppen, sind die Urlauberinnen, die sich in den nächsten Wochen müde, matt und vorfreudig in alle Freizeitressorts des Landes ergießen werden, ist der Drostenpodcast, der für diesen Sommer aussetzen wird, nicht ohne einen Cliffhanger anzubieten, der schon mehrmals angeteast wurde, das leise, gleichmäßige Verbreiten des Virus, das dann im Herbst in vielen Orten zugleich zurückkehren kann und, falls es das tut, auf eine murrende, keine Bedrohung erfahren habende Bevölkerung treffen könnte.

Ansonsten: Aus Wut über Maskenpflicht leckt ein Mann im fränkischen Treuchtlingen Einkaufswagen und Mülleimer ab. Eine Woche nach Einführung der Coronaapp werden erstmals Nutzerinnen alarmiert, sich in der Nähe von infizierten Personen aufgehalten zu haben. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Laschet wirbt für Aufnahme von Urlaubern aus NRW und bittet darum, diese willkommen zu heißen. In Barcelona spielen vier Musikerinnen Puccinis Crisantemi vor Pflanzen.

23. Juni | 180000

Kein Satz für Ansonsten: Laut WHO wurden am 21. Juni mit rund 180000 Fällen so viele Neuinfektionen an einem Tag gemeldet wie nie zuvor.

Ansonsten: Nach dem Coronaausbruch beim Fleischfabrikanten Tönnies mit bislang 1500 Infektionen ordnet Ministerpräsident Laschet den Güterslohlockdown an. In Heringsdorf auf Usedom wird ein Ehepaar aus dem Landkreis Gütersloh des Urlaubs verwiesen. Reisende aus dem Kreis Gütersloh müssen in Schleswig-Holstein künftig in vierzehn Tage in Quarantäne gehen. Novak Djokovic gibt bekannt, dass er sich auf dem von ihm initiierten Tennisturnier mit dem Coronavirus angesteckt hat.

22. Juni | Karte und Gebiet

Ich betrachte eine Karte von Deutschland. Es gibt unzählige Deutschlandkarten, jede erzählt mir etwas anderes über dieses Stück Land. Ich könnte nach der Topographie schauen, nach Einkommensverteilung, nach Konfessionen, nach Kinodichte. Ich schaue nach dem aktuellen Stand der Infektionen.

Der aktuelle Stand ist vom 22. Juni, 0:00 Uhr. Deutschland ist zartblau und elfenbeingrau. An einer Stelle, dort, wo beim Menschen die Lunge wäre, strahlt Deutschland robertkochrot. Gütersloh, das Tönniesvirus. Der Landkreis daneben klagt dunkelblau, ebenso Göttingen, 30,1-50 Neuinfizierte auf hunderttausend Einwohnerinnen bedeutet dies.

Thüringen ist größtenteils hell, nur den Rändern zeigen sich matte Blautöne. Weimar, Weimarer Land bleibt weiterhin bei Null, auch das Umland ist ohne Virus. Ich versuche diese Information in Einklang zu bringen mit den Zahlen von Brasilien und Mexiko, den zweiten Wellen in Südkorea und Israel, der von TikTok-Teenagern gekaperten Trumprally von Tulsa, den ansteigenden Kurven in den republikanischen Bundesstaaten, selbst in Verbindung zu setzen mit den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Stuttgart, diesem Zivilisationsbruch der coronamüden Stuttgarter Partyszene.

Weimar ist ein Gebiet auf dieser Karte und weiterhin das, was es seit Anfang der Pandemie war: kein Hot Spot. Weitesgehend sicher. Vielleicht gehe ich deshalb auch zum ersten Mal seit dem Ausbruch zu einer Zusammenkunft, Feier könnte man sagen, ein Garten mit Menschen, die ich mehrheitlich nicht kenne. Mit fremden Menschen Zeit zu verbringen ist der Ausnahmezustand.

Man umarmt sich nicht, natürlich nicht, nur, wenn man sich richtig gut kennt. Abstand wird gehalten, wenn auch nicht zwei Meter oder fünfzig Zentimeter. Beim Fladenbrot frage ich mich, ob ich mir ein Stück abreißen sollte, wenn vor mir schon abgerissen wurde, welche Finger da abrissen und wo sie zuvor waren. Tauche ich ein Plastikmesser in ein tönernes Gefäß mit Guacamole, frage ich mich: Hatte hier wer geniest oder geatmet? Was ist mit dem Rotwein, der selbstgebackenen Tarte? Eine mir fremde Frau kommt mir entgegen. Sie streckt die Hand aus und sagt: »Also ich habe keine Angst«, trotzig, provozierend, irgendwie auch treudoof.

Als es am zweitlängsten Tag des Jahres dunkel geworden ist, schaue ich in den Nachthimmel hinauf und denke: Wer jetzt auf die Karte blickt, sieht uns in elfenbeingrauen Umrissen.

Ansonsten: Bei einem von Novak Djokovic organisierten Tennisturnier werden die beiden zuletzt spielenden Profis positiv getestet. Nach Wiedereröffnung des japanischen Vergnügungsparks Fuji-Q Highland werden die Kunden gebeten, aus Sicherheitsgründen auf den Achterbahnen nicht zu schreien, die sogenannte Keep-a-Straight-Face-Challenge. Einer chinesischen Studie zufolge nimmt die Konzentration von Coronaantikörpern im Blut von Infizierten bereits nach zwei bis drei Monaten stark ab.

20. Juni | Lebenswirklichkeit Supermarkt

Im großen Supermarkt werden die Einkaufswagen nach Gebrauch nun nicht mehr von einem Mitarbeiter desinfiziert. Auch teilt der Mitarbeiter die Wagen nicht mehr den ankommenden Kundinnen zu. Im März empfand ich die getroffenen Vorsichtsmaßnahmen (Desinfektion, Zuteilung) als notwendig, aber zudringlich. Jetzt verspüre ich Enttäuschung über das Ausbleiben der Maßnahmen, den mangelnden Pandemieservice.

Mit Mundschutz stehe ich an der Kasse. Ich blicke hinab und schaue auf mein Portmonee. Teile der Maske ragen in mein Blickfeld hinein. Sie stören mein Schauen und behindern das Kramen nach Münzen. Ich denke, dass ich nun die älteren Leute verstehe, die ihr Portmonee der Kassiererin reichen und darum bitten, das Geld passend herauszunehmen.

Ansonsten: Weil sie politisch neutral bleiben möchte, kündigt die amerikanische Kinokette AMC an, den Kundinnen die Entscheidung zu überlassen, ob sie während eines Kinobesuchs eine Mundschutzmaske tragen oder nicht. Nach Kritik widerruft AMC diesen Beschluss und führt eine generelle Maskenpflicht im Kino ein. Die Bundeswehr testet auf dem Gelände der Fleischfabrik Tönnies auf Infektionen. Nach mittlerweile über tausend positiv Getesteten ist von einem Lockdown im gesamten Landkreis die Rede.

Fast vierzig Prozent der Deutschen geben an, dass sie während des Lockdowns zugenommen haben. Nachdem beim russischen Fußballklub FK Rostow sechs Spieler positiv auf das Coronavirus getestet und die gesamte Mannschaft unter Quarantäne gestellt wurde, tritt die Mannschaft ausschließlich mit Jugendspielern an. Und verliert 1:10.

19. Juni | Die App

Es ist Dienstag, als ich die App installiere. Davor beschäftige ich mich nicht mit Tracking und Tracing, Entwicklungsteams und Firmen, Datensicherheit und Interface. Davor denke ich: Erst wenn die App da ist, wird sie vollständiger sein als jetzt.

Jetzt ist die App da. Ich informiere mich. Über Tracing, Fünfzehn-Minuten-Kontakte und die Vergabe von pseudonymisierten Identifikationsnummern. Die Meinungsmacher, deren Meinungen ich mehrheitlich teile, erklären nahezu geschlossen, die App installieren zu wollen, zum Teil mit ausführlicher Begründung. Der Chaos Computer Club übt keine Kritik, was als Lob gewertet werden muss.

Ich lerne, wie die App funktioniert. Das sollte ich auch, immerhin werde ich sie von nun immer bei mir haben. Ich erfahre von den Schwachstellen: dem ständigen Bluetooth, der Inkompatibilität mit älteren Modellen und den daraus entstehenden sozialen Folgen, auch den vielen Geldern, mit denen die App entwickelt wurde, natürlich dem Unbehagen wegen der IDs, selbst, wenn diese nach vierzehn Tagen gelöscht werden.

Aber grundsätzlich denke ich: So sollte das sein. Mit Staatsmitteln wird etwas geschaffen, das allen dient. Das geschieht transparent. Der Quellcode liegt offen. Ich kann ihn nicht lesen. Aber eine Vielzahl von Leuten sind dazu in der Lage. Sie bewerten und ordnen ein. Stellen sich Schwachstellen heraus, benennen sie diese. Ich kann davon ausgehen, dass diese Stellen anschließend keine Lücken mehr sein werden. Ein vorbildlicher Prozess in einer demokratischen Gesellschaft.

Sechs Millionen Downloads nach einem Tag, knapp zehn Million bis gerade eben. Fünfzig Millionen bräuchte es, um effektiv zu arbeiten. Mit keiner anderen App auf meinem Smartphone habe ich mich intensiver beschäftigt, obwohl ich weiß, dass einige davon wenig redlichen Absichten haben.

Ich aktiviere die Coronaapp, sobald ich das Haus verlassen. Ansonsten bleibt sie ausgeschaltet. Ich lese alle Witze über die App (irgendwas mit Pokémon), sie sind in einem Tag gemacht. Alle Pointen danach wirken fad. Ich wappne mich mit Argumenten, wenn jemand meine Entscheidung hinterfragen sollte. Ich weiß, wie ich auf Kettenbriefe über WhatsApp oder Facebook, die auf Datenschutzbedenken der Coronapp hinweisen, reagieren werde (lachend).

Am ersten Tag hilft mir die App nicht. Sie braucht vierundzwanzig Stunden, in denen ich mit Menschen länger als fünfzehn Minuten zusammentreffen könnte, um eine Bedrohungslage zu erkennen.

Am nächsten Morgen ist der Screen beruhigend grün. »Niedriges Risiko. Bisher keine Risikobedrohung.« Fast bin ich enttäuscht, wie in einem Game, in dem ich keine Punkte erzielt habe. Ich schaue auf das Display und wünsche mir, die App würde mit mir interagieren, mit mir kommunizieren, mir mehr Handlungsmöglichkeiten einräumen als: Triff keine Coronainfizierten.

Später lese ich ein Interview mit einem Sozialarbeiter. Er sagt, die App sei »ein Spielzeug für die digitale Oberklasse«. Er spricht von fehlenden Sprachen, fehlenden Geräten, fehlendem Informationsfluss. Er sagt: »Medizin, das zeigt sich wieder einmal, ist auch politisch: Diese Leute werden immer wieder krank, weil sie so leben, wie sie leben – in ärmlichen Verhältnissen. Und unsereins lädt sich dann die App herunter und fühlt sich gut. Ich empfinde das als eine ziemliche Heuchelei.«

Wie ein Heuchler fühle ich mich nicht. Eigentlich fühle ich überhaupt nichts. Die App ist ein Tool, so, wie Maske, Seife und Sicherheitsabstand welche sind. Die App ist installiert, sie soll funktionieren. Alles andere wäre Hobby.

Ansonsten: Die Nachfrage nach Rechtsanwaltskanzleien in Scheidungsangelegenheiten hat zwischen März und Mai deutlich zugenommen. In Abwasserproben aus italienischen Städten, die von Dezember 2019 stammen, werden Sars-CoV-2-Erreger gefunden.

18. Juni | Die Welten

Gestern bei Aufnahmen gewesen. Dabei Gespräche über die Coronazeit. Die einen leben während dieser Monate in einer umgebauten Grundschule. Dort ein gemeinsames Abschirmen von der Welt. Nur einmal die Woche kommt Die Zeit, ansonsten ein Verzicht auf Nachrichten. Dafür Hühner gekauft, Hochbeete angelegt, ein halbes Musikalbum aufgenommen, viele Bücher gelesen, für den Sechsjährigen den kompletten Stoff der ersten Klasse durchgenommen, er kann jetzt lesen, schreiben, rechnen.

Einer aus der Gruppe wohnt in Bayern. Er erzählt von den letzten Monaten, wie die Polizei die Familie mit Androhung eines Bußgeldes von einer Parkbank vertrieb. Wie, nachdem Thüringens Ministerpräsident Lockerungen ankündigte, diese Meldung halbstündig im Radio lief, dagegengeschnitten O-Töne vom verantwortungsvoll handelnden Markus Söder, zwei Seiten, Held und Bösewicht klar definiert. Wie es in Bayern eine viel stärkere Bereitschaft gebe, den Worten der Autoritäten widerspruchslos zu folgen. Wie überraschend die Wiederkehr nach Weimar gewesen sei, die geöffneten Lokale, die Menschen auf den Straßen.

Dieselbe Sache ist allen an dem Gespräch Beteiligten widerfahren. Erlebt haben sie sie in verschiedenen Welten. Einig sind sich die Musiker, deren Auftritte und Engagements seit März nahezu komplett weggefallen sind, bei einer Sache: Nach Corona wird es weniger Musik geben. Einige haben schon aufgegeben, weitere werden folgen. Ohne Livemusik bricht die wichtigste Einnahmequelle weg. Gerade erst wurde ein Verbot von Großveranstaltungen bis Ende Oktober beschlossen.

Ansonsten: In der Fleischfabrik von Clemens Tönnies infizieren sich über 600 Mitarbeiterinnen mit dem Virus, siebentausend Menschen werden unter Quarantäne gestellt, im Landkreis werden Kindergärten und Schulen geschlossen, die Fleischfabrik bleibt geöffnet. Armin Laschet begründet den Ausbruch des Virus in der Fleischfabrik mit der Anwesenheit der rumänischen und bulgarischen Arbeiterinnen. Nachdem amerikanische Behörden die Zulassung für das vom Präsidenten protegierte Mittel Hydroxychloroquin zurückgezogen haben, bleibt die amerikanische Regierung auf sechsundsechzig Millionen gekaufter Pillen sitzen.

Das coronafreie Neuseeland meldet zwei neue Coronafälle, die auf zwei Touristinnen zurückzuführen sind. Nach einem Tag verzeichnet die Coronaapp sechs Millionen Downloads. Entgegen erster Vermutungen soll der Coronaausbruch in Peking nicht von norwegischem Lachs ausgegangen sein. Eine Studie ergibt, dass öffentliche Toiletten aufgrund von Aerosolen eine Virenschleuder sein können. Einfacher Schutz: Vor dem Spülen den Toilettendeckel schließen.

16. Juni | Angst IV

Angst war lange kein Thema mehr. Weshalb auch? Woher soll die Angst kommen? Wo ist die Angst in der Stadt mit null Infektionen? Wo ist die Angst bei 25 Grad im Schatten und Eis in der Hand, wo ist die Angst, wenn ich über Kant und Churchill lese und von glücklichen Urlauberinnen auf Malle?

Mir ist das recht. Ich bin doch froh, wenn ich keine Angst verspüre, wenn ich nicht einmal darüber nachdenken muss, ob ich Angst verspüren sollte. Auch wenn ich in vielen Texten lese, ist dort keine Angst. Dort macht das Virus weiterhin das, was es seit März tut; befällt Alte und Vorerkrankte, vernarbt die Lunge, hinterlässt keine Schäden.

Dann lese ich von den gesunden Blutbahnen, durch welche das Virus keinen Weg findet, eine Erklärung dafür, weshalb Kinder kaum erkranken und denke im Umkehrschluss an jene mit den verengten Bahnen. Ich lese, was der Körper annimmt, wenn das Virus ihn befällt, auf welche fatale Weise er sich wehrt, selbst, wenn das Virus schon keine Gefahr mehr darstellt. Wie der Körper sich selbst zerstört, weil das Virus ihm eine Bedrohung vorgaukelt. Ich lese von den Organen, die so beschädigt werden, dem Herzen, das außer Tritt gerät. Ich lese von Studien über Blutgruppen. Ich lese über Risikogruppen, wie diese sich zusammensetzen, dass die vertraute Formel alt+vorerkrankt viel zu kurz gegriffen ist.

Und ich weiß, deutlicher noch als zuvor, dass ich dieses Virus nicht haben möchte. Ich möchte nicht Teil der Herde sein, ich will nicht durchseucht werden. Ich fürchte mich, weil ich nicht weiß, ob ich die Bedingungen, unter denen das Virus nicht in mir wütet, erfülle und ich weiß, dass, wenn es in mir wütet, es alle Folgen haben könnte.

Deshalb ist Angst IV da, am Ende des Frühlings, am Morgen des Sommers, der harmlosesten aller Jahreszeiten, den Monaten, die am sichersten sein werden. Diese Angst wird dafür sorgen, dass ich auf keine noch so wichtige Großdemonstration gehen werde, ich werde abwägen, welche Besuche ich mache und unter welche Umständen, ich werde Masken tragen, selbst, wenn sie mich nicht schützen, ich werde Umarmungen meiden und die App installieren, der Angst wegen, die keine Sicherheit verspricht und keinen Zufall ausschaltet. Das ist die Angst, abstrakt, weit weg, ebenso irrational wie vorsorgend.

Ansonsten: Aus Angst, dass 5G Coronainfektionen begünstigt, sperren Einwohner eines Dorfs in Peru acht Fernmeldetechniker ein. Ab heute kann die Corona-Warn-App installiert werden. Peking ruft die zweithöchste Sicherheitsstufe aus. Ein Teilnehmer der dänischen Black Lives Matter-Demonstration wird positiv getestet. Britische Studien ergeben, dass das Mittel Dexamethason die Sterberaten bei Schwererkrankten um ein Drittel senkt. Amerikanische Behörden ziehen die Zulassung für das vom Präsidenten protegierte Mittel Hydroxychloroquin zurück.

Wegen zunehmender Verstöße gegen die Kontaktregeln führt Bremen ein Teilverbot für Alkoholverkauf ein. Als Wertschätzung für Ärztinnen und Pflegepersonal wird in Lettland die sechs Meter hohe Statue Mediziner für die Welt aufgestellt. Die tschechische Post bildet den Mundschutz auf der 19-Kronen-Briefmarke ab. Das Bundeslandwirtschaftsministerium kündigt an, dass ab Juli positive Coronatests bei Tieren meldepflichtig werden sollen.

15. Juni | Die Pandemie der Bilder

Ich sehe eine Dokumentation über Corona. Sie ist in der Gegenwart angesiedelt und erzählt über die Pandemie im Rückblick. Das Virus ist geschehen, das Virus wird eingeordnet. Bilder dokumentieren die abgeschlossene Coronazeit.

Ich vermute, dass ich die Bilder der Doku am Jahresende auch von Günther Jauch gezeigt bekommen werde. Ich werde sie doppelseitig im Spiegeljahresheft 2020 sehen und im Jahresrückblick des ZDF, Guido Knopp wird mir diese Bilder einmal präsentieren und später einmal alle Dokumentationen über die Coronazeit, Bilder, die für diese Zeit stehen werden.

Jene, die dabei waren, werden mit dem Blick auf eines dieser Bilder augenblicklich ein vergangenes Gefühl zurückholen. Jenen, die zu jung waren und jenen, die erst auf die Welt kamen, als die Pandemie Geschichte war, wird mit einem Blick auf die Bilder ein Zeitabschnitt der menschlichen Geschichte verdeutlicht, so wie das Flugzeug im WTC, der Banker mit der Topfpflanze vor einem gläsernen Hochhaus oder ein Mädchen ohne Schuhe und Blumen in den Haaren.

Noch sind es viele Bilder, die mir angeboten werden. Ihre Zahl wird schrumpfen, es werden zwei, vielleicht drei Bilder bleiben, die in hundert Jahren von Corona erzählen. Welche werden es sein?

Die Bilder, die ich heute sehe:

einen mit Absperrband abgeriegelten Spielplatz
menschenleere urbane Räume
leere Autobahnen
die touristenfreien Kanäle Venedigs
die Särge aus der Stadt bringenden Militärtransporter von Bergamo
das Massengrab von Ellis Island
Menschen mit Mundschutzmasken im Alltagsleben
auf der Wall Street die Bronzestatue des Fearless Girl mit Mundschutz
Infizierte mit Beatmungshelm
Verwackelte Smartphoneaufnahme eines überfüllten Krankenhauses
Supermarktverkäuferin hinter improvisierter Plexiglasscheibe
verschiedene Politikerinnen vor den Flaggen ihres Landes, die mit ernster Miene sprechen
Neubaublöcke, um die Enge während der Quarantäne zu illustrieren

Ansonsten: Die ersten ankommenden deutschen Urlauber auf Mallorca werden mit Applaus begrüßt, wie Helden. Die ARD stoppt eine Dokumentation über Wuhan, weil die Bilder ausschließlich von China bereitgestellt wurden. Wuhan Diary: Tagebuch aus einer gesperrten Stadt, das Coronatagebuch der chinesischen Autorin Fang Fang, erscheint. Der Ursprung des erneuten Ausbruchs des Coronavirus in Peking wird auf norwegische Zuchtlachse zurückgeführt. Über Schweden.

14. Juni | Der Markt der Meinungen II

Wieder ist Samstag, wieder liegen rote Kissen auf dem Theaterplatz, sitzen Menschen darauf, hängen Transparente beim Denkmal, auf einem steht: »Stärken wir unser demokratisches Immunsystem«. Es ist der Markt der Meinungen, ein öffentlicher Gedankenaustausch in Zeiten von Corona.

Ein Mann in kurzen Hosen und mit langen Haaren tritt ans Mikrofon. Er begrüßt, lädt ein zum Hinsetzen und Miteinandersprechen, freut sich auf die Impulse, die bald gegeben werden. Kurz darauf ergreift eine Frau das Wort, sie ist Ärztin. Sie spricht über die Selbstmordraten in den USA, in einem Coronamonat habe es mehr Suizide als sonst in einem Jahr gegeben. Auch aus Weimar kenne sie einen Fall. Sie erklärt, dass es länger schon in der Ärztekammer grummele, dass die getroffenen Maßnahmen dort anders gesehen werden, sehr kritisch, man davon aber in den Medien nichts höre. Sie sagt, dass Anfang des Jahres ein wirtschaftlicher Kollaps bevorgestanden hätte und dass Corona den Entscheidern gelegen gekommen sei, deutet an, dass die Entscheider die Pandemie als Vorwand genommen hätten. Sie spricht von den Mundschutzmasken und dass diese die Trägerinnen krank machten, »Nehmt die Masken ab«, ruft sie und fordert mehrmals vom Ministerpräsidenten, die Mundschutzpflicht aufzuheben.

Die auf den Kissen Sitzenden klatschen, die Umstehenden lecken Eis. Nachdem die Ärztin vom Mikrofon getreten ist, kommt der Mann zurück, bedankt sich für den Impuls, den sie in die Runde gegeben hat und lädt erneut zum Sitzen ein, weist auf die Informationsblätter hin, die am Denkmal ausgelegt sind.

Für einen Moment spüre ich das Verlangen, diesem Impuls zu folgen. Nicht mich hin- und damit dazuzusetzen. Aber zumindest die Informationsblätter zu nehmen. Doch dafür müsste ich den Kreis der Umstehenden verlassen, ich müsste mich zur Mitte des Theaterplatzes bewegen, für eine Zeit eintreten in den Markt der Meinungen, die Köpfe der Sitzenden würden sich in meine Richtung drehen, sie müssten annehmen, ich käme zu ihnen, ich wäre interessiert an ihren Meinungen, vielleicht vermuten, ich würde Ansichten teilen, ich hätte die Zahlen über die amerikanischen Selbstmordraten im Kopf, wüsste, was in der Ärztekammer los ist und ginge davon aus, dass sich weltweit Regierungen abgesprochen hätten, gemeinschaftlich die Wirtschaft vor die Wand zu fahren.

Mein Eintreten wäre Zustimmung. Die Umstehenden würden an ihren hellgrünen Pistazieneiskugeln lecken und das denken. Ich würde unter den leblosen Blicken von Schiller und Goethe den Blick wandern lassen über die ausgelegten Informationsblätter, die mir Wahrheiten anbieten, vielleicht meine Augen öffnen würden, ich würde auswählen müssen und anschließend zurück in die Anonymität außerhalb der Mitte eilen. Die Sitzenden wüssten dann Bescheid, sie wüssten, dass ich nicht bei ihnen sitzen will, aus Mutlosigkeit, absichtlich, ablehnend, die Umstehenden hätten längst ein Urteil gefällt.

All das setze ich gegen die Aussicht, einen Informationszettel zu erhalten, dessen Worte ich für diesen Eintrag verwenden könnte. Ich wäge ab und gehe dann weiter, vorbei an den Polizisten, die wenige Meter entfernt Fahrradfahrende mit Bußgeldern belegen.

Ansonsten: In den USA erhält ein von Corona Genesener eine Krankenhausrechnung über eine Million Dollar. In Indien werden fünfhundert Eisenbahnwagons zu mobilen Krankenhäusern umgebaut. Wegen neuer Infektionsfälle werden in Peking Teile der Stadt abgeriegelt.

13. Juni | Das Lesen der Leben

Der Nachbar legt die ausgelesene Ausgabe der Die Zeit vor die Tür. Ich blättere darin. Bleibe am Dossier hängen. »Die Namen hinter den Zahlen« lautet der Titel, darunter steht: »Etwa 8.600 Menschen sind in Deutschland bisher an Covid-19 gestorben. Wer waren sie? 15 Geschichten vom Leben«.

Die New York Times hat vor einigen Wochen ähnliches gemacht. Auf die Titelseite die Namen von tausend an Covid19 Gestorbenen geschrieben, dazu einen Satz gestellt, der das jeweilige Leben zusammengefasst, von »schaffte viele wunderbare Erinnerungen für seine Familie« bis zu » wollte sein Leben lang in der Nähe des Ozeans sein«. Es gab viel Beifall dafür, das abstrakte Sterben in Geschichten von verloren gegangenen Leben zu übertragen.

Das Zeit-Dossier nimmt keinen Satz. Eine, manchmal zwei Spalten werden mit der Biografie eines Gestorbenen gefüllt. Während ansonsten im Dossier, überhaupt im Geschriebenen, das Licht meistens auf das von der Normalität Abweichende fällt, sind es hier Geschichten, in denen es um den Karnevalsverein geht, um Pommes frittieren oder Schnitzen. Normale Leben, wenn es diese geben sollte.

Das Besondere, das, was diese fünfzehn Beschriebenen eint, ist das Ende. Der Tod. Fast jede Spalte endet ähnlich; Einlieferung ins Krankenhaus, ein einsames Sterben, getrennt von der Familie, »Als sie im Sterben lag, hielt eine Schwester den Hörer ans Ohr« steht dort oder »Als er im März fieberte, dachte er an einen grippalen Infekt«. Die Beschreibungen sind dezent, es genügen Andeutungen. Der Leser weiß, was geschehen ist. Nach fast vier Monaten der Pandemie weiß er zu deuten.

Es sind die Biografien von Westdeutschen. Beim Lesen fällt mir das auf und als mir das auffällt, frage ich mich, ob mir das auffallen sollte, was diese Beobachtung über mich aussagt. Aber sie ist gemacht. Dann, in der vorletzten Spalte, kommt eine ostdeutsche Biografie.

Sie erzählt aus Königswalde. Königswalde ist das Nachbardorf meines Geburtsorts, zwei Kilometer entfernt von dort, wo ich einmal lebte. Mein Heimatort, dessen Kreis, war mehrere Wochen lang ein Hot Spot, ein Gebiet, in dem es eine Häufung von Infektionen und später auch Toten gab. In einem Altenheim starben zehn Bewohner am Virus. Dem vorausgegangen war eine Familienfeier in einem Dorf, von dort hatte sich das Virus verbreitet.

Jetzt lese ich in diesem Dossier über fünfzehn Menschen, die am Virus starben, über Königswalde. Ich kenne den Beschriebenen nicht, weiß aber, wer er ist, kenne den Enkel entfernt. Jetzt steht dort ein Leben zusammengefasst, die Worte Bausoldat kommen vor, Haft, Pazifist, Christ und verzieh. Diese Biografie ist verschieden von den anderen vierzehn. Jede Biografie ist das.

8793 Tote, ich kenne fünfzehn Biografien. Es gibt keinen Schlusssatz für diesen Eintrag.

Ansonsten: Das Auswärtige Amt kündigt an, in Kürze Rechnungen für die Rückholaktionen zu verschicken. Russland kündigt an, im Herbst mit der Produktion eines Coronaimpfstoffes zu beginnen. Etwa 150 Landwirte sehen auf ihren Traktoren in einem niedersächsischen Drive-In-Treckerkino den Dokumentarfilm »Die schöne Krista« über eine Kuh in Niedersachsen.

12. Juni | Das Mähen von Wiesen

Anfang April schrieb ich erfreut, dass es nun endlich wieder eine Debatte gäbe, die vollkommen unberührt ist von Virus. Es handelte sich um einen lyrischen Text des Rammsteinsängers. Zweieinhalb Monate sind seither vergangen.

Seit Tagen nun ein Nebeneinander von Debatten. Es sind notwendige, längst überfällige, oft schon geführte Diskussionen über gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, die Neubewertung von Geschichte, die Beschaffenheit von Strukturen, oft an Beispielen der (Pop)kultur. Mir scheint, es würden diese Debatten mit größerer Wucht und Wut als zuvor geführt und zum Teil viel schneller Konsequenzen nach sich ziehen, als würden die Teilnehmenden mit größerer Sichtbarkeit und Selbstbewusstsein agieren, als ob die Verschiebungen viel deutlicher zu Tage treten.

Diese Debatten haben ihren Ursprung nicht in der Pandemie. Ich merke, dass mich ihr Nebeneinander überfordert, dass sie einer Form und Sprache bedürfen, der ich nur unzureichend mächtig bin. Es überfordert mich, monatelang mit der Pandemie auf die Welt geschaut zu haben und nun diesen Blick abzulegen, mindestens zu erweitern, zu sagen: Die Zeit, social distancing und exponentielles Wachstum auf alle möglichen Bereiche des Lebens zu denken, ist vorbei. Was gerade gesagt und gehört wird, erfordert ein anderes Denken. Dann möchte ich in den April zurück, nein, eigentlich möchte ich auf einem fahrbaren Rasenmäher sitzen und drei Wochen lang nichts tun außer Wiesen mähen, was ein ehrlicher Satz ist, aber keiner, der hilft.

Ansonsten: Der chinesische Arzt Li Wenliang, der als einer der Ersten vor Corona warnte und vor vier Monaten an Covid19 starb, wird Vater eines Jungen. Laut einer Studie wollen eine Mehrzahl der Menschen auch nach Corona eine Reduzierung des Autoverkehrs in Städten zugunsten Fahrradfahrens beibehalten. Aufgrund starker Börsengewinne profitieren Manager trotz Gehaltsverzichte überproportional von der Pandemie.

Nach mehreren Leichendiebstählen durch Angehörige verstärken in Indonesien die Behörden die Sicherheitsvorkehrungen an Leichenhallen. Aus Protest gegen die Coronapolitik der brasilianischen Regierung werden an der Copacabana hundert Grabkreuze aufgestellt. Bei der Übertragung der wiederaufgenommenen spanischen Fußballliga werden auf die leeren Zuschauerränge virtuelle Zuschauer projiziert, ähnlich wie in einem Computerspiel. Die heute hätte beginnende und auf das nächste Jahr verschobene Fußballeuropameisterschaft wird auch 2021 den Namen EM 2020 tragen.

11. Juni | Das Schrumpfen des Ansonsten

… soll dieser Eintrag heißen, das ist der Plan seit einigen Tagen. Der Titel fügt sich formal zu den Titeln der letzten Anmerkungen, macht sich selbst zum Thema, etwas, das hin und wieder geschehen sollte und fängt eine Beobachtung ein, die mich schon länger umtreibt.

Gefühlt ist die Zahl der Tage gewachsen, an denen es mir schwerfällt, Inhalte für den Ansonsten-Teil zu finden. Wo ich früher spielendleicht fünf oder mehr Absätze mit wichtigen Entwicklungen, absurden Momentaufnahmen und ideologisch ausgewählten Fakten füllen konnte, kratze ich heute mühsam drei dürre Sätze über Selbstverständlichkeiten zusammen.

Dabei geschieht weiterhin ständig etwas, das wegen Corona geschieht, wegen des Virus in der Welt ist und ohne Pandemie niemals auch nur gedacht worden wäre. Gestern zum Beispiel. Mehrere Studien, die ausführlich darlegen, was das Virus im Körper anrichtet und weshalb wer Risikogruppe ist. Ein Text, der begründet, weshalb es wahrscheinlich ist, dass niemals ein Impfstoff gefunden werden könnte. Ein anderer Text erklärt, weshalb es geschehen könnte, dass das Virus von allein, ganz ohne Impfstoff verschwindet, so wie in Neuseeland. Dazu die Clustertheorie. Lauter elementare Infos zur Pandemie.

Zusätzlich die üblichen politischen Auswirkungen, das Große, das Geschehen im Alltag, Beatmungsgerätelieferungen, Schulkonzepte, lokale Ausbrüche, Klagen, Apps, Umsatzsteigerungen, Krisen, Matjes-Meisjes, die viertausend Matjesheringe an die Mitarbeiter des Universitätsklinikums Münster als Dankeschön verteilen.

Dabei ist das Viele selbst nur eine reduzierte Auswahl. Weiterhin ist Corona auf dem Kontinent Afrika kein Thema, sind die Informationen über Südamerika, abgesehen von Brasilien, spärlich, ist der vermeintlich weite Blick ein beschränkter.

Nur weil ich weniger lese, weil ich die Pandemie mit weniger Interesse verfolge, weil es mir mühsam ist, den Flickenteppich aus Geschichten, der jeden Tag vor mein Fenster gehängt wird, zu betrachten, weil ich gesättigt bin von den Absonderlichkeiten und wirtschaftlichen Zahlen, von den Schließungen und Öffnungen, den Beschwerden und Hoffnungen, verschwindet die Pandemie ja trotzdem nicht einfach.

All die Coronawirklichkeiten, die in einem Loop zirkulieren, die in einer gigantischen Zentrifuge geschleudert werden und mir schwindelig wird beim Hineinsehen ins Schleudern, Schicht legt sich über Schicht über Schicht, Newsticker verschlingt Newsticker:

Nicht das Ansonsten schrumpft. Ich bin es, der höher steigt, der nicht mehr erreicht werden will, den nur einzelne Ausschläge noch treffen sollen. Die Wellenberge sollen unter mir entlangrollen. Was ich schreibe, sind Spritzer der Gischt.

Ansonsten:

9. Juni | Die Gegenwart der Normalität

Eine blinde Frau versucht vergebens, den mit roten Gaffatape auf den Boden geklebten Pfeilen, welchen die Richtung vorgeben, in der man sich im Markt fortzubewegen hat, zu folgen. Anders als vor einem Monat, als Mangel bestand, hängt im Fenster des Frisörsalons ein großes Schild: Noch Termine frei. An Litfaßsäulen sind die Plakate überklebt, auf denen mit Biene-Maja-Comics für ein Zuhause-Bleiben geworben wurde.

Das Becken im Schwanseebad ist mit Wasser gefüllt, in zwei Woche wird geöffnet, Karten fürs Schwimmen können ausschließlich online erworben werden. Die kleinen Spendenkörbchen neben den Supermarktkassen sind verschwunden. Niemand kündigt mehr Onlinelesungen an. Wer heute auf dem Balkon steht und klatscht, will Mücken töten. Am Abend wird durchgerechnet, welche Entlastung die Mehrwertsteuersenkung für das Haushaltsgeld bringt.

Im Kindergarten betreten die Eltern mit oder ohne Maske das Gelände, eilen allein oder zu mehreren die enge Treppe hinauf, betreten allein oder zu vielen die Garderoben. Der Hygieneplan ist Dokument, was geschieht, Praxis.

Auf dem Goetheplatz spielt der Leierkastenmann wieder Tanze Samba mit mir. Das Weimarhaus wirbt mit »100% kontaktlos«. Die Kutscherin, die die Touristen zurück zum Markt fährt, trägt einen roten Mundschutz, auf dem geschrieben ist: Das is keen Überfall. Am Hotel Elephant steht die Stadtführerin mit Face Shield vor dem Gesicht und sagt: Kommen wir nun zur Weltgeschichte.

Ansonsten: Thüringen beschließt, die Kontaktbeschränkungen ab 13. Juni aufzuheben. Um den Sommerurlaub in der Pandemie zu simulieren, lädt Spanien elftausend Deutsche für ein Testprojekt auf die Balearen ein. In der koreanischen Baseballliga sitzen während der Geisterspiele Plüschtiere auf den Zuschauerrängen. Nachdem Donald Trump eine Fabrik besucht hat, ohne dabei eine Maske zu tragen, muss die Tagesproduktion medizinischer Wattestäbchen entsorgt werden.

Wegen Coronamaßnahmen sitzen bis zu zweihunderttausend Seeleute auf Schiffen fest. Laut einer Studie haben Paare in der Coronazeit Familienarbeit »gleichberechtiger« als früher aufgeteilt: »Im April verbrachten die Frauen im Schnitt 7,5 Stunden an einem Werktag mit Kindererziehung, 2,5 Stunden mit der Hausarbeit. Die Männer übernahmen im Schnitt vier Stunden lang die Kinder und halfen anderthalb Stunden im Haushalt mit.« In NRW wird sich über Zusammenbausets von Schutzmasken geärgert. Alfred Blum feiert den 63. Hochzeitstag mit seiner Frau – durch eine Plexiglasscheibe voneinander getrennt. Coronaschulen.

8. Juni | Die Rückkehr der Eins

Das Virus hat die Stadt verlassen. Würden wir nun die Straßen absperren, den Bahnhof schließen, jegliches Kommen untersagen oder jeden Kommenden für zwei Wochen in die Neubauten am Herrenrödchen einquarantänisieren oder, besser noch, würden wir für ein Jahr eine Käseglocke über die Stadt stülpen, dann wären wir sicher vor dem Virus.

Doch das wird nicht geschehen. Und so wird es wiederkehren. Vielleicht geschieht es in diesem Augenblick: In der Kantine hustet eine Pendlerin aus Ulla auf die Assiette mit den Sahnenudeln. Ein DiMiDo-Professor mit Hauptwohnsitz in Berlin überreicht der Projektkoordinatorin seines Kollegs eine Notiz. Eine Touristin aus Göttingen liebkost einen Gegenstand, der irgendwas mit Goethe zu tun hat.

Die Zahl wird eins werden. Dann zwei, dann vier, dann acht. Dass sie sechszehn wird und dann 32, dass sie exponentiell wachsen wird, erscheint nicht wahrscheinlich. Wahrscheinlicher scheint ein Cluster, ein Superspreadervorfall, eine Situation, in der einer viele ansteckt.

Ob ein Supercluster geschieht, ist auch davon abhängig, ob ein potentieller Superspreader in eine potentielle Superspreadersituation geraten kann. Es hat mit Glück zu tun und damit, ob dennoch Masken getragen werden, obwohl die Zahl bei Null liegt, obwohl gestern in Weimar niemand irgendjemanden anstecken konnte.

Heute schon könnte das anders sein.

In den konservativen Boulevardmedien, besonders den Sprachrohren der Neurechten, sind die Demonstrationen Thema. Nicht die »coronakritischen Hygieneproteste«, die sind Erinnerung, fast schon vergessen. Thema ist Black Lives Matter. Der Bildredakteur, der den Artikel über Christian Drosten schrieb, verfasst einen langen Thread, in dem es heißt: »Schon morgen wird schwer zu erklären sein, warum irgendeine Vorsichtsmaßnahme überhaupt noch gilt. Keine private Veranstaltung kann auch nur ansatzweise mit dem Ansteckungsrisiko eines vollen Alexanderplatzes mithalten.« Woanders wird getitelt: »Neue Doppelmoral: unerwünschte und erwünschte Demonstrationen«, was die entsprechenden politischen Gruppierungen bereitwillig zitieren: »Zeit für das Ende der Doppelmoral des politisch-medialen Komplexes.«

Die Absicht dieser Stimmen ist klar. Es ist klar, worauf sie hinauswollen, was sie als Vorwand nehmen, worum es ihnen wirklich geht. Es ist klar, warum sie diese Fragen nicht bei den Hygieneprotesten stellen, bei Demonstranten welcher Überzeugung sie diese Beobachtungen machen und bei welchen nicht, aus welchen Gründen diese Instrumentalisierung stattfindet.

Und dennoch ist eine Ambivalenz da. Denn die Menschen stehen trotzdem zusammen, fünftausend, zehntausend, zwanzigtausend, sie alle schaffen potentielle Cluster, Superspreadermöglichkeiten. Das Wichtige und das Virus. Diese Ambivalenz muss ich aushalten. Ich darf sie nicht den Lautsprechern und Reicheltboys überlassen. Gerade, weil diese mit aller Schärfe in die Widersprüche grätschen, muss ich die Widersprüche benennen und in Relation stellen. Ansonsten mache ich die Lautsprecher lauter und die Schlagzeilen größer.

Darüber hinaus muss ich fragen: Warum geht der sächsische Ministerpräsident zu einer Hygienedemo mit ein paar hundert Teilnehmerinnen und spricht dort mit einem Mann, der einen Aluhut trägt und lässt sich nicht auf den Black Lives Matter-Demos in seinem Bundesland mit mehreren tausend Demonstrantinnen sehen? Auf welchen Demonstrationen reagiert die Polizei wie, warum tut sie das, ist eine Ausgewogenheit gegeben, welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus?

Ansonsten: Laut einer Studie, die sich mit der früh eingeführten Maskenpflicht in Jena beschäftigt hat, haben Alltagsmasken eine Schutzwirkung gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Studien zufolge haben die Schutzmaßnahmen in elf europäischen Ländern bis Anfang Mai etwa drei Millionen Todesfälle verhindert, »Ich denke, kein anderes menschliches Unterfangen hat jemals in so kurzer Zeit so viele Leben gerettet«, sagt der Studienleiter. Die Zahlen zur aktuellen Wirtschaftslage kommentiert das Bundeswirtschaftsministerium: »Der konjunkturelle Tiefpunkt ist damit erreicht.«

7. Juni | Null

Die offiziellen Stellen melden: Die letzten drei Infizierten haben die Quarantäne genesen verlassen. Weimar ist coronafrei.

Ansonsten: Weltweit übersteigt die Zahl der Coronatoten vierhunderttausend. Die brasilianische Regierung veröffentlicht im Internet keine Gesamtzahl der Coronafälle und Toten mehr. Wer zukünftig in Frankreich seine gebrauchte Maske auf die Straße wirft, soll eine Strafe von 135 Euro zahlen.

6. Juni | Markt der Meinungen

In Weimar auf dem Theaterplatz ein Markt der Meinungen. Vor dem Denkmal sind in Abstand Kissen ausgelegt. Darauf sitzen Menschen und sprechen miteinander über die Pandemie. Darüber hinaus gibt es keine Beobachtung zu teilen, ein demokratischer Prozess vor dem Nationaltheater. Einen Moment lang erwäge ich, am Markt teilzunehmen, im Austausch gegen eine andere meine Meinung zu geben. Ich entscheide mich dagegen, da ich mich satt fühle von Meinungen.

Deutschlandweit die Bilder von den Demonstrationen gegen Rassismus. Sie beglücken mich. Wie auch vor einigen Tagen setzt die Irritation zeitversetzt ein. Die Menschen engbeieinander. Ich schaue auf mehrere Fotos. Einige versichern, dass alle Teilnehmenden Masken tragen und in ausreichendem Abstand voneinander stehen. Andere zeigen das Gegenteil. Ich überlege, weshalb mich das nicht sofort getriggert hat, so, wie bei den sogenannten Hygienemärschen, als ich fast augenblicklich den Verzicht auf jegliche Sicherheitsmaßnahmen mokierte. Kann es sein, dass ich über die gute Sache nicht sofort mein Coronaparadigma lege? Und falls ja: Wäre das von Bedeutung? In Weimar steht die Zahl der Infizierten aktuell bei drei.

Ansonsten: Nach dem Ausbruch von Corona bei Nerzen in den Niederlanden werden auf den Farmen alle Tiere getötet. Entgegen ihrer bisherigen Haltung spricht sich die Weltgesundheitsorganisation nun für das Tragen von Gesichtsmasken aus. Über den Ausbruch in Göttingen. Wie knapp Kliniken einer Notlage entgangen sind.

5. Juni | Geschichten von Masken

Ich sehe eine Maske auf dem Gehweg. Wie ein vom Himmel gefallener Vogel ruht sie da, die Haltebändchen wie gebrochene Flügel, der Körper, der eigentliche Schutz, beschmutzt.

Nahezu jeden Tag finde ich eine solche Maske. Gebraucht und weggeworfen liegt sie auf dem Pflaster. Sie hat Aerosole gefangen und hängt nun an Regenrinnen. Die Maske hat dem Träger gestattet, ein Geschäft zu betreten, ihm vielleicht ermöglicht, ein Geschenk für einen geliebten Menschen zu kaufen. Jetzt liegt sie im Gebüsch, zwischen Disteln und Brennnesseln, ihre Cellulose durchweicht vom dreckigen Regen, der Stoff vollgesaugt von Abgasresten der nun wieder fahrenden Pendlerkolonnen.

Diese Maske war vorvorgestern selten, begehrt und umkämpft, vorgestern wurde sie produziert, genäht und individualisiert, gestern war sie vorrätig in Automaten oder in kleinen Körben nahe der Supermarktkassen, zehn Stück für unter zehn Euro. Heute ist sie Abfall gewordenes Utensil der Pandemie, überflüssig und wertlos, sie wird zum Müll getan, Millionen Masken Müll, Milliarden Masken Müll auf der Welt.

Läge man alle gebrauchten Masken nebeneinander, ergäbe dies eine Fläche von x Fußballfeldern, eine Fläche so groß wie das Saarland, drei Mal um den Äquator zieht sich Maskenmüll, aufeinandergestapelt käme man fünf Mal bis zum Mond, ein Haufen so groß, dass er ebenso wie die Chinesische Mauer von der ISS aus zu sehen ist.

Im Vorraum der Bankfiliale weist ein zuvorkommender Securitymann den Kunden Platz zu, dirigiert sie zu den gewünschten Automaten. Freundlich begrüßt er, freundlich verabschiedet er, wünscht jedes Mal beim Gehen: »Bleiben Sie bitte gesund.« Als ich betrete, kommt er mir entgegen. Er sagt: »Hier dürfen Sie ihre Maske auch unter die Nase ziehen.« Ich bringe es nicht übers Herz, ihm das zu sagen, was man als verantwortungsvoller Mitmensch, ausgestattet mit dem Wissen aus drei Monaten Pandemie, darauf sagen müsste. Ich belasse die Maske über der Nase, erledige meine Geschäfte, spüre dabei seine Irritation: Er wollte freundlich sein, er hat mir ein Angebot gemacht, ich habe es wortlos ausgeschlagen. Beim Verlassen nicken wir uns beide zu, Menschen der Pandemie.

Auf der Rolltreppe vor mir fährt eine Frau. Als sie oben ankommt, dreht sie sich um. Ich sehe ihren Schutz. Auf der schwarzen Maske, über ihrem Mund, dort, wo die Lippen sind und die Zähne und die Zunge, im Rachen, wo das Virus wartet und Luft Stimmbänder zum Klingen bringt, steht in weißen Buchstaben: »Ich hasse Menschen.«

Ansonsten: Wegen fehlerhafter Ausgangsdaten ziehen mehrere Wissenschaftler ihre Ergebnisse einer Studie zu der Wirksamkeit von Hydroxychloroquin zurück. Der Gesundheitscheck des amerikanischen Präsidenten wird zu dessen voller Zufriedenheit ablegt, die Einnahme von Hydroxychloroquin hat keine negativen Auswirkungen gehabt. Zugleich erklärt der Präsident die Coronakrise in den USA als »weitgehend« überstanden an, weil »Wir haben jede Entscheidung richtig getroffen.«

Nachdem ein katholischer Pfarrer aus Mecklenburg-Vorpommern, der über Pfingsten mehrere Gottesdienste abhielt, positiv getestet wird, werden viele Gläubige in Quarantäne versetzt. Vorläufigen Zahlen zufolge ist die Sterblichkeit in Deutschland in der ersten Maiwoche unter den Durchschnitt der Vorjahre gefallen. Auf Satellitenbildern des Projekts Rapid Action Coronavirus Earth Observation sind die Auswirkungen der Pandemie erkennbar: weniger Schadstoffe, verwaiste Fabriken, kaum Schiffsverkehr.

4. Juni | Wissen

Foto von Yvonne Andrä

Wissen ist, was ich der Beunruhigung entgegensetze. Ich weiß, dass geforscht wird, dass viele die Leerstellen füllen, Unwissen zu Wissen machen, Antworten finden, zu denen ich nicht einmal die Fragen kannte.

Mittlerweile gibt es über zwanzigtausend Studien, Papers, Abhandlungen über das Coronavirus SARS-CoV-2, dem in vielen Artikeln noch immer »das neuartige« vorangestellt ist. Es sind mehr Worte und Zahlen, als dass ein Mensch alles gelesen haben könnte. So viel Wissen existiert darüber, dass niemand alles kennen kann.

Es gibt das populäre Wissen, das überholte Wissen, das unvollständige Wissen, das korrigierte Wissen, das obskure Wissen. Im letzten halben Jahr hat sich so viel Wissen angesammelt, dass nun verglichen werden kann: Die Maßnahmen welcher Länder haben den größten Erfolg gebracht, war es Japan, Südkorea, Deutschland, Schweden, Neuseeland? Welche sind die häufigsten Übertragungswege? Welche die häufigsten Symptome? Wie wirkt das Virus im Körper? Welche Behandlungsmethoden zeigen die beste Wirkung? Welche Medikamententests zeigen die größte Aussicht auf Heilung?

Das zu Wissende hat sich verändert; anstatt Schmierinfektionen Aerosole, nicht nur die Lunge, nicht nur Alte, nicht nur Vorerkrankungen, sondern auch Übergewicht, Zeit der höchsten Infektiosität etc. Dieses Wissen beruhigt. Es verspricht Kontrolle.

Ansonsten: »Mit Wumms« nennt Finanzminister Scholz das Coronakonjunkturpaket, das keine Kaufprämien für Autos enthalten soll, dafür einen »Kinderbonus« von 300€ und die Senkung der Mehrwertsteuer um mehrere Prozent. Die Nutzung von Essenslieferdiensten und To-go-Essensabholungen während der Pandemie haben zu mehr Einwegverpackungen geführt, weshalb die Deutschen Umwelthilfe vor steigenden Abfallbergen warnt.

Laut Gerichtsmedizin war der von Polizisten ermordete George Floyd mit dem Coronavirus infiziert. Aufgrund möglicher Verstöße von Lehrern gegen den Datenschutz beim Digitalunterricht spricht der Thüringer Datenschutzbeauftragte von Bußgeldern in Höhe von bis zu tausend Euro. Die im Vergleich zu anderen Ländern geringe Zahl von Coronatoten in Deutschland ist laut des Neurowissenschaftlers Karl Friston auf immunologische Dunkle Materie zurückzuführen.

3. Juni | MaßnFortentwVO praktisch umgesetzt

Am 14. März schrieb ich: »Gestern Mittag die Nachricht, dass alle Schulen und Kindergärten geschlossen werden. Es herrscht eine Mischung aus notwendigem Reagieren und ungläubigen Staunen, passiert uns das jetzt wirklich?« Knapp zwölf Wochen sind seither vergangen. Diese Woche nun öffnet der Kindergarten wieder.

Dem voraus geht ein Hygieneplan nach §36 IfSG inklusive Infektionsschutzkonzept nach § 5 i.V.m. § 7 ThürSARS-CoV-2-MaßnFortentwVO, ein Dokument von dreizehn Seiten, das an alle Eltern verschickt wird und in dem die praktische Umsetzung des wiedereinsetzenden Regelbetriebs erläutert wird; Raumnutzung, Bringen/Abholung, Sanitärbereich, Mahlzeiten, Betretungsverbot etc. Die Erläuterungen sind recht detailliert, gefühlt zu genau, als dass sich alles exakt so umsetzen lassen könnte. Aber darum kann es auch nicht wirklich gehen.

Jedenfalls die Annahme, dass am ersten Tag der Wiedereröffnung gegen acht Uhr achtzig Eltern mit achtzig Kindern vor dem Tor zum Außengelände stehen und jedes sorgsam geplante Hygienekonzept obsolet machen könnten. Tatsächlich geschieht es anders; ein entspanntes Kommen, ebenso entspannte Erzieherinnen, die ehrlich erfreut sind über das Wiedersehen mit den Kindern, die Wege zu den jeweiligen Gruppen lassen sich genau so wie im Plan beschrieben beschreiten, keine Irritation, keine Unsicherheit.

Damit hält nun das nächste, sehr große Stück Normalität Einzug in die veränderte Gegenwart. So pausieren erst einmal die Gespräche mit Eltern über die Zeit der ausdauernden Kinderbetreuung, Unterhaltungen, in denen man sich vorsichtig an die Meinung des anderen (und an die eigene) herantastet. Vielen Dialogen wird vorangestellt, wie gut man es doch eigentlich hat, dass die Sonne scheint, es warm ist und man viel draußen sein kann, dass es die eigenen Kinder sind, mit denen man Zeit verbringt und so Glück aussieht, darüber sind Eltern sich einig. Die Belastungen, die damit einhergehen, werden eher zögerlich geäußert, dann erst, wenn man sich sicher ist, dass das Gegenüber auch Schwierigkeiten thematisieren möchte.

Denn schlechtes Gewissen geht immer einher mit einem Kind; nicht immer nur Glück zu empfinden, schlechtes Gewissen bei der Abgabe, schlechtes Gewissen beim Fühlen von Erleichterung, zugleich das Gefühl von Bedauern und Melancholie, weil die auf diese Weise miteinander verbrachte Zeit beendet ist und nicht zurückkommen wird. Über allem die Ahnung, dass eine ähnliche Zeit sehr schnell kommen könnte. Ein Verdachtsfall genügt und schon gehören zwanzig Kinder und deren Eltern zu einem Cluster und wer im Cluster ist, verbringt zwei Wochen in einem echten Lockdown. Es wäre weltfremd anzunehmen, man könnte dieser Zukunft entgehen.

Ansonsten: In Folge eines erneuten Coronaausbruchs schließen in Göttingen die Schulen und einige Kindergärten wieder. Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande schließen sich zu einer »Inklusiven Impfallianz« zusammen, deren Ziel die Herstellung eines Impfstoffs auf europäischem Boden ist. Der schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell zeigt sich selbstkritisch über den Sonderweg Schwedens.

2. Juni | Anstatt der Leere

In die Screens und Feeds werden all die ikonischen Bilder und grausamen Videos gedrückt, verschwenkte, unscharfe, von Smartphones mitgenommene Momente voller Gewalt. Ihre Vielzahl ist überwältigend, sie sind direkt, sie greifen an. Diese Clips sind das Gegenteil der Clips der letzten drei Monate, das Gegenteil der Pandemie.

Wo sich zuvor die Leere über alles gelegt hat – entleerte Orte, entleerte Straßen, entleerte Städte – sind die Straßen nun übervoll von Menschen, sind die Plätze besetzt, ist unablässig ein Fließen, wo vorher Stillstand war. Wo zuvor das Nichts die Erzählung war, sich im Ausbleiben von Geschehnissen in der Öffentlichkeit Geschichten abspielten, sich die Leben nach drinnen, ins Private und damit ins Verborgene und Geheime verlagerten, drängen diese Leben nun nach draußen, mit aller Kraft und Wut.

Wo es zuvor leise war und Geräusche fehlten, sirren nun Sirenen, schreien die Protestierenden, weisen Polizisten in Panzerungen lauthals an, kracht und platzt und heult die Gegenwart. Wo es zuvor klare Anweisungen gab und Regeln und deren Einhaltung, sind die Wege ungelenkt, strömt, bricht, zersetzt sich, prallt aufeinander. Wo es zuvor kein Bildnis des Feindes gab, gibt es nun hunderte Bilder von Feinden. Wo zuvor Nichtwissen war und aus diesem Nichtwissen ein Gefühl von Ohnmacht entstand, gibt es nun Wissen und aus diesem Wissen entsteht beängstigende Ohnmacht.

Ansonsten: In Ägypten dürfen Atemmasken nur zerschnitten weggeworfen werden, da ansonsten Händler sie aus dem Müll fischen und in ärmeren Vierteln als Second-Hand-Masken weiterverkaufen. Die Präsidenten von Brasilien und den USA streben gemeinsame Forschungsvorhaben zu Hydroxychloroquin an.

Einer Studie zufolge kam es während der Quarantäne zu einer Häufung von Gewalt gegen Frauen und Kindern: 10,5 Prozent der Kinder und 7,5 Prozent der Frauen, die sich zu Hause in Quarantäne befanden, wurden Opfer körperlicher Gewalt, 3.6 Prozent aller Frauen gaben an, in der Zeit der strengen Kontaktbeschränkungen von ihrem Ehemann oder Lebensgefährten vergewaltigt worden zu sein. Nach einem erneuten Ebolaausbruch warnt die WHO, nicht nur auf die Coronapandemie zu schauen. Mit einer Sondergenehmigung darf das Drehteam von Avatar 2 in das coronafreie Neuseeland einreisen.

1. Juni | spezifisch für diese Zeit

Auswärts gegessen, Spargel, das politischste aller Gemüse. Im Lokal die Tische im Außenbereich unter schattigen Bäumen. Wer kommt, legt den Mundschutz an, betritt den Innenbereich, bekundet Interesse an einem der Tische. Sofern einer frei ist, wird die Tischnummer genannt, eine abwaschbare und damit desinfizierbare Speisekarte mitgegeben. Am Tisch werden die gewünschten Speisen ausgesucht und auf einen eigens dafür mitgebrachten Notizblock vermerkt (Große Apfelschorle II, Spargel klassisch I, Eichblattsalat II etc.). Mit Block und Schutzmaske zurück in den Innenbereich. Dort Nennen der ausgewählten Gerichte. Anschließend Warten im Außenbereich.

Anschließend Ausrufen der Tischnummer. Daraufhin Anlegen des Mundschutzes und Holen der Getränke aus dem Innenbereich. Anschließend trunkenes Warten im Außenbereich. Anschließend erneutes Ausrufen der Tischnummer. Anlegen des Mundschutzes und Holen der zubereiteten Mahlzeiten aus dem Innenbereich. Nach dem Essen Anlegen des Mundschutzes, Mitnehmen der leeren Teller und Gläser, damit Betreten des Innenbereiches, dort Abstellen der Teller und Begleichen der offenen Rechnung. Anschließend Verlassen des Lokals.

Der einzige Grund, den ebenso banalen wie angenehmen Vorgang eines Restaurantbesuchs zu beschreiben, besteht darin, dass Juni 2020 ist. Dahinter steckt die Annahme, dass die Zeiten sich ändern werden und damit die Umstände eines Restaurantbesuchs und dass somit die obenstehende Beschreibung einmal für eine bestimmte Zeit stehen wird, wie ein Blick in eine seltsame Alternativwelt, so wie ich heute auf die britischen Gentlemen’s Club des ausgehenden 19. Jahrhunderts oder Rollschuhdiskos schaue; lustvoll angegruselt vom Umständlichen, angetan von der eigenen, heute nicht zu mehr reproduzierenden Ästhetik.

Zudem das Gefühl, dass die erste Phase des Corona-News-Cycle endgültig durch ist, dass wenig Verlangen besteht, von der Pandemie zu hören, dass die Newsticker die spärlichen Neuigkeiten bürokratisch abhaken und vom Lesenden ebenso erschöpft wie routiniert ertragen werden, dass die Meldungen selbst aber nichts hervorrufen: Die Party am Landwehrkanal, die Hydroxychloroquine-Lieferung der USA an Brasilien, das lokalen Aufflammen von Infektionen aufgrund irgendwelcher Zusammenkünfte lösen nichts aus. Diese Mechanismen sind bekannt, das Bedürfnis an Aufregung längst gesättigt. Das, was die Gedanken befeuert, wohin die Gefühle strömen, sind andere Themen.

Ich mache diese Vermutung an einer Beobachtung fest: Gestern, als ich die Fotos und Videos von den Protesten in den USA gesehen habe – die Polizeigewalt, das gemeinsame Singen, die »I can’t breathe«- Rufe, das Feuer, der Rauch, das Pfefferspray, das abgedunkelte Weiße Haus, die Menschen gegen strukturellen Rassismus – habe ich nur an die Proteste gedacht, an ihre Gründe, ihre möglichen Folgen, die Brandbeschleuniger.

Nicht ein einziges Mal war das Unbehagen, das ich beim Betrachten der Bilder gefühlt habe, dem Umstand geschuldet, dass Menschen viel zu eng beieinander sind. Nicht ein einziges Mal habe ich gedacht: Was, wenn einer von den Protestierenden infiziert ist, wenn er oder sie Superspreader wird? Das Virus war abwesend, die Pandemie, diese Gefahr.

Ansonsten: Zum ersten Mal seit März verzeichnet Spanien keinen Todesfall aufgrund Corona. Am Berliner Landwehrkanal wird eine Veranstaltung für die Rettung der Berliner Kultur wegen zu vielen Teilnehmern abgebrochen. Nachdem die Kapazitätsgrenzen für Tagestouristen erreicht ist, sperren mehrere Ostseegemeinden die Strände. Laut einer Umfrage würde sich jeder zweite Deutsche gegen Corona impfen lassen, Männer häufiger als Frauen. Um die Stimmung zu heben, werden in Japan an vielen Orten Überraschungsfeuerwerke gezündet. Zum ersten Mal seit vielen Wochen begibt sich die Queen wieder auf einen Ausritt.

31. Mai | Alles andere

Gestern kein Eintrag, weil ich dachte, es gäbe nichts zu berichten. Dabei passiert gerade so viel: Raketenstart, Unruhen in Hongkong, vor allem die Proteste in den USA. Doch haben all diese Geschehnisse nichts mit dem Thema zu tun, das seit drei Monaten alles andere beiseitedrängt.

Ich bemerke, dass ich alles, was passiert, unter dem Gesichtspunkt betrachte: Was hat das mit dem Virus zu tun? Das liegt auch an diesen Notizen. Ich scanne die Wahrnehmung meiner eigenen kleinen und die der großen Welt und ignoriere, was nicht zu verwerten ist, was nicht auf das Paradigma passt, das ich seit drei Monaten über alles lege. Alles andere wird zweitrangig.

Dabei entgehen mir Zusammenhänge. Das Größte, was geschehen kann – der Mensch bricht zu fremden Sternen auf – ist mir eine Randnotiz. Es ist mir die Mühe nicht wert, in Erfahrung zu bringen, warum die Menschen in Hongkong auf die Straße strömen und wie erfindungsreich sie das tun, weil ich lieber über den Methoden der Bild-Zeitungen brüten möchte.

Ich sehe nicht das Video an, das eine weiße Frau zeigt, die einem schwarzen Mann droht, die Polizei mit einer Lügengeschichte zu rufen, in vollem Bewusstsein, was das für Folgen für ihn haben könnte. Ich sehe nicht das Video an, in dem ein weißer Polizist viele Minuten auf dem Hals eines schwarzen Mannes kniet, so lange, bis der Mann gestorben ist, der Polizist gefilmt, wohlwissend, dass dieser Mord keine Konsequenzen für ihn haben wird, dieser gefilmte Mord vor aller Augen stellt kein Gefahr für den Mörder da. Ich sehe nicht zu den Protesten, der Wut und ihrer Größe.

Dann lese ich, dann höre ich, dann sehe ich.

Und während ich das tue, verstehe ich das meiste weiterhin nicht, aber doch manches mehr. Es ist niederschmetternd, es ist genauso verzweifelt und hoffnungslos wie die vielen Male davor und während ich das fühle, beginne ich, entgegen jeder bewusster Absicht, Verbindungen zur Pandemie zu ziehen, denke an die erhöhten Todesraten in bestimmten Bevölkerungsgruppen, die im Zuge der Pandemie ausgeweiteten Machtbefugnisse von Autoritäten, die Gewissheiten, die die Pandemie hinweggefegt hat und dass es so selbstverständlicher geworden ist, das Bestehende in Frage zu stellen, vermute wider besseren Wissens: Ohne die Pandemie wäre vielleicht das gleiche geschehen, aber nur mit der Pandemie geschieht es weiter, wie es gerade weitergeschieht.

Ansonsten: Die Stadt München verbietet auf Coronakundgebungen das Tragen von gelben Sternen, mit denen Demonstranten gegen eine vermeintlich drohende Impfpflicht protestieren. Sicherheitsexperten warnen vor einem dreihundert Euro teurem Anti-5G-Stick, der nur ein leerer 128 MB USB-Stick ist. Laut einer Untersuchung war während des Lockdowns das Fahrrad zeitweise das am häufigsten benutzte Verkehrsmittel, noch vor dem Auto.

Um den Abstand zwischen Gruppen zu gewährleisten, werden in Parks mit Rasenmarkierfarbe weiße Kreise auf die Wiesen gemalt. Der dänische Fußballklub Aarhus GF schaltet während eines Geisterspiels Fans auf mehreren großen Leinwänden zu. Die weltweite Infiziertenzahl steigt über sechs Millionen.

29. Mai | Unkenrufe

Neben vielem anderen offenbart die Pandemie auch die jeweilige Haltung zur Welt und den Dingen: wer geht vom Besten aus, wer lässt es eher locker angehen, wer schaut rational, wer vorsichtig, wer skeptisch, wer vermutet hinter allem, was geschieht, böse Absichten – jeder wird sich in der Pandemie irgendwann einmal bestätigt finden. An diesen ausgewählten Momenten, in denen sich Annahme und Wirklichkeit kurzzeitig übereinanderschieben und dann synchron erscheinen, lässt sich die Bestätigung für das eigene Weltbetrachtungsmodell ableiten.

Ich jedenfalls halte es so und sehe ich mich deshalb oft bestätigt. Ich beende Gespräche mit einem Satz wie »In zwei Wochen ist dann Lockdown« oder »Wir sehen uns in der Zweiten Welle.« Von den täglich neu bestimmten Reproduktionszahlen schreibe ich, wenn sie über 1 liegen, nicht, wenn sie darunter sind. Lokalen Infektionsausbrüchen messe ich besondere Bedeutung zu, weil sie mir Indiz sind dafür, dass die Sache mit der Lockerung nicht aufgeht.

Die Pandemie zeigt mir: Tendenziell gehe ich vom möglichen Katastrophalen aus, davon, dass das Gewarnte passiert, im Spektrum orientiere ich mich unterhalb der X-Achse. Das muss nicht zwangsläufig etwas Schlechtes sein. Es ist der Ton, der in den Beobachtungen hier und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen klingt, so sind sie einzuordnen.

Gerade wird diese Weltsicht ganz schön auf den Prüfstand gestellt. Wissenschaftler sprechen davon, dass Deutschland ohne zweiten Lockdown und ohne zweite Welle davonkommen, dass die Pandemie auch ohne Impfstoff beendet werden könnte. Die Zahlen geben dem recht, denn trotz Lockerungsmaßnahmen steigen – bis auf wenige regionale Ausnahmen – die Infektionszahlen nicht. Das sind gute Nachrichten für Menschen und schlechte für Pessimisten. Aber die rechnen ja sowieso mit nichts anderem.

Noch ein Nachtrag zu gestern. Ein Interview mit Christian Drosten wird ab morgen Titelgeschichte des Spiegels sein. Darin erklärt Christian Drosten auf die Frage, ob er sich mit den selbstlosen Mentorenprototypen Gandalf oder Obi Wan Kenobi vergleichen würde: »Wer ist das? Ich kenne die Figuren nicht.« Zur Bild-Zeitung sagt er: »Sollte ich mich fürchten? … In meinem Alltag kommt die Bild-Zeitung nicht vor.« Und zu Bild-Chef Julian Reichelt: »Wer Herr Reichelt ist, weiß ich auch erst seit Montag.«

Besonders die letzten beiden Antworten sind in ihrer trocken vorgetragenen Unkenntnis wunderbar. Das Prinzip der Bild-Zeitung beruht darauf, dass Menschen Angst vor ihr haben und die Bild deshalb über sie verfügen kann. Wenn jetzt jemand kommt und sagt, die Bild sei ihm unbekannt, interessiere ihn nicht, spiele auch keine Rolle in seinem Leben, dann muss dieses Angstprinzip ins Leere laufen. Das ist die Pflicht. Die Kür ist, der Bildchefredaktion, die für sich gar nicht so heimlich in Anspruch nimmt, Mitbestimmen zu wollen, ins Gesicht zu sagen, euch kenne nicht ich, ihr seid zu unwichtig für mich. Das ist Drostens nächster Mic Drop.

Natürlich ist es dann doch nicht so einfach. Die Titelgeschichte ist mit den Worten überschrieben: »Verehrt und Verhasst – der Glaubenskrieg um den Virologen Christian Drosten.« Und da reibt sich die Bild-Chefredaktion doch wieder die Hände: Weil es die Wissenschaft in eine Glaubensfrage überführt, so, wie es von Anfang an intendiert war.

Ansonsten: Laut Statistischem Bundesamt sind im April in Deutschland acht Prozent mehr Menschen als im Schnitt der vier Vorjahre gestorben, ein Zusammenhang der Entwicklung mit der Corona-Pandemie sei naheliegend. Laut einer Umfrage findet eine Mehrheit der Deutschen Maskenpflicht fairer als eine freiwillige Regelung. Während eines Gottesdienstes in einer Bremerhavener Pfingstgemeinde haben sich 44 Menschen infiziert, hundert sind in Quarantäne.

Nachdem sie einen Laborassistenten angegriffen haben, entkommen mehrere zu Testzwecken mit Corona infizierte Affen aus einem indischen Labor, was in etwa die Prämisse der beiden dystopischen Filme 28 Tage später und 12 Monkeys ist. Knuffelberen als Werbeträger für einen wiedergeöffneten Vergnügungspark:

28. Mai | Die hohe Kunst des subtilen Disses

Weiterhin führt die Bild-Zeitung ihre Kampagne gegen den Virologen Christian Drosten fort. Wie üblich zieht ein Text Texte nach sich, die über den ersten Text schreiben und dadurch weitere Texte hervorrufen und damit die Botschaft verbreiten, so den gewünschten Zweck erfüllen.

Der Virologe Alexander Kekulé, ebenfalls in Besitz eines Coronapodcasts, schreibt einen Text, in welchem er begründet, weshalb die Studie zurückgezogen werden müsse. Drosten veröffentlicht daraufhin mehrere Tweets, in einem heißt es: »In unserer Community spielt er keine Rolle«. In einem anderen praktiziert er die hohe Kunst des subtilen Diss, schreibt: »Kekulé selbst könnte man nicht kritisieren, dazu müsste er erstmal etwas publizieren.«

Wenn die Debatte über die unterschiedlich hohe Virenlast im Rachenraum von Kindern und deren Folgen für die Infektiosität mit Covid19 ein Battlerap wäre, würde Kekulé nun geschlagen und gedemütigt von der Bühne flüchten müssen, Christian Drosten könnte das Mikrofon theatralisch zu Boden droppen lassen.

So amüsant könnte das sein, Diss statt Dissertation, Virologen in öffentlichen Scharmützeln, geführt wie von geschassten Fußballtrainern oder Reality-TV-Darstellern, so surreal, wenn der medial beachteste Zweikampf zwischen Wissenschaftlern stattfindet, wenn zwei Forscher so bekannt sind, dass allein ihre Namen ausreichen, um Bilder im Kopf hervorzurufen, wenn Gelehrte die typischen Twists sonstiger Boulevardschlammschlachten abarbeiten, so amüsant, wenn es nicht die Zahlen gäbe, hunderttausend 100 000 einhunderttausend Tote in den Vereinigten Staaten, einhunderttausend Menschen gestorben, weltweit 350000 gestorben, diese Zahlen gegen das Unterhaltende, das Kampagnenhafte, das Amüsierenwollen, das Absägenwollende, die Rechthaberei, die Eitelkeit, die Saat der Niedertracht aufgegangen.

Ansonsten: Wegen der Berichterstattung der Bild über die Studienergebnisse Christian Drostens stoppt die AOK ihre Werbeanzeigen in der Zeitung. Laut einer Studie wächst von Mitte März bis Mitte Mai das Vermögen amerikanischer Milliardäre um 434 Milliarden Dollar, die größten Zugewinnen verzeichnen Jeff Bezos mit 35 Milliarden Dollar und Mark Zuckerberg mit 25 Milliarden Dollar. In Brasilien sagt die Beraterin des Wirtschaftsministers: »Es ist gut, dass sich die Todesfälle auf die älteren Menschen konzentrieren… Dies wird unsere wirtschaftliche Leistung verbessern, da es unser Rentendefizit verringern wird.«

Die Zahl der Infizierten nach einem Gottesdienst in Frankfurt steigt auf über zweihundert. Nach einem Coronaausbruch in einem Leerer Restaurant muss der Betreiber das Geschäft aufgeben, weil die Gemeinde festgestellt habe, dass der Mann »als Person das Lokal nicht betreiben darf«. In einem Zoo auf Bali wird eine neugeborene Giraffe Corona genannt. Laut Zoo ist Corona kerngesund.

27. Mai | Endlich außerhalb der Wahrnehmung

Heute erst registriert, dass ich von den sogenannten Coronaprotesten vom vergangenen Wochenende kaum etwas gehört oder gelesen habe, dass sich über die Anticoronaprotagonisten der letzten Wochen kaum noch empört wurde. Ich werte dies als gutes Zeichen.

Ansonsten: Laut einer Umfrage glauben zwanzig Prozent der Wahlberechtigten, dass Medien und Politiker die Gefahren durch das Coronavirus absichtlich übertreiben. Der Aufsichtsrat der Frankfurter Buchmesse beschließt, dass die Frankfurter Buchmesse stattfinden soll. Nachdem Boris Johnson aus Sicherheitsgründen nicht mehr in der Öffentlichkeit Sport machen darf, joggt der Premierminister nun mit Genehmigung von Elizabeth II. im Garten des Buckingham-Palastes. Weil für die Produktion von Gesichtsmasken Zellstoff verwendet wird, werden in China Windeln knapp.

26. Mai | Hab Besseres vor

Abendspaziergang durch Weimar. Viele junge Eltern mit Kindern unterwegs, alle in gelöster Stimmung, weil nach Pfingsten die Ganztagsbetreuung wiederaufgenommen werden soll. Überhaupt alle in gelöster Stimmung wegen des geplanten Lösens der Maßnahmen, wenn auch die Stadt deutlich leerer ist als an sonstigen lauen Frühjahrsabenden.

Im Garten des Hotel Elephant sitzt einsam ein alter Mann und schaut traurig auf sein Hefeweizen. Vor einem italienischen Restaurant steht ein Ober und telefoniert mit Zuhause. In keinem Schaufenster hängt noch die BILD-Zeitung, dessen Titelschlagzeile heute war: Schulen und Kitas wegen falscher Corona-Studie dicht. Kollegen von Star-Virologe Prof. Drosten räumen Fehler ein. Online klang es so: Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch. Wie lange weiß der Star-Virologe schon Bescheid?

Der Text ist getragen von der böswilligen Unkenntnis der Gepflogenheiten wissenschaftlicher Praxis, Vorabstudien kritisch zu besprechen, ein typisches Beispiel der Niedertracht der Zeitung, eine Kampagne mit klarem Ziel, Person zu beschädigen, und mehr noch, Wissenschaft an sich, Zweifel zu streuen. Wie es hier heißt: »Das ist jetzt ein Kampf um Deutungshoheit und ein Kampf um Geschichtsschreibung: Wie werden die Corona-Wochen beurteilt? War es richtig solidarisch zu sein? Welchen Stellenwert hat Medizin? Wo wir es doch gewohnt sind immer auf „die Wirtschaft“ zu hören? Was bleibt?«

Christian Drosten veröffentlicht gestern die Anfrage des zuständigen Redakteurs und schreibt dazu: »Ich soll innerhalb von einer Stunde Stellung nehmen. Ich habe Besseres zu tun.« Und das ist ein Satz, den man viel öfter sagen sollte.

Ansonsten: Christan Drosten und Karl Lauterbach erhalten Drohbriefe mit beigelegten Ampullen, die vorgeblich das Covid19-Virus enthalten. Südtirol bietet Urlaubsgästen als Reiseanreiz kostenlose Coronatests an. Unionspolitiker fordern, wegen der Coronakrise den Mindestlohn zu senken. J.K. Rowling veröffentlicht ein Märchen, dessen Erlöse an Hilfsprojekte der Pandemie gehen sollen. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann droht Thüringen mit Gegenmaßnahmen zu den in Aussicht gestellten Lockerungen der Coronaschutzmaßnahmen.

25. Mai | Plakatiert

An der Plakatwand des Weimarer Lichthauskinos, das seit Mitte März geschlossen ist, hängt, im aggressivsten aller Rosatöne, sieben Mal das Filmposter von Systemsprenger und etwas lässt mich ahnen, dass damit eine Botschaft verbunden sein könnte.

Ansonsten: In Berlin liegt die Reproduktionszahl zum dritten Mal in Folge über 1,2. Muslime nutzen den Parkplatz eines Ikeabaumarkts für ihre Gebete. Laut einer Studie sind über vierzig Todesfälle durch das Coronavirus in Großbritannien möglicherweise auf das Champions-League-Spiel zwischen dem FC Liverpool und Atlético Madrid am 11. März zurückzuführen.

Weil der Flughafen auf der Insel noch für internationale Flüge gesperrt ist, muss der erste Ferienflug seit Beginn der Coronakrise von Eurowings nach Sardinien abgebrochen werden und die Maschine zurück nach Düsseldorf kehren. An Bord befinden sich zwei Passagiere. Bodo Ramelow, dessen Ankündigung, künftig auf »lokale Ermächtigungen« sowie die Eigenverantwortung der Menschen zu setzen, deutschlandweit diskutiert werden, besucht die Autokinovorführung des Films Kinderblock 66 in Weimar. Thüringen will den Landeskrisenstab zur Coronapandemie auflösen.

24. Mai | Tagebuch III

Drei Monate vergangen. Seit einigen Tagen ernsthaft die Überlegung, mit dem Aufzeichnen zu stoppen. Nicht, weil es nichts zu beschreiben gäbe, sondern weil es nicht mehr von Bedeutung scheint, über die Pandemie zusätzliche Worte zu verlieren, weder für mich noch für andere.

Der Zweck, mit dem ich Februar gestartet bin, scheint überholt und verblasst. Zu viel Gewöhnung an die Ausnahme, die Nachrichten rasen mittlerweile genauso in Überschriften vorbei, wie sie es davor taten, die Wahrnehmungen doppeln sich, die Aufmerksamkeitsspanne sinkt rapide. Die Reibungspunkte, die entstehen, lassen mich ermüden oder empören, für beides braucht es keine täglichen Reflexionen.

Dabei besteht die Funktion eines Tagebuchs auch darin, gerade das Nichtinteressante, das Zähe, das Ausbleiben, die Langeweile, die Leerstellen festzuhalten. Das Atemlose, das Getriebene zu beschreiben, die Tage zu erzählen, in denen alle halbe Stunde der innere Breaking-News-Ticker anspringt, macht keine Mühe.

Aber für die lange Zeit des langsamen Fließens, die ständige Wiederholung, die Redundanz, die Redundanz, die Redundanz, die Redundanz, die Redundanz, die Redundanz, die Redundanz, die Redundanz, das X-mal-Gesagte Worte zu finden und einzuordnen, in den Nuancen, den kaum wahrnehmbaren Verschiebungen etwas zu entdecken, das fordert den Blick, erfordert Schärfe, das erst macht ein Tagebuch vollständig und erlaubt im Rückblick ein einigermaßen faires Bild einer einstigen Gegenwart.

Jetzt aufzuhören und gegebenenfalls im Herbst (bzw. in Thüringen in drei Wochen) wieder einzusteigen, erscheint angemessen und falsch zugleich. Es wäre nötig, eine Form zu finden, um das Kommende und Banale einzubringen, weniger Einträge, dabei stärker Alltägliches suchen und dafür auf den großen Blick über den Tellerrand verzichten, flanierender Fensterrentner sein, auch mal abends schon 22.00 Uhr in den Schlaf finden.

Weil ich mir im Grunde nur wünsche, dass es in nächster Zeit nur Ausbleibendes zu beschreiben gäbe.

Ansonsten: Die New York Times druckt auf ihrer Titelseite 1000 Namen von Menschen ab, die an Covid19 gestorben sind, damit 1% aller amerikanischen Toten. An einem Tag werden in Wuhan mehr als eine Million Coronatests durchgeführt. Seit mittlerweile zwei Monaten befindet sich ein bolivianisches Panflötenorchester auf dem Gelände eines großen Palastes aus dem 15. Jahrhundert in Quarantäne.

23. Mai | Weisheit der Zecke

Im regenfeuchten Wald gewesen, aus den Gebüschen eine Zecke mitgebracht. Sie sagte: Zu Beginn der Pandemie glaubte ich noch, übertriebene Angst und daraus entstehende Panikmache wäre die größte Gefahr für die Gesellschaft. Heute denke ich, ist es das Fehlen der Furcht.

Ansonsten: Der Thüringer Ministerpräsident kündigt an, ab Anfang Juni die allgemeinen Corona-Beschränkungen zu beenden, womit die landesweiten Vorschriften zu Mindestabständen, das Tragen von Mund-Nasen-Schutz sowie Kontaktbeschränkungen nicht mehr gelten würden. Beim Gottesdienst einer Frankfurter Baptistengemeinde infizieren sich über vierzig Personen. Bei einem Restaurantbesuch infizieren sich elf Personen, siebzig Betroffene befinden sich in Quarantäne. Mindestens 37 Menschen haben sich in einer Flüchtlingsunterkunft in Regensburg mit dem Covid19-Virus angesteckt. Nach einem Coronaausbruch mit 45 Infizierten in einem niederländischen Schlachthof befinden sich sechshundert Mitarbeiter in Quarantäne.

In London stirbt ein 61-jähriger Taxifahrer, nachdem ihn ein mit Covid19 infizierter Passagier während der Fahrt anspuckte. In Berlin beten Muslime in einer Kirche, weil in der naheliegenden Moschee nicht ausreichend Platz für Social Distancing ist. Eine Kölner Kneipe warnt ihre Gäste, die kleinen Fläschchen Desinfektionsmittel wie Obstler zu trinken.

Weil wegen Corona das Geschäft mit Leihwagen zusammengebrochen ist, muss der Autovermieter Hertz Insolvenz anmelden. Laut einer Studie ist das von Donald Trump empfohlene und eingenommene Hydroxychloroquin wirkungslos gegen Covid19 und erhöht das Sterberisiko.

22. Mai | Contagion

Gestern etwas getan, was ich mir seit Mitte März vorgenommen hatte: Contagion zu sehen. In diesen Film erzählt Steven Soederbergh von einer Pandemie, die Millionen Menschenleben kostet.

2011 sah ich den Film im Kino und schrieb: »Dieser als Virenthriller verkaufte Lehrfilm reduziert Menschen konsequent auf Funktionen. Damit seziert Soderbergh aus der Gottperspektive eine Katastrophe, die nach jeder Wahrscheinlichkeitsrechnung längst schon hätte eintreten müssen. Ein Film wie ein Diagramm an einer Weißwandtafel. Dabei bleibt nach den eiskalten, distanzierten hundertfünf Minuten schon das Gefühl, dass wenn, es fast genauso passieren könnte. Und dann will man mit Sicherheit lieber Matt Damon als Gwyneth Paltrow sein.«

In einer Pandemie einen Film über eine Pandemie zu schauen ist wie einen Film zu schauen, der bei einem vor der Haustür gedreht wurde. Mit Gänsehaut gleicht man Fiktion mit den vertrauten Orten und Geschehnissen ab und freut sich, wenn Nachbar XY als Statist für ein paar Sekunden durchs Bild huscht.

Hier eine seltsame Form von Genugtuung, wenn Kate Winslet an einer Weißwandtafel die Reproduktionszahl erklärt. Wenn Laurence Fishburne von sozialer Distanz spricht. Am Ende enthüllt wird, dass das Virus von einer Fledermaus stammt. Wenn ein Blogger/Youtuber öffentlichkeitswirksam und eigennützig Verschwörungsmythen verbreitet. Wenn Turnhallen zu Intensivstationen umfunktioniert werden. Wenn menschenleere Flughäfen und Einkaufszentren gezeigt werden. Eben all das Bekannte aus den letzten Wochen, dass 2011 wie eine dystopische Fiktion schien, von der, ich weiß noch, wie wir nach dem Kino in Nürnberg zusammenstanden, sagten: Das scheint schon alles ziemlich realistisch gemacht.

Bei allem Behagen beim Abgleich von Gemeinsamkeiten ist der Blick geschärft für die Unterschiede. Es fällt auf: Viel zu spät wird über exponentielles Wachstum gesprochen. Trotz einer fiktiven Tötungsrate von 25% tragen Wissenschaftler viel zu selten Mundschutzmasken im öffentlichen Raum. Der Impfstoff wird verhältnismäßig schnell gefunden, schneller jedenfalls, als Virologen es uns in der Wirklichkeit lebenden Menschen in Aussicht stellen.

Noch interessanter und weiter von der Wirklichkeit entfernt wird es bei den apokalyptischen Takes: In der Realität werden Supermärkte standardmäßig eben nicht ausgeraut und angezündet, sondern man schlägt sich maximal um Toilettenpapier. Das Ausrauben von Häusern und daraus folgend eine erforderliche Selbstjustiz ist eine Fantasie von amerikanischen Stand-Your-Ground-Waffenbesitzern geblieben. Die entleerten und zerstörten, von traurigen Müllsäcken gefüllten Vororte, all das, was Dystopien üblicherweise auszeichnet, sind nur still geworden, aber nicht zerstört. Anders als Dystopien annehmen, wird der Mensch nicht augenblicklich dem Mensch ein Wolf, gilt nicht sofort Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Interessant ist das eingetretene Apokalyptische, das der Film ausspart: dass für Krankenschwestern geklatscht wird, das große Geld aber an Luftverkehrsbetriebe und Autokonzerne geht. Dass Minderheiten stärker von der Auswirkung des Virus betroffen sind. Die Hilflosigkeit, wenn im Familienkreis einer mit Verschwörungsmythen anfängt. Die Alleingelassenen in Quarantäne.

Auch für das geschehene Gute ist im Fiktionalen wenig Platz: das Geld, das schnell Vielen bereitgestellt wurde, die Nachbarschaftshilfen, die autofreien Innenstädte, der Rückgang der Emissionen.

Vielleicht, weil sich diese Leerstellen so schwer innerhalb einer Geschichte erzählen lassen, lassen sie sich auch so schwer in der Wirklichkeit erzählen. Das Bild eines Demonstranten mit Aluhut ist einfacher zu verstehen als die Statistik, die zeigt, dass globale Konzerne von der Pandemie profitiert, während kleine, lokale Händler deutlich verloren haben.

Nach dem Schauen jedenfalls das gute und vorerst beruhigende Gefühl, dass sich Fiktion und Realität in etwa in der Hälfte des Films deutlich voneinander zu trennen scheinen und dass es zur Beschreibung der aktuellen Gegenwart andere Fiktionen braucht, solche, die noch nicht geschrieben sind.

Ansonsten: Laut Presseberichten stehen die Verhandlungen kurz vor dem Durchbruch, die eine Kaufprämie für Autos, die neunzig Prozent aller Neuwagen umfassen würde, in Höhe von 4000 Euro bedeuten würde. Der Finanzminister stellt einen Bonus für Eltern in Aussicht, 300 Euro pro Kind. Anstatt der vor einigen Wochen behaupteten einhunderttausend Mitglieder hat die Mitmachpartei Widerstand 2020 laut eigenen Angaben vierzig Mitglieder. Getarnt als Desinfektionsmittel versuchen Kriminelle Chrystal Meth nach Australien schmuggeln.

21. Mai | Himmelfahrt

Verspüre keine Irritation mehr, wenn ich größere Menschengruppen sehe: wenn sie gemeinsam auf in Parks ausgelegten Decken picknicken, Vätergruppen am Vatertag mit Bollerwagen und den üblichen Scharmützeln, Teenager mit Bluetoothboxen, die sich durchs Gebüsch am Fluss kämpfen, um eine idyllische Stelle fürs Abhängen zu finden, die in den Liegestühlen vor den Lokals mit den Hefeweizen in der Hand, fünfzehn Kinder mit Eltern auf einem Spielplatz – jeder wirkt eins mit sich und den anderen, selbstverständlich das Beisammensein, nie war es anders.

Himmelfahrt fegt die letzten Reste der Pandemie hinfort. Die lästigen Begleiterscheinungen davon (Coronapfunde, Coronanfrisur, in der Bauchtasche das ständige Mitführen einer Maske, der Vergleich der Hygeniedemonstrationen mit Pegida) werden in den nächsten Wochen so weit wie möglich minimiert werden. Im Hinterkopf die wenigen unglücklichen Coronaverlierer (Kinos, sonstige Veranstaltungsorte, Krankenhäuser, Heime, Eltern, deren Kinder zu unterschiedlichen Zeiten in Schulen müssen, diese Kinder etc.). Ansonsten die Gedanken an die letzten zehn Wochen als das, was sie jetzt sind: Erinnerungen.

Ansonsten: Der sächsische Ministerpräsident spricht mit einem Mann, der wortwörtlich einen Aluhut auf dem Kopf trägt. In einer Studie, die mit Hamstern durchgeführt wird, sinkt das Infektionsrisiko gesunder Tiere um 75 Prozent, wenn die Käfige infizierter Artgenossen mit dem Stoff einfacher OP-Masken versehen waren. Der Deutsche Städtetag wirft Krankenkassen und Kassenärzten vor, eine Ausweitung von Coronatests zu bremsen, z.B. indem die Finanzierung von Tests in Pflegeheimen, bei Pflegekräften oder im Rettungsdienst aufgekündigt wird. Bei einem Besuch einer Fabrik im US-Bundesstaat Michigan trägt der amerikanische Präsident erneut keine Schutzmaske, weil: »Ich wollte der Presse nicht die Freude machen, das zu sehen.«

20. Mai | Hyperrealität

Am Anfang der Pandemie las ich an einer Stelle, dass die Pandemie nicht die Realität unwirklich und alternativ erscheinen lassen würde, sondern sie überdeutlich zeige. Corona würde das verstärken, was ohnehin schon da sei, wie unter einem Brennglas die Wirklichkeit bündeln, Corona schaffe eine hyperrealistische Realität, eine Hyperrealität.

Das Virus offenbare das Gute ebenso wie das Schlechte, zeige Gelingen und Versagen gleichermaßen. Wo das Gesundheitssystem funktioniert, hat es auch in der Krise arbeiten können und wo nicht, kam es zu besonderen Schwierigkeiten. Wo die Demokratie intakt ist, hat das die demokratischen Funktionen eher gestärkt und in autoritären Systemen das Autoritäre. Wer von Haus aus solidarisch war, war es in der Krise besonders und wer egoistisch, handelte egoistischer.

Corona legt offen, wie es um die Pflegesituation besteht. Corona verrät, was für Probleme entstehen, wenn Bereiche allein unter dem Primat des Ökonomischen betrachtet werden. Corona macht die Inkompetenz und Gefährlichkeit von Populisten überdeutlich. Wer latent zu Verschwörungstheorien neigte, wird nun besonders anfällig für Gatesgate und 5G. Wer Spießer ist, konnte sein Spießertum ausleben und bei der Polizei Nachbarn melden, sobald diese zu dritt zusammenstanden.

Corona zeigt, welche Bevorzugung Fußball im Vergleich zu anderen Sportarten genießt. Corona zeigt, wie gut der digitale Wandel in der Schule angekommen ist. Corona zeigt, welche Priorität Kinderbetreuung in der Politik eingeräumt wird, wie weit es gesellschaftlich mit Gleichberechtigung in Deutschland bestellt ist. Im Homeoffice zeigt Corona, wie Arbeitgeber Arbeitnehmer behandeln. Corona zeigt die Situation in Schlachthöfen und damit die der Fleischindustrie. Corona zeigt, wie solidarisch sich Autokonzerne verhalten.

Corona offenbart das Wesen von Menschen, in dem es zeigt, wer Mundschutz trägt, obwohl er damit nicht sich selbst schützt, dafür andere. Das Virus zeigt, wer woher welche Informationen aufnimmt und sie verarbeitet, wer zuhört, wer schreit. Corona zeigt, wie Politiker in extremen Krisensituationen handeln, welche Prioritäten sie setzen, welche Worte sie verwenden. Das Virus zeigt, von welcher nationalen Bedeutung Friedrich Merz ist.

Alles Aufgezählte ist keine Überraschung. Es gibt keine neuen Erkenntnisse. Was jetzt passiert, was schiefläuft und was gut, war vorher schon so. Es war ein Test. Jetzt ist der Ernstfall.

Und weil Corona nicht nur zeigt, was da war, sondern, auf einer weiteren Ebene auch zeigt, was sein könnte, schafft das Virus Möglichkeitsräume. Corona zeigt, wie sich Luftwerte ändern können, wenn weniger Verkehr ist. Das Virus zeigt, wie Innenstädte ohne Autos aussehen können. Wie der Himmel ohne Flugverkehr. Meetings ohne Reisen. Wenn Nachbarn für Nachbarn einkaufen. Corona zeigt, was sein könnte, wen es gewollt ist. Corona zeigt die Vergangenheit, ist Gegenwart. Corona könnte die Zukunft zeigen, wie man sie nur ließe.

Ansonsten: In den Niederlanden soll sich ein Mann bei einem Nerz angesteckt haben, was die erste Übertragung vom Tier auf den Menschen in Europa wäre. Der südkoreanische Fußballclub FC Seoul, der während eines Geisterspiels Sexpuppen als Zuschauerattrappen einsetzte, wird zu einer Strafzahlung in Höhe von 100 Millionen Won verurteilt. Mehrere medizinische Fachgesellschaften fordern eine umgehende und unbeschränkte Wiederöffnung von Schulen und Kitas.

Die WHO meldet so viele Neuinfektionen wie noch nie an einem Tag, besonders in ärmeren Ländern steigen die Zahlen besorgniserregend schnell. Nach einer Häufung von Coronainfektionen in Schlachtbetrieben beschließt die Bundesregierung ein Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie. Der Vorsitzende des Weltärztebundes spricht sich für eine Coronaimpfpflicht aus. Laut einer Analyse ist der am häufigsten in den Medien erwähnte Virologe mit großem Vorsprung Christian Drosten. Alfons Blum im Interview.

19. Mai | Spaziergänger nebeneinander

Dafür, dass ich finde, dass Coronademonstrationen zu viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, beschäftige ich mich viel zu viel damit. Auch gestern stand mir eigentlich ein anderer Eintrag im Sinn. Dann sah ich das kurze Video vom Geraer Coronaspaziergang.

Es berührte mich. Da ist das Leid des Rentners, für das er eine Öffentlichkeit sucht, vielleicht nicht einmal das, vielleicht ist es Verzweiflung, die ihn auf den Geraer Marktplatz treibt. Und da ist der prototypische Coronaspaziergänger, der seine Annahmen dem Rentner ins Gesicht bellt, ihn anschreit und auffordert, einer, der nicht zuhört, einer, der nur das Wort von der Diktatur irgendwie unterbringen will.

Beide sind am selben Ort zur selben Zeit. Beide sind Spaziergänger und doch könnten die Motivationen beider unterschiedlicher nicht sein. Beide Spaziergänger nebeneinander zeigt, bei aller Berührung, eine gute Ambivalenz auf, gerade mir.

Denn ich finde, dass jeder, der an einer Demonstration teilnimmt, in der Pflicht ist, sich über die Beweg- und Hintergründe der Initiatoren zu informieren, wissen sollte, mit wem er da läuft und sich distanzieren sollte, wenn er anderer Meinung ist, abgrenzt, so gut das eben möglich ist bei einer Veranstaltung mit vielen, unter Umständen tausenden Menschen. Spätestens seit Pegida kann sich kein Demonstrationsteilnehmer mehr auf »besorgter Bürger, der einfach seine Meinung kundtun will« herausreden, besonders und gerade bei den sogenannten Coronaprotesten.

Ein Demonstrationszug muss als homogene Masse gesehen werden, allein aus der Sache heraus entsteht ein gemeinsames Anliegen. Also ist jeder auch für alles verantwortlich zu machen. Aber das Video von Gera zeigt, dass diese Annahme Wunschdenken ist, dass es so einfach nicht sein kann. Den Rentner Alfons Blum kann ich nicht verantwortlich machen für Attila Hildmann, Reichsbürger und Holocaustleugner, die den gelben Judenstern mit der Innenschrift »Ungeimpft« tragen. Ich kann sie nicht im selben Atemzug nennen, obwohl sie alle Spaziergänger sind.

Das Video fordert eine Differenzierung von mir, so ungern ich diese auch vornehmen möchte. Und zugleich zeigt das Video, wie eine solche Differenzierung aussehen könnte, wie Abgrenzung. »Man muss auch vernünftig bleiben«, sagt Alfons Blum am Ende. Er sagt es, schreit es nicht, obwohl er allen Grund dazu hätte.

Ansonsten: Mehrere Bundesländer melden erstmals seit Monaten keine Neuinfektionen. Laut der russischen Gesundheitsministerin ist die Corona-Sterblichkeit in Russland weiterhin um den Faktor 7,6 niedriger als der weltweite Durchschnittswert. Um den Handel zu fördern und mehr Sitzgelegenheiten in Restaurants und Cafés im Freien zu ermöglichen, wandelt Tel Aviv elf Straßen in Fußgängerzonen um.

Der BMW-Konzernchef, der kürzlich staatlich finanzierte Kaufanreize für Neuwagen forderte, kündigt eine Auszahlung der Dividende in Höhe von 1,6 Milliarden Euro an, wovon etwa 800 Million Euro auf zwei Großaktionäre, die zu den reichsten Deutschen gehören, entfallen würden. 30.000 von 90.000 BMW-Mitarbeiterinnenn befinden sich derzeit in Kurzarbeit

18. Mai | Schreien und Hören

Gera, Marktplatz, Coronaspaziergang

»Was hat Sie denn heute hierher getrieben auf den Markplatz hier dabei zu sein?«
»Meine Frau ist in einem Pflegeheim seit …«

Alfons Blum beginnt zu weinen.

»… Mitte Dezember. Sie ist 84. Ich auch. Und ich hab sie schon acht Wochen nicht gesehen. Es ist eine seelische Folter, sage ich Ihnen. Jeden Tag war ich hingegangen und jetzt [unverständlich] dass ich kann.«

Ein Mann, der dem Interview zugehört hat, mischt sich von der Seite aus ein.

»… dank Merkelregime. Wir hatten vor zwei Jahren Influenza. Da war die Sterberate bei weitem [betont bei weitem mit bei beiden Händen] höher. Da hat sich keine Sau dafür interessiert. Nicht eine einzige Sau. Und heute wird ein Lockdown veranstaltet. Lass dich doch nicht veralbern. «
»Nee, ich lasse mich nicht veralbern.«
»Wenn du ARD und ZDF zuhörst, dann hast du praktisch die Kontrolle über dein Leben verloren. Das musst du dir doch mal merken!«
»Nein, das stimmt nicht. Nein, absolut nicht. Man muss auch vernünftig bleiben.«

[ab Minute 1:07]

Ansonsten: Christian Lindner umarmt in einem Berliner Nobelrestaurant innig den Honorarkonsul von Belarus und wird dafür heftig kritisiert, woraufhin sich Christian Lindner für diese Umarmung entschuldigt. Der südkoreanische Fußballclub FC Seoul entschuldigt sich dafür, während eines Geisterspiels auf die leeren Plätze Sexpuppen als Zuschauerattrappen gesetzt zu haben. Der Verkehr nach Sylt wird freigegeben. Nach einem Gerichtsurteil ist in Sachsen die Schulpflicht aufgehoben, der Besuch einer Schule erfolgt nun freiwillig.

Die im März wegen Corona eingeführte Drosselung von Bitraten wird von Netflix beendet. Die Biomarktkette denn`s nimmt Produkte von Attila Hildmann aus dem Sortiment. Reporter entdecken Hinweise, dass der Überfall auf ein ZDF-Kamerateam in Verbindung mit KenFM stehen könnte. Bei dem Zwischenfall in einem Supermarkt, bei dem zwei Männer, die keine Schutzmaske getragen haben, zwei Polizisten schwer verletzten, werden Verbindungen zu Reichsbürgern nachgewiesen.

Der amerikanische Präsident erklärt, dass er seit einer Woche das umstrittene Malariamittel Hydroxychloroquine zum Schutz gegen Corona einnimmt. Belgisches Pflegepersonal protestiert gegen die Premierministerin und deren Krisenmanagement.

17. Mai | Schwanengesang

Heute mit Kopfschmerzen von Schwänen gelesen, von schwarzen, grauen, grünen, weißen Schwänen. Ein Text sagt, dass die Pandemie kein schwarzer Schwan sei, kein unvorhersehbares extremes Ereignis mit enormen Auswirkungen, nicht mal ein grauer Schwan, ein folgenschweres, aber letztlich vorhersehbares Ereignis, sondern ein weißer Schwan, etwas, mit dem zu rechnen war.

Dem möchte ich widersprechen. Bei aller Vorstellungskraft war es unmöglich, sich die Folgen der Pandemie für alle Lebensbereiche in den gegenwärtigen Formen auszumalen. Und zugleich möchte ich zustimmen. Es war damit zu rechnen, dass es nicht immer so weitergehen konnte.

Als Beispiel das gestern vermiedene Thema Fußball. Wer sich die letzten Jahre nur ansatzweise damit beschäftigt hat, dem musste deutlich werden, dass das System derart überdreht ist, dass es längst schon zu einem Zusammenbruch hätte kommen müssen; die absurden Gelder und Gehälter, die arrogante Selbstherrlichkeit, die Selbstverständlichkeit, mit der permanente Aufmerksamkeit eingefordert wird. Und trotz der Ahnung, dass es nicht ewig so weitergehen kann, war es nicht vorstellbar, dass internationale Wettbewerbe abgesagt oder verschoben, Ligen abgebrochen werden, dass sich Transfersummen über Nacht halbieren, dass kollektiv der Sinn des Sports in Frage gestellt wird. Und auch, wenn das nur eine Momentaufnahme bleiben sollte, lässt sich dieses In-Frage-Stellen auf viele Lebensbereiche übertragen, das ist die gute Nachricht in all den schlechten.

Noch etwas über das andere gestern vermiedene Thema, die Demonstrationen. Gedanken, die wahrscheinlich viele schon hatten: Warum kocht der Protest gegen die Maßnahmen hoch, nachdem die Maßnahmen zu großen Teilen entschärft sind? Warum gibt es diese Proteste in einem vergleichbaren Umfang nicht in Italien, Spanien, Frankreich, aber in den USA? Warum sind auf den Protesten kaum welche von denen anzutreffen, die die Auswirkungen der Pandemie wirklich betreffen; Krankenhauspersonal, Pflegerinnen, Mehrfachbelastete, Eltern?

Wider besseres Wissen in Videos hineingeschaut. Ein Trauerspiel. Kameramänner irren durch die Demonstrationszüge und halten nah drauf auf die, die auffallen; in engen Hosen Tanzende, Frauen mit Alufolienkugeln als Halsband, Echsenpappköpfe, die sich mühsam vom Rechtsextremen zu distanzieren versuchen. Das Schrille wird gefilmt, das Absonderliche gezeigt. Wer gefragt wird, reiht als Antwort irgendwelche Füllwörter aneinander; Impfzwang, BRD-GmbH, Chip, Grundgesetz, Wörter, die in den letzten Wochen irgendwann mal mit Bedeutung aufgeladen waren, mittlerweile aber jeden Sinn verloren haben, die nur noch Buzz sind, ein geschwätziges Summen. Der, der spricht, hofft, dass eines seiner wahllosen Wörter den Gegenüber triggert, bestenfalls provoziert.

Im Zentrum all der Verlorenheit stellt Attila Hildmann – eingehegt von fünfzig Glotzenden, von denen dreißig ihre Smartphonekameras auf ihn richten wie auf ein sonderliches Tier – irgendwelche coronakritische Allgemeinplätze aus, seltsam kraftlos, seltsam einsam. Als Höhepunkt gilt, wenn Oliver Pocher die Konfrontation mit Hildmann sucht. Mundmaske schreit dann Lautsprecher an. Pocher kommt dabei die Rolle des Vernünftigen zu und das ist alles, was man über diese erbärmliche, drittklassige Resterampe wissen muss, dieses Verwerten verlorenen Sinns, das sich vollkommen von der Wirklichkeit abgekoppelt hat.

Ansonsten: Gegen den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer wird Anzeige erstattet, weil er beim Besuch einer Coronademonstration keinen Mundschutz trägt. Bei einem Verstoß gegen die Maskenpflicht drohen in Katar bis zu drei Jahren Haft. In Großbritannien lässt die Pandemie das Vermögen der tausend reichsten Menschen erstmals seit zehn Jahren wieder schrumpfen.

16. Mai | Wochenendroutinen

Wochenende ist ja mittlerweile die Zeit, vor der man sich fürchten muss. Dann setzt die Routine ein, die Kanäle werden geschwemmt mit der Freakshow von den Demonstrationen und die nächsten Tage sitzt immer jemand davon der Ausgewogenheit wegen in allen möglichen Gesprächsformaten und es folgen die Beschwerden, dass er zu Wort kommt oder zu wenig zu Wort kommt und so weiter und so fort.

Über allem schwebt die Umfrage, dass jene, die die Maßnahmen übertrieben finden genauso viele sind wie jene, die sie als zu schwach empfinden und der Rest im Grunde einverstanden ist und damit kann man das dann alles letztlich auch bleiben lassen.

Dieses Wochenende kommt eine neue alte Routine dazu. Der Ball rollt wieder. Ich hatte mir vorgenommen, die Bilder zu schauen und lyrisch das Ungewöhnliche zu beschreiben: die geisterhaften Stadien, die mundschutztragenden Hochleistungssportler, ihren berührungslosen Jubel, den Zirkus, der unbeirrt weiterwandert und wie das als Metapher für irgendetwas stehen könnte.

Doch bei näherer Betrachtung interessiert mich das genauso wenig wie die Aussage von Friedrich Merz, der nach der »akuten« Coronakrise »soziale Transferleistungen« auf den »Prüfstand« stellen will. Ich hoffe einfach nur, dass beides schnell vorbei sein wird: egaler Profisport und die Spotlichter auf Friedrich Merz und die Coronademos.

Ansonsten: Im Kreis Heinsberg werden 42 Coronainfektionen im Paketzentrum festgestellt, das Zentrum wird daraufhin geschlossen. Das nahezu infektionsfreie Neuseeland will eine covidfreie Reisezone einführen. Die britische Sängerin Charli XCX veröffentlicht ihr während des Lockdowns aufgenommenes Album »How I’m Feeling Now«, es ist sehr gut geworden.

15. Mai | Vielleicht reicht das Draußen

Lau in der Stadt, Sommer fast, das Gefühl am letzten Tag der Eisheiligen ist: Das wird nicht gutgehen. Menschen eng beieinander am Dönern, Gruppen, die sich zum Abschied umarmen, Küsschen auf beide Wangen, Masken nur in den absolut vorgeschriebenen Bereichen, beim Sprechen sich ständiges Sich-näher-Kommen. Die zwei Meter halten nur bis: Morgen sollen die heißen Saharawinde kommen. Hast du schon gehört, Montag machen die Kindergärten wieder auf? Wer glaubst du, wird jetzt Meister?

Nichts davon geschieht mit böser Absicht. Es ist verständlich, nicht zurückweichen zu wollen, wenn man sich angenehm unterhält. Es liegt nahe, sich näherkommen zu wollen, wenn man sich versteht. Unter anderen Umständen, wäre das Gegenteil davon asozial und verwerflich.

Und vielleicht geht es auf diese Weise gut; einen Sommer lang draußen den in der Luft stehenden Aerosolen ausweichen, der Wind pustet den virushaltigen Nebel weg, die Virusteilchen fallen unübertragen zu Boden. Niemand ist in ungelüfteten, engen Räumen, niemand ist länger als fünfzehn Minuten zusammen, weil in der Sonne ständig neue Bekanntschaften locken, alles fließt und spült damit auch die Bedrohung hinfort.

Vielleicht schaden nicht einmal die böswilligen Absichten, die Demonstrationen, auf denen niemand Schutzmasken trägt, weil diese schlimmer als Hakenkreuze sind, wo man sich absichtlich aneinanderreibt, um die Gunst Ken Jebsens zu erlangen, wo potentielle Superspreader ein Bad in der Menge nehmen, um später 5G-Türme zu fällen und den Systemmedien schauenden Arbeitskollegen in den Kaffee zu husten.

Vielleicht reicht ja das Draußen und der Wind und die Sonne, vielleicht reicht dieser schöne Sommer. Aber irgendwann kommt der Herbst und das Draußen schrumpft zusammen auf ein Wartezimmer und gerade, weil im Sommer so wenig geschehen ist, liegen März und April weit zurück, sind die Tage, als Supermarktdiscounter noch keine Schutzmasken im Sonderangebot verramschten, längst vergessen, ist die Bedrohung eine aus den Geschichtsbüchern und keine von Herbst 2020.

Ich würde so gern im November diesen Eintrag als ein Paradebeispiel für Überängstlichkeit zitieren und eine influenzagewöhnliche Gegenwart dagegenstellen, vielleicht eine Wissenschaft, die Aerosolen kaum noch Bedeutung beimisst, eine Gegenwart, in der das größte Problem ist, dass Bayern München 2020 deutscher Fußballmeister geworden ist und jeder sich sagt: Dafür das ganze Theater?

Ansonsten: Forscher vermuten, dass sich durch winzige Schwebeteilchen in geschlossenen Räumen mehr Menschen mit Covid19 als bislang angenommen anstecken. Der amerikanische Präsident erklärt, dass Ärzte und Krankenschwestern »in den Tod rennen, genau wie Soldaten in Kugeln rennen« und dass »es eine schöne Sache ist, das zu sehen«.

Nach zweimonatiger Schließung öffnet ab Montag der Petersdom wieder, wofür jede erreichbare Oberfläche in dem 23.000 Quadratmeter großen Dom mit Desinfektionsmittel besprüht wird. Um nicht Zoom oder Skype nutzen zu müssen, entwickelt die Gemeinde Bühl eine Videoplattform, über die Vereinssitzungen, Schulungen oder Chorproben stattfinden können. Ihr Name: Palim Palim.

Laut einer Studie tragen Männer weniger häufig Schutzmasken, weil sie diese für »nicht cool« oder als ein Zeichen von Schwäche halten. Eine kolumbianische Fabrik baut Krankenhausbetten, die zu Särgen umgewandelt werden können, falls der Patient an Covid19 stirbt. Der Trainer des FC Augsburg verlässt das Quarantänehotel, um Hautcreme im Supermarkt zu kaufen und wird dafür für ein Spiel gesperrt.

14. Mai | Thesaurus

Heute habe ich Corona endlich dem Thesaurus hinzugefügt. Gelöscht habe ich Handschlag, das werde ich nicht mehr brauchen.

13. Mai | Händewaschen und Desinfizieren

Im aktuellen Drostcast geschieht etwas Überraschendes: Dr. Drosten stellt die Notwendigkeit von Händewäschen und Desinfizieren in Frage. Nicht grundsätzlich natürlich, fragt aber, ob das in Bezug auf das SARS-CoV-2-Virus das Hilfreichste sei.

»Also ich glaube, dass man damit nicht so viel bewirken kann durch das viele Händewaschen und das viele Desinfizieren – und dass man im Umkehrschluss auch nicht sagen kann, wir machen jetzt hier alles auf, weil wir ja jede Menge Desinfektionsmittel versprühen und uns immer schön die Hände waschen.«

Händewaschen war die allererste Maßnahme, die mit Aufkommen der Pandemie als Schutz genannt wurde. Händewaschen und Desinfizieren sind Bestandteil jedes Coronapiktogramms, die Preise von Desinfektionsmitteln haben sich vervielfacht, Rezepte zur Herstellung eigener Desinfektionsmittel wurden geteilt, Händewaschen und Desinfizieren sind das, was so gut wie alle seit Anfang März verinnerlicht haben. Händewaschen und Desinfizieren sind die Basis der Pandemieabwehr, auch, weil es Handlungsanweisungen sind, die im Gegensatz zu anderen Maßnahmen nicht viel Aufwand erfordern.

Die Abkehr von dieser Abwehr, zumindest die Einschränkung ihrer Bedeutung, scheint wie eine Einladung an alle »Coronaskeptiker«, die sagen, dass man »den Wissenschaftlern« nicht trauen könne, weil diese sich ständig widersprechen würden. Dabei ist die Aussage folgerichtig in der Herleitung, ein Beleg dafür, wie Wissenschaft mit neuen Erkenntnissen zu neuen Bewertungen kommt, die, wenn auch nicht zwingend das Gegenteil darstellen müssen, doch erheblich von bisherigen Annahmen abweichen können. Das ist gut, weil die Gründe dafür nachvollziehbar bleiben, weil sie so helfen beim Verstehen. Und zugleich ist das ernüchternd, weil dieser Plot Twist erneut zeigt, dass die Pandemie in der Lage ist, jede Gewissheit zu nehmen.

Ansonsten: Ischgl ist wieder coronafrei. Die chinesische Millionenstadt Jilin wird aufgrund mehrerer Coronafälle abgeriegelt. Russland ist nun das Land mit den zweitmeisten Infizierten, Großbritannien das Land mit den zweitmeisten Toten. Datenschützer befürchten, dass mit der indischen Coronaapp »Brücke zur Gesundheit« ein Werkzeug der Überwachung geschaffen wird. Die Stadt Wien vergibt an fast eine Million Haushalte einen Gutschein für Restaurantbesuche in Höhe von 50 Euro.

12. Mai | Kulturwandel

Das Virus hat auch die Orte der Stadt geändert. Mitte März waren sie meist leer. Später im April wurden einige wiederbelebt, der Herderplatz ist ein solches, eher überraschendes Beispiel. Nach dem Fällen von Bäumen und dem Verlegen grauweißer Pflastersteine ist der Herderplatz ein steril anmutender Ort, ein 1:1 in die Wirklichkeit übertragende Präsentationsmodell, entworfen von Architekten, die Worte wie dynamisch oder funktional in ihrem Portfolio an prominenter Stelle führen, wunschgewordenes Utopia vom mittleren Touristenmanagement.

Als einer der ersten Orte der Stadt füllte sich dieser Herderplatz wieder mit Leben. Das lag an mehreren gastronomischen Einrichtungen, die schnell reagierten und aus den Fenstern heraus Mittagessen verkauften. Man kaufte, trug die Take-Away-Boxen zu den Bänken bei der Kirche und aß, traf dabei andere, sprach über zwei oder weniger Meter hinweg mit Menschen, die nicht zum eigenen Hausstand gehörten. Der Frühling kam, die Sonne schien und während am Markt der Bratwurststand vergebens auf Touristen wartete und man über den Theaterplatz nur eilte, um in einen der Parks zu gelangen, trafen sich mehr und mehr am Herderplatz.

Als dann Weimar letzte Woche wieder einmal Pionier war und als erste Stadt Deutschlands die Außengastronomie freigab, wurde sofort gehandelt. Tische wurden im Sicherheitsabstand auf den Platz getragen, Caterer, die keine Hochzeiten, Familienfeste und Konferenzen beliefern konnten, beantragten Lizenzen, die umstandslos genehmigt wurden und fuhren Wagen vor, aus denen heraus sie Wein und Aperol Spritz verkauften. So saß man, löffelte Suppe mit Ingwer und Kokosmilch, trank Alkoholika, sprach über die Bundesliga oder den neuen Drostcast.

Am Theaterplatz schwemmte die italienische Eisdiele ihre Bestuhlung in die Fläche, auch hier Caterer und Wein, ein Gefühl wie Weihnachtsmarkt im Sommer, zwischen den Wagen und Tischen Staus, Menschen strömten, es gab keine Wege mehr, nur noch Abstände zwischen den Tischen.

Wo in der Altstadt Platz ist, steht nun ein Tisch und an diesem Tisch sitzt ein Einheimischer und trinkt Wein zur Mittagszeit, so ist Weimar Mitte Mai.

Im März schrieb ich, dass durch die Pandemie ein Kulturwandel eintreten könnte. Doch nicht das Tragen von Atemschutzmasken im öffentlichen Raum ist Kultur geworden, es ist das Sitzen in diesem öffentlichen Raum.

Ansonsten: Ab Mittwoch erlaubt Thüringen Versammlungen ohne Teilnehmerbegrenzung. Ein Café in Schwerin verteilt an ihre Gäste Hüte mit angeklebten Schwimmnudeln, damit der Sicherheitsabstand gewahrt wird. Damit der Servicebereich nicht so trostlos aussieht, setzen die Betreiber eines Restaurants in Laatzen Schaufensterpuppen an die wegen der Abstandsregel leeren Tische.

Das Robert-Koch-Institut führt eine neue Kennzahl zur Ausbreitung des Coronavirus ein, eine sogenannte geglättete Reproduktionszahl. Forscher beweisen durch den Corona-Effekt die Wirksamkeit von Fahrverboten. In einer Umfrage sprechen sich neun von zehn Deutschen dafür aus, Einschätzungen von Wissenschaftlern künftig stärker bei politischen Entscheidungen zu berücksichtigen.

In Argentinien werden wegen Corona Gefangene aus den überfüllten Gefängnissen freigelassen, darunter verurteilte Gewalt- und Sexualtäter. Weil die Not so groß ist, schickt Ärzte ohne Grenzen Teams in das amerikanische Navajo Nation Reservat. Der Künstler Eugene Jareckis installiert am Times Square in New York eine Trump-Todesuhr, die die Todeszahlen präsentiert, die auf der Annahme basieren, dass sechzig Prozent der Todesopfer in den USA auf das Konto des Präsidenten gehen. Die Zahl steht momentan bei knapp 50000.

In einem Supermarkt widersetzen sich zwei Männer einer Kontrolle wegen fehlender Schutzmasken und verletzen dabei zwei Polizisten schwer. Eine Mitarbeiterin der britischen Eisenbahn stirbt an Covid19, nachdem sie von einem Passagier vorsätzlich angespuckt und dadurch infiziert wurde. Wie unterschiedlich die Coronazahlen in den verschiedenen Ländern sind.

11. Mai | Das mit dem Spikeprotein

Mithilfe des Spikeproteins heftet sich das Virus an ein Protein der menschlichen Atemwegszelle an. Durch eine Zerschneidung beider Proteine kann das Virus in die Zelle eintreten. Je effizienter das funktioniert, desto infektiöser ist das Virus.

Das Spikeprotein von SARS-CoV-2 ähnelt in einem Teil stark dem Spikeprotein eines Coronavirus, das in Fledermäusen gefunden wurde sowie in einem anderen Teil dem Spikeprotein eines Coronavirus, das Schuppentiere befällt. Möglicherweise hat sich das Erbgut beider tierischer Coronaviren zum SARS-CoV-2-Virus kombiniert und damit eine Variante geschaffen, die Menschen sehr effizient infizieren kann.

Ansonsten: Trotz mehrerer Coronafälle in seiner unmittelbaren Umgebung geht der amerikanische Vizepräsident nicht in Quarantäne. Nach einer beschleunigten Produktion besteht nun ein Überangebot an amerikanischen Beatmungsgeräten. In französischen Bahnhöfen werden von menschlichen Desinfektionsspendern kostenlos Desinfektionsmittel verteilt.

Durch das Schließen medizinischer Einrichtungen wegen Corona befürchtet die UNO fünfhunderttausend zusätzliche HIV-Tote in Afrika. Laut einer Studie sind seit Ausbruch der Pandemie die Suchzahlen nach Häusern auf dem Land deutlich gestiegen. Twitter will zukünftig Tweets mit falschen Corona-Informationen kennzeichnen. Um für die Wiedereröffnung eines Trainingsstudios zu demonstrieren, machen Demonstranten in Florida vor dem Studio Liegestütze und andere sportliche Übungen. Covid19 in Brasilien.

10. Mai | Das mit den Demos

Das mit den Demos macht vieles leichter. Wenn ich Zeit darauf verwende, jene albern zu finden, die voller ehrlicher Überzeugung »Die Gedanken sind frei« singen, weil sie sich als Verfolgte einer Coronadiktatur wähnen, wenn ich das Gerede von KenFM und den Telegramchannel von Attila Hildmann für ebenso surreal wie gefährlich halte, wenn ich die Bilder und Videos aus Berlin und Stuttgart ironisch kommentiere, dann muss ich nicht mehr verstehen, weshalb für das Virus das Spikeprotein so wichtig ist. Ich muss mich nicht mehr mit dem Leid auf den Intensivstationen auseinandersetzen. Für jeden Bericht über das mit den Demos muss ich mich keinem Augenzeugenbericht aussetzen, der die abstrakte Übersterblichkeit in einen Einzelfall überträgt.

Nicht Fußball ist mein Opium, das mit den Demos ist mein Opium. Über das mit den Demos kann ich entsetzt sein, amüsiert, entgeistert den Kopf schütteln. Wenn ich mich damit beschäftige, muss ich nicht denken, weil ich mich empören kann.

Wenn ich mich empört oder amüsiert habe, mir es bequem gemacht habe, vielleicht wäre dann noch Zeit, um zu fragen: Was bringt die Demonstrantinnen denn dazu, einer solch obskuren öffentlichen Meinungsbekundung beizuwohnen? Sind das alles Reichsbürger und Esoterikerinnen? Ist es so einfach? Diese Demos kommen nicht aus heiterem Himmel. Jemand hat sie geplant, jemand hat sie angemeldet, jemand hat Informationen verteilt, Zielgruppen definiert und angesprochen. Jemand finanziert auch. Das muss ich fragen.

Ich muss fragen: Welche Gruppierungen nehmen teil, aus welchen Gründen tun sie das, was verbindet sie, was versprechen sie sich davon? Wie wird darüber berichtet, was folgt den Berichten? Ich muss dem ehemaligen Thüringer Ministerpräsidenten für seine Teilnahme am Geraer Coronaspaziergang Absicht oder Naivität unterstellen, beides wäre verheerend. Ich muss erkennen, wenn Begriffe wie Merkel-Burka verwendet werden und wissen, aus welcher Ecke das stammt.

Und ich muss mir immer wieder sagen: Auf einem Foto ergeben dreitausend Menschen das Bild von vielen. Aber wie viel ist viel? Ich muss dieses Foto gegen die immer wieder gehaltenen Umfragen und die dort vermerkten Zahlen der Zustimmung stellen und mich erinnern, wie es in den vergangenen Jahren mit all den Skeptikern gewesen ist, die so furchtlos das Wort gegen die demokratische Mainstreamsystemdiktatur erhoben, wie klein ihre Gruppe war und wie groß sie wurden, wodurch das geschah.

Ansonsten: In Madrid werden flächendeckend Straßen in Fußgängerzonen umgewandelt, damit die Bürgersteige nicht überfüllt sind. 72 Teilnehmer einer Anti-Stay-Home-Demonstration werden in Wisconsin positiv auf Covid19 getestet. Weil ihm aufgrund der Coronabeschränkung der Zutritt zum Dom verwehrt wird, würgt ein Mann in Worms einen Kirchenmitarbeiter. In Wuhan wird der erste Coronafall seit über einem Monat gemeldet. Mittlerweile liegen vier Landkreise, davon zwei in Thüringen, über der Obergrenze von Neuinfektionen. Weil weniger Leute ein- und aussteigen, hat sich die Pünktlichkeit im Zugverkehr im Vergleich zu April 2019 um zehn Prozent verbessert.

https://twitter.com/hatice_akyun/status/1259055866034229249

9. Mai | The News Without Corona

Vorbei sein wird die Pandemie erst, wenn sie nicht mehr in den Nachrichten ist. Nicht an zweiter Stelle, nicht an dritter Stelle, nicht unter Vermischtes, sondern dann, wenn in den Tagesthemen kein einziges Mal das Wort »Corona« fällt, wenn ich einmal Spiegel Online bis an den unteren Rand gescrollt habe, ohne das Wort »Corona« zu lesen, wenn nichts, was mit Corona in Verbindung steht (und von jetzt an wird immer irgendetwas damit verbunden sein), berichtenswert sein wird.

Gehe ich heute durch die Stadt, scrolle ich heute durch die Listen, Fotos und Meinungen, dann ist der Eindruck: Corona ist nicht mehr anstrengend, nicht mal mehr lästig. Corona nervt einfach nur. Corona nervt wie nach dem Schreiben einer mühsamen Prüfung gesagt zu bekommen, dass die wahre Prüfung noch vor einem liege, während man nach Wochen des Einschließens und der Selbstdisziplin einfach nur noch raus feiern und vergessen will.

In den Scrolls heute die Fotos vom Marienplatz in München, dem Cannstatter Wasen in Stuttgart, tausend, dreitausend Menschen, nebeneinander gegen die Coronadiktatur, Bürger neben besorgter Bürgerin, Maskenskeptiker neben Grundgesetzverteidigerin, Querdenker neben evangelikaler Christin, Rocker neben Esoterikerin, Impfgegner neben Reichsbürgerin, Nazi neben Nirvana-T-Shirt-Trägerin, sie rufen »Wir sind das Volk« und »Widerstand«. Beim Geraer Coronaspaziergang läuft der ehemalige Thüringer Ministerpräsident Kemmerich neben Menschen, die sich Plakate mit dem Davidstern umgehängt haben, Coronarebellen als neue Juden.

Ansonsten: Die Reproduktionszahl steigt auf geschätzte 1,1. Mehrere katholische Bischöfe kritisieren die Coronamaßnahmen und sehen darin den »Auftakt einer Weltregierung«. Später distanziert sich die Deutsche Bischofskonferenz von dieser Meinung. In Brooklyn werden zwischen 17. März und 4. Mai vierzig Menschen wegen Missachtung der social-distancing-rules verhaftet, nur einer von ihnen hat weiße Hautfarbe.

In New York sterben drei Kinder an einer Entzündungserkrankung, die mit dem Coronavirus in Verbindung gebracht wird. In einem Test erweisen sich Lama-Antikörper als neue Hoffnung im Kampf gegen den Coronavirus. Der Profikader von Dynamo Dresden muss nach mehreren positiven Tests für zwei Wochen in Quarantäne gehen und kann deshalb vorerst nicht an der geplanten Wiederaufnahme des Spielbetriebs der Fußballbundesligen teilnehmen.

Färöer erklären sich coronafrei. Roy von Siegfried und Roy stirbt an Covid19. Großen Nachrichtwert beim Tod von Little Richard hat der Umstand, dass die Todesursache noch unklar ist, unbekannt ist, ob er an Covid19 gestorben ist oder nicht. Laut Leiterin der Duden-Redaktion sei Covid19 ein »heißer Kandidat für die Aufnahme in den Duden, weiterhin in Frage kämen auch die Wörter Lockdown, Shutdown und Social Distancing. In Singapore läuft ein Roboter durch den Park, um die Einhaltung des Sicherheitsabstands zu kontrollieren.

8. Mai | The Glory Of Prevention

Im ersten Drostcast, den ich hörte, fiel mir dieser Satz auf, er wuchs mir gleich ans Herz: »There is no glory in prevention«. Niemand schlägt einen auf die Schulter, wenn man etwas Schlimmes verhindert, weil das nichtgeschehene Schlimme nicht erfahren werden kann. Das ist die Geschichte vieler Zeitreisegeschichten, es ist die Geschichte dieser Tage.

In dieser Geschichte lassen Zeitungen »Deutschlands klügste Corona-Skeptiker« – honorige Meister ihres Fachs, geachtet und hochgeschätzt, Namen von Rang, über jeden Populismus-Zweifel erhaben – verlautbaren, weshalb der Lockdown ein Fehler gewesen sei. In privaten und öffentlich geführten Gesprächen wird erkannt, dass die Gefahr nie so groß gewesen sein kann, wie sie gemacht wurde, weil nur 7000 Menschen starben. Weil die Intensivstationen nicht überfüllt waren, hätten sie auch nie freigehalten werden müssen. Weil die Menschen sich nicht exponentiell ansteckten, hätten sie sich auch nie voneinander fernhalten müssen.

Diese Argumente können nicht widerlegt werden. Niemand kann sagen, ob mit Kanzler Laschet oder Kanzler Merz die Gegenwart anders aussehen würde, ob sie schrecklicher oder weniger anstrengend wäre. Ob die Infiziertenzahlen niedriger wären, es der Wirtschaft gutginge, es mehr Todesfälle gäbe. Kein Meinungsmacher, kein Youtuber, kein Nachbar, der mal ein Interview mit Dr. Bhakdi gehört hat, weiß, wie die Parallelwelt aussähe, wenn wir Mitte März einen anderen Weg eingeschlagen hätten, wenn wir den damaligen Weg weitergegangen wären.

Man kann die Tabellen mit den Covid19-Zahlen von Deutschland neben die Zahlen von Italien, Amerika, Schweden, der Slowakei, Norwegen oder Südkorea legen und Rückschlüsse daraus ziehen. Man kann mutmaßen über frühe Tests, über mehrere Wochen Wissensvorsprung, über die Schnelligkeit von Beschlüssen, effektiver oder ineffektiver Zusammenarbeit von Teams, über Superspreader in Altersheimen reden, über aggressive oder weniger aggressive Virenstämme, über Glück spekulieren, darüber immer.

Aber zu wissen ist unmöglich. Es gibt keine Möglichkeit, das Nichtgeschehene zu messen. In der Zeitreisegeschichte weiß nur der erzählende Held vom nichtgelebten Leben, vom alternativen Zeitstrahl, darin liegt die ganze Tragik. Die nicht eingetretene Vergangenheit ist Utopia. Möglicherweise existieren ein oder mehrere alternative Coronazeitstrahlen. Aber es gibt keine erzählende Heldin, die davon berichten könnte. Sich nach einem im Vergleich glimpflich geschehenen Verlauf hinzustellen und zu rufen, das war nicht notwendig, weil es nicht zum Worst-Case gekommen ist, ist sicher vieles, aber nicht klug.

»There is no glory in prevention.« Es gibt keinen Ruhm dafür, vorbeugend zu denken und zu handeln. Kein Ruhm dafür, sich vorsorgend im Sozialen zu kümmern, mit Jugendzentren, Sozialarbeiterinnen, Nachhilfe für Schulschwänzer. Ruhm gibt es dafür, später das Budget der Exekutive zu erhöhen. Es gibt auch keinen Ruhm bei dem, das noch ein paar Nummern größer ist als eine Pandemie, die die Welt ein, zwei Jahre lang lahmlegt, keinen Ruhm bei der Erderwärmung. Die Möglichkeit, das Eintreffen von Schlimmen zu verhindern, bedeutet, jetzt, da das Schlimme noch entfernt ist, schon die Routinen zu ändern, damit es später überhaupt noch Routinen geben kann.

Die Vermutung liegt nah, dass die Schnittmenge zwischen Deutschlands klügsten Coronaskeptikern und Deutschlands klügsten Erderwärmungsskeptikern nicht gerade klein ist, dass die, für die Prävention eine Anmaßung ist, jene sind, die beim Eintreten von Schlimmen zuerst klug rufen: Hättet ihr mal was getan.

Ansonsten: Die bisher erfolgreichste amerikanische Filmfirma der Blockbustersaison 2020 ist IFC Films, deren größter Erfolg The Wretched« ist, das bisher 66000$ verdient hat, letztes Jahr um diese Zeit hatte Avengers Endgame 660 Millionen Dollar eingespielt. Laut Statistik wurden für Deutschland überdurchschnittlich hohe Todesfallzahlen errechnet, im Vergleich starben in der letzten Woche, für die Daten vorliegen, elf Prozent mehr als im vierjährigen Durchschnitt für diese Woche. In deutschen Schlachtbetrieben werden mehr als sechshundert Arbeiter positiv getestet, in den meisten Fällen rumänische Werkvertragsarbeiter. Aufgrund Corona erlaubt die FIFA nun anstatt drei fünf Auswechslungen bei Fußballspielen.

7. Mai | Gegensatzpaare

Ich lese von Gegensatzpaaren, von Gegenüberstellungen und Vergleichen. Jemand schreibt von Fußballmillionären und deren Masseure, die von nun an drei Mal die Woche getestet werden und setzt in Vergleich dazu die schlechtbezahlten, am Limit arbeiteten Pflegekräften, die nicht getestet werden und die so im Besonderen Gefahr laufen, das Virus in die Risikogruppe zu tragen. Ich lese von Baumärkten, die längst und von Schulen, die nur für Prüflinge geöffnet sind. Ich lese von freigegebenen Golfplätzen und Kindergärten in Notbetreuung. Ich lese von geöffneten Autohäusern und geschlossenen Kinos.

Jedes dieser Gegensatzpaare könnte auch anders kombiniert werden; Fußball mit Schule, Golf mit Kino, Kindergärten mit IKEA. Für jedes Gegensatzpaar scheint es eine schlüssige Erklärung zu geben, weshalb das eine offen ist und das andere nicht; ein Golfplatz ist anders beschaffen als ein Kinosaal, Baumarktkunden werden sich vernünftiger verhalten als Kleinkinder, letzteres eine Annahme, die nicht zwingend stimmen muss. Allein bei Fußball versagt jede Logik außer der: Es gibt halt viele Interessierte.

Der eigentliche Grund für jedes Gegensatzpaar ist der Hinweis auf eine Unverhältnismäßigkeit, die als ungerecht empfunden wird. Warum priorisiert der Staat den Kauf neuer Nägel und nicht, Kindern Wissen beizubringen? Warum sind Autos wichtiger als Kultur? Was erhebt den Sportler über soziale und medizinische Berufstätige?

Ich schreibe ein eigenes Gegensatzpaar auf. Wenn sich Engelbert-Strauss-tragende Grillfreunde, die gerade ihre 5000€ Kaufprämiere für den neuen SUV überwiesen bekommen haben, im wiedergeöffneten Biergarten auf der Leinwand das Fußballspiel Arminia Bielefeld gegen den SV Sandhausen anschauen, während sich die Mutter nach einer Ganztagsbetreuung mit zwei Kindern vom Spielplatz zurück nach Hause schleppt, dann sind meine Gefühle bei diesem Bild nicht nur positiver Natur.

Dabei setze ich etwas in Vergleich, was nicht unmittelbar in Verbindung steht. Ich könnte ja auch sagen: Ich würde gern die (zweite) Bundesliga fortgesetzt haben, weil mich die Spiele ablenken und ich gern Erzgebirge Aue auf den Aufstiegsplätzen sähe, und ich würde zugleich gern ein gut durchdachtes und praktisch umsetzbares Konzept für Schulen- und Kindergärten sehen. Letzteres wäre mir natürlich wichtiger, ersteres eher nice-to-have.

Stattdessen drücke ich mit diesem Gegensatzpaar meinen Unmut über den läppischen Satz von der gestrigen Pressekonferenz aus: »Ziel ist, dass in Abhängigkeit vom Infektionsgeschehen bis zu den Sommerferien jede Schülerin und jeder Schüler einmal die Schule besuchen kann.«

Ich drücke Unmut darüber aus, dass in meinungsbildenden Gesprächsrunden fünfzehn Minuten über eine Nebensache wie Fußball diskutiert wird. Ich drücke Unmut über jedes Thinkpiece von Rainer Calmund auf, in dem er fordert, dass der Ball wieder rollen müsse, weil dafür kein Thinkpiece von einer Mutter oder eines Vaters erscheinen kann. Ich drücke Unmut aus über jeden Politiker, der öfter das Wort Revierderby in den Mund nimmt als Kindergarten, weil er hofft, so den einen entscheidenden Prozentpunkt im Spiegelranking der beliebtesten Politiker Deutschlands zuzulegen. Ich drücke Unmut darüber aus, dass die Meinung von Hans-Joachim Watzke und Karl-Heinz Rummenigge so viel mehr zählt als von Frau Lamprecht und Herrn Walter, Frau Lamprecht hat ein vierjähriges Mädchen und arbeitet im Supermarkt, Herr Walter leitet die Igelchen im Haus Sonnenschein.

Davon abgesehen scheinen gestern alle größeren Medienhäuser ihre Leute nach Weimar auf den Herderplatz geschickt zu haben, um dort die an Tischen sitzenden Weintrinkenden zu filmen und zu zeigen, BILD, RTL, MDR.

Ansonsten: Als einziger Landkreis Deutschlands überschreitet Greiz die erlaubte Höchstzahl an Neuinfektionen, so dass eine Verschärfung der Maßnahmen notwendig wäre, was die Landrätin ablehnt, weil man »unserer Wirtschaft, unserer Gastronomie keine weiteren Blockaden aufbürden« möchte. Einen Tag nach Bekanntgabe der Lockerungsmaßnahmen steigen deutschlandweit die Infektionszahlen wieder über Tausend. In den USA verlieren innerhalb sieben Wochen mehr als 33 Millionen Menschen ihre Arbeit. Im Weißen Haus wird ein Butler positiv getestet.

Hessen erlaubt ab Samstag wieder Veranstaltungen bis hundert Teilnehmer. Die österreichische Tourismusministerin Elisabeth Köstinger erhöht den Druck auf Berlin, die Grenzen für Österreich-Urlauber früher zu öffnen. Einkaufsmenge und Umsatz von einheimischen Wein nehmen im März im Vergleich zum Vorjahresmonat um knapp zehn Prozent zu. Onlinedruckereien bieten individuell gestaltbare Mundschutzmasken an: »Ob mit einem aufmunternden Spruch, einem lustigen Bild oder einfach mit Ihrem Logo verziert – dank fotorealistischem Druck sind Ihrer Fantasie fast keine Grenzen gesetzt.«

6. Mai | Vorläufiges Ende

Die Kanzlerin verkündet das Ende der ersten Phase und wenn man an diesem Mittwoch durch die Innenstadt von Weimar geht, weiß man, dass es nicht nur das Ende der ersten Pandemiephase ist, sondern das Ende der gesamten Pandemie.

Es ist vorbei, geschafft und überstanden, in den Außenbereichen der Eisdielen, auf den Bänken und Plätzen, den schattigen Zonen der Fußgängermeile und träte nicht ab und an eine Schutzmaskentragende aus einem der Geschäfte und würde mit eiligen Handgriffen die Schutzmaske vom Gesicht reißen, wäre das ein Mittwoch wie jeder Mittwoch im Frühling 2019 war oder jeder Mittwoch im Jahr 2022 sein wird. Es gibt keine Notwendigkeit mehr, dieses Tagebuch fortzuführen, die Coronamonate sind Geschichte.

Ich freue mich über jeden Cent, den jede Gastronomin an diesem Mittwoch verdient, jede Ingwereiskugel, die scharf und süß zugleich auf der Zunge schmilzt, jede Shoppingbag, die vor den begeisterten Augen des Freundeskreises geschwenkt wird und wünsche mir dennoch, dass wie in den Sims über jeden Menschen eine Sprechblase schweben würde, in der etwas steht wie: »Ich weiß, in welcher Situation wir uns befinden, ich nehme sie ernst, auch wenn ich jetzt hingebungsvoll einen wohlverdienten Cappuccino in der warmen Maisonne schlürfe.«

Verkündet werden heute verschiedene Lockerungen, die sich in den Beschlüssen der Länder schon ankündigten; Sportstätten, Gastronomien, Geschäfte. Die Bundesliga wird bald mit Geisterspielen fortfahren können. Dazu legt die Bundesregierung die Verantwortung in regionale Hände; Bundesländer, Kreise, Städte. Nur wenn die Infiziertenzahlen lokal einen bestimmten Wert überschreiten, werden Maßnahmen fällig. Der Rest wird vom gesunden Menschenverstand abhängig von der jeweiligen Situation vor Ort entschieden.

Ich freue mich an diesem Maimittwoch über die Sonne und das Eis und das Aufatmen und bin zugleich traurig wütend, dass die Dinge, die mir wichtig sind, nur mit dürren Worten erwähnt werden: Kindertagesstätten, Kulturs, Kinos.

Kinos melden, dass ihnen spätestens im Juni die Gelder ausgehen werden. Sollten dann Kinos geöffnet werden mit Konzepten wie: Verkauf von nur einem Drittel der Sitzplätze, dann wird es nicht kompensieren, was verlorenging. Es wird Sommer sein, die Verleiher werden nur zögerlich ihre Filme anlaufen lassen, die Streamingdienste werden Filme kurz nach dem Kinostart schon online anbieten wollen, so wie es in den USA gerade diskutiert wird, die Menschen werden grillen, sie werden an Netflix gewohnt sein. Es gehört nicht viel Vorstellungskraft dazu, was das für die Kinos bedeuten wird, wie die Kinolandschaft in einem Jahr aussehen könnte. Wie schwierig alles ist, zeigt sich am Beispiel von Christopher Nolans neuen Film Tenet, der Anfang Juli in den Kinos anlaufen soll.

Oder, Kindertagesstätten. Viele Kindergärten, die Notbetreuung anbieten, berichten vom Erreichen der Kapazitätsgrenzen; ein Drittel der Kinder betreut und dennoch geht nicht mehr viel. Nach dem Sommer soll es die Rückkehr zur Präcoronazeit geben. Bis dahin lokale Konzepte, die fünfzig Prozent Kinderbetreuung als Ziel ausgeben, für alle Kinder eine Betreuung an drei Stunden am Tag, nur an gewissen Wochentagen. Der Riss, der sich in den letzten Wochen gezeigt hat, wird größer werden, die Diskrepanz zwischen denen ohne Kinder und denen ohne Kinderbetreuung, die Leben werden auseinanderdriften.

Ja, die Coronamonate sind Geschichte und sie gehen erst richtig los.

Ansonsten: Der amerikanische Präsident besucht eine Fabrik, die Schutzmasken herstellt und trägt keine Schutzmaske, dazu läuft »Live And Let Die.« Professor Lockdown, der politische Coronaberater in Großbritannien, tritt zurück, weil er mehrmals gegen die Quarantänereglung verstieß, um seine Geliebte zu treffen. In Anlehnung an Ghostbusters versprühen in Tijuana Covidjäger Chlor. Der Bestsellerkochbuchautor Attila Hildmann ruft zu einer Demonstration vor dem Reichstag auf, etwa tausend Demonstranten kommen, der Feine-Sahne-Fischfilet-T-Shirt-Träger steht neben dem Reichsbürger.

5. Mai | Kehrtwende

Anfangs habe ich die Zahlen täglich verfolgt. Jeden Abend der Blick auf die entsprechenden Seiten, die Infizierte und Tote vermeldeten, unterteilt nach Ländern. Ich habe die dramatischen Zahlen bevorzugt, traurige Rekorde habe ich das Ende März genannt. Heute sind es über 250.000 Tote, eine Viertel Million Menschen gestorben. In Weimar gibt es aktuell acht Infizierte, es gelingt mir nicht, beide Zahlen zusammenzubringen.

Untersucht wurde, wie sich die Opposition gegen die Coronapolitik verändert hat. Zu Beginn der Pandemie von den einschlägigen Seiten die Kritik, dass die deutsche Politik zu wenig tue, dass Angela Merkel das deutsche Volk nicht ausreichend schütze, dass es einen rigorosen Shutdown wie in Wuhan brauche, die deutschen Coronatoten seien Merkels Toten, dazu das Empören über Vorgaben mißachtende Jugendliche. Es war die Zeit, als die Neue Rechte noch keine Sprache, noch keine Strategie für die Pandemie hatte.

Das hat sich nun geändert, wie so oft eine Kehrtwende. Jetzt die bekannte Erzählung von der Coronadiktatur, der DDR 2.0, Vergleiche mit Sklaven, das Singen von »Die Gedanken sind frei«, das Verklären vom Nichttragen eines Mundschutzes als revolutionären Akt.

Beim Lesen erstaunt mich, dass ich diese erste Phase schon wieder vergessen hatte, die Kritik an zu laschen Maßnahmen. Schaue ich auf die Querfrontdemonstrationen, die Facebookposts von Attila Hildmann, die Kolumnisten (es sind mehrheitlich Männer), die von Angela Merkel als Mutter schreiben, scheint es immer einen Widerstand gegen das »Regime« zu geben; die Gründe können jeweils andere sein, sich schnell ändern, sich dann widersprechen und das Gegenteil voneinander sein.

Vor drei Monaten wurde in Thüringen ein Ministerpräsident gewählt. Es ist drei Jahre her.

Ansonsten: Die Pläne für einen deutschen Immunitätsausweis werden gestoppt. Ausländische Jagdpächter brauchen ab sofort bei der Einreise nach Tirol kein Attest mehr vorweisen. Eine Studie zeigt, dass, sobald beide Partner im Homeoffice arbeiten, Frauen zweieinhalb mehr Stunden Sorgearbeit leisten. Weltweit gibt es inzwischen 115 Corona-Impfstoffprojekte.

Als erste deutsche Stadt erlaubt Weimar wieder Open-Air-Gastronomie. In Frankreich wird bei einem Test ein Covid19-Fall von Dezember entdeckt, das Virus könnte Frankreich gut einen Monat früher erreicht haben als bisher bekannt. Attila Hildmann und Xavier Naidoo telefonieren eine Stunde, danach sind beide bereit, für »diese Sache« Kopfschüsse zu kassieren.

4. Mai | Demontage

In den späten Vormittagsstunden fährt ein Multicar der Weimarer Stadtverwaltung auf dem Spielplatz vor. Zwei Männer in orangestrahlenden Overalls steigen aus, wickeln die rotweißen Absperrbänder auf, demontieren die Verbotsschilder und beladen damit das Fahrzeug. Als sie abfahren, stürmen die wartenden Kinder den nun freigegebenen Ort und machen das, was ihnen sieben Wochen untersagt war: Sie spielen auf einem Spielplatz.

Heute treten in Weimar neue Eindämmungsmaßnahmenverordnungen in Kraft. Sie betreffen Nagelstudios, Frisöre, Musikschulen, Fahrschulen, 9./10. Schulklassen, Fußpflegen, Individualsport unter freiem Himmel sowie Geschäfte ohne Beschränkung der Verkaufsfläche. Dazu überregionale Ankündigungen weiterer zeitnah geplanter Lockerungen: Gastronomie, Schulen & Kitas (NRW), Aufhebung von Einreiseverboten, um in den Urlaub am Meer fahren zu können. Wenn die Realität ein engsitzender Anzug wäre, würde an diesem ersten Montag im Mai der Gürtel aufs letztmögliche Loch geschnallt.

Parallel zu diesen Lockerungen finden die verschiedenen Unmutsbekundungen gegen die Coronadiktatur (Xavier Naidoo, der in sein Smartphone weint, Bestseller-Kochbuchautor Attila Hildmann, der bewaffnet in den Untergrund will, wenn am 15. Mai die Neue Weltordnung übernimmt, der gelbe Judenstern, in den ungeimpft geschrieben wird, die WhatsApps mit den Erklärbildern, weshalb Bill Gates das Virus erfunden hat, der Tanz am Stachus Feel Swedisch – Fight The Virocrats etc.) einen politischen Ausdruck: Widerstand2020.

Geschrieben habe ich bisher darüber nicht, weil ich annahm, dass es sich dabei um Satireprojekt handelt. Tatsächlich scheint es eine ernstgemeinte Sammelbewegung des Sinsheimer Schwindelambulanzarztes Dr. Schiffmann für einen »Widerstand gegen den politischen Umgang, den wir gerade erleben, gegen das Außerkraftsetzen unserer Grundgesetze und gegen die Machtausnutzung unserer Regierung«. Nach eigener Auskunft gibt es schon neunzigtausend Mitglieder und wie alle neuen Bewegungen können diese besonders schnell groß werden, wenn sie groß gemacht machen, indem groß über sie geschrieben wird.

Ansonsten: Ein als Sensenmann verkleideter Rechtsanwalt läuft über die Strände von Florida, um gegen deren Öffnung zu protestieren. Der Fußballspieler Salomon Kalou streamt live vom Trainingsgelände seines Klubs Hertha BSC, auf dem so gut wie alle Sicherheitsregeln unterlaufen werden. Die EU will eine Milliarde Euro in Kampf gegen das Coronavirus investieren.

Die AfD-Fraktion Waren fordert auf einer Demonstration des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands die Öffnung von Grenzen. Neuseeland meldet null Neuinfektionen. Die Christus-Statue in Rio de Janeiro wird mit einem Mundschutz illuminiert. Die aufgrund des Lockdowns leeren Straßen der türkischen Stadt Samsun werden von Schafsherden okkupiert.

3. Mai | Weltenflucht

Jedes Mal wieder erstaunlich, wie weit weg die Welt doch nach einem Ausflug ins Grüne rückt; im Raps wirkt jeder Mundschutz albern. Nach der Rückkehr ein lustloses Zusammensetzen der Realität anhand weniger, willkürlich aufgeklaubter Puzzleteile.

Puzzleteile: Westliche Geheimdienste werfen China vor, das wahre Ausmaß des Corona-Ausbruchs heruntergespielt zu haben. Nach zwei Monaten Ausgangssperre dürfen Italiener wieder spazieren gehen. Der Autoverband DVA fordert von der Bundesregierung eine schnelle Entscheidung über die Kaufprämie, damit es Klarheit am Markt gebe.

2. Mai | Zeitreise

Ich sehe eine Dokumentation über das Leben in Peking nach dem Lockdown. Es hieß, wer nach China blickt, blickt in die Zukunft. Es hieß auch: Wer nach Italien blickt, blickt in die Zukunft. Weil wir die Armeefahrzeuge in Bergamo sahen, änderten wir unser Verhalten und damit auch die uns vorbestimmte Zukunft, ein klassischer Zeitreiseplot, nur ohne Großvaterparadoxon.

Ich schaue nach Peking und schaue in die Zukunft. Ich sehe, wie die Menschen nach zwei Monaten Lockdown wieder auf die Straße gehen. Bevor sie ein öffentliches Gebäude oder ihren eigenen Wohnbezirk betreten dürfen, wird ihre Temperatur gemessen. Überall Kontrollpunkte, an denen rotbejackte Beiräte mit kontaktlosen Fieberthermometern stehen, die Geräte an die Armgelenke der Menschen führen und eine Zahl ablesen. In den Gebäuden und davor die gewohnten Überwachungskameras, dazu wuchtige Wärmebildkameras, die jeden Vorbeilaufenden vermessen. Liegen die Zahlen innerhalb des Vorgegebenen, hat das keine Konsequenzen.

In jedem öffentlichen Gebäude, beim Friseur, in den Empfangsbereichen von Großraumbüros hängen A3-Ausdrucke von QR-Codes. Kommt der Passant daran vorbei, wird er aufgefordert, den Code mit dem Smartphone zu scannen. Der Code identifiziert ihn, er gibt seine Daten ins System, liest sein Bewegungsprotokoll aus, das über das Smartphone erstellt wurde. Nur wer in den letzten beiden Wochen Peking nicht verlassen hat, darf irgendwo hin.

Bei einer Bloggerin, die über die Pandemie schreibt und viele Stimmen zu Wort kommen lässt, wird ein Verstoß gegen das Protokoll festgestellt. Ihr wird der Zugang zur Wohnung verweigert, aus Gründen der allgemeinen Gesundheit, heißt es. Nun ist sie so lange ohne Zuhause, bis ihr Verhalten wieder dem Protokoll entspricht.

Der Journalist befragt einen seilspringenden Mann. Der Mann sagt, dass er anfangs skeptisch gewesen sei, ob seine Regierung dem Virus gewachsen ist. Nun habe sich das geändert. Er spricht von der Ironie, dass anfangs alle Länder China verteufelt hätten und jetzt diese Länder in der gleichen Situation seien. Er lacht. Die Bloggerin sagt, dass viele die unterschiedlichen Systeme vergleichen und urteilen, welche effizienter gegen den Virus arbeiten, die demokratischen oder die autoritären Systeme. Die Kontrollen nehmen zu, die Infiziertenzahlen sinken.

Vor allen Straßenabzweigungen, vor den Eingängen der Parks und der Malls warten die Kontrolleure darauf zu kontrollieren. Sie messen die Temperatur, sie fordern auf, Smartphones auf QRs zu richten. Sie sammeln die Daten, denn sie wollen die Verbreitung des Virus verhindern, sie machen das für die Hygiene des Volkes.

Im Schauen, aus der Situation heraus, nach den vergangenen Wochen und dem Wissen um China wirkt der Film folgerichtig, zeigt pragmatisch umgesetzte Schlussfolgerungen während einer Pandemie. Trete ich einen Schritt zurück, achte darauf, was gezeigt wird, ist diese Dokumentation der Wirklichkeit wie der eine dystopische Film, der bisher noch nicht gedreht wurde.

Ansonsten: Am Rande einer Demonstration gegen Coronaregeln prügeln Vermummte in Berlin ein Kamerateam des ZDF krankenhausreif. In Somalia wird von einem deutlichen Anstieg der Todeszahlen berichtet. In Weimar werden Porträtbilder Überlebender des KZ Buchenwald mit Coronaflugblättern und Aufklebern mit der Aufschrift »Risikogruppe« verunstaltet.

Drei Angestellte des 1.FC Köln werden positiv auf Corona getestet, die Mannschaft bleibt weiter im Training. Französische Forscher weisen eine Coronavirus-Infektion bei einer Katze nach. Kim Jong-un präsentiert sich bei der Eröffnung einer Düngemittelfabrik wieder der Weltöffentlichkeit.

1. Mai | bieder, pedantisch, spießbürgerlich

Mit Befremden lese ich den gestrigen Eintrag. Meine Worte scheinen mir bieder, pedantisch, spießbürgerlich. Gibt es etwas Öderes, als über das Verhalten anderer in Supermärkten zu schreiben? Sich darüber zu empören, dass wenige sich nicht an Vorschriften halten? Werde ich zum Pedanten, zum Spießbürger, zum Denunzierer, der eifrig Abweichler notiert, wie der unausgelastete Nachbar, der Falschparker in der eigenen Straße überführt?

Im Einkaufszentrum sind die Wege jetzt vorgegeben; Pfeile, Hinweisschilder und Absperrbänder weisen die Laufrichtung. Eingänge und Ausgänge sind voneinander getrennt. Das Social-Distancing ist optimiert, besser, ist normiert. Als Kunde werde ich durchgeschleust und gesteuert. Das wurde ich früher auch: Supermärkte haben Waren platziert und Laufwege gestaltet, um meinen Konsum zu steigern. Es geschah so subtil wie der Max-Giesinger-Song aus den Supermarktlautsprechern. Heute strahlt das Rot des Absperrbandes besonders auffällig, brennen sich die ausgehängten Piktogramme in meine Netzhaut.

Ich bin erfreut darüber. Wenn alle Kunden in dieselbe Richtung laufen, kann niemand mir Aerosole ins Gesicht atmen und mich so mit dem Virus infizieren. Tragen alle einen Mundschutz, ist es ähnlich. Der Preis dafür ist Gleichförmigkeit. Gleiche Wege, die untere Hälfte des Gesichts in gleicher Form verborgen.

Was empfinde ich dabei? Ist mein Fühlen mehr wie: Ich werde beschränkt, mir wird Freiheit genommen, es ist ein Eingriff in meine Rechte, den ich zu dulden nicht bereit bin? Oder mehr wie: Ich sehe die Einschränkungen als notwendig an und strafe alle, die den Maßgaben nicht folgen, mit Verachtung. Ich richte dann, denunziere, sortiere aus.

Die Sache hat mehrere Seiten. Der Mundschutz selbst ist ein gutes Beispiel dafür. Zwar schützt er mich nicht vor einer Ansteckung, senkt aber korrekt getragen deutlich die Wahrscheinlichkeit, dass ich jemanden anstecke. Tragen alle einen Mundschutz, senkt das die Wahrscheinlichkeit für alle, angesteckt zu werden. Justiere ich allerdings öfter den Mundschutz nach, fasse mir mit Fingern ins Gesicht, trete ich näher an Fremde heran, weil ich glaube, der Mundschutz schütze mich oder sie, dann verliert sich der Schutz, dann wiederum steigt die Gefahr einer Ansteckung.

Es ist eine richtige Sache, die das Mitwirken aller voraussetzt. Es geht um den Schwarm, es geht um Vernunft, meine Vernunft und die meiner Mitmenschen, die allermeisten von ihnen sind Fremde. Gibt es diese Vernunft nicht, verkehrt sich das Gute ins Gegenteil und alle atmen die Aerosole von Fremden ein.

Gestern werden in einer Pressekonferenz (die von den üblichen Scharmützeln wie »Mickey-Maus-Politik« oder »Merkel motzt über ihren Virologen« begleitet werden) weitere Lockerungsmaßnahmen des Shutdowns verkündet. Dazu an dieser Stelle der längst fällige Einschub, dass es in Deutschland weder einen Lock- noch einen Shutdown gegeben hat, sondern eine milde Variante von Kontaktbeschränkungen, so ganz anders als in Wuhan, Italien oder Frankreich. Die Pressekonferenz nehme ich routiniert hin, erwarte keine epochalen Motivationsreden, weiß die Bekanntgaben so ungefähr im Voraus: Kindergärten und Gaststätten bleiben weiterhin geschlossen, Zoos und Spielplätze werden geöffnet.

Auch die Zahlen der deutschen Übersterblichkeit im März werden bekanntgegeben. Im März ist in Deutschland eine kaum merkbare Erhöhung von Todesfällen im vergleichbaren Zeitraum zu anderen Jahren erkennbar, ganz anders, als das die Zahlen in den USA, Italien, Spanien Großbritannien oder Indonesien offenbaren. Im März ist Deutschland davongekommen, glimpflich lautet das Wort, das zwischen Deutschland und davongekommen stehen sollte.

Davon abgesehen, drehen sich die Gespräche heute weniger um Corona als um den endlich einsetzenden Regen.

Ansonsten: Ein japanisches Aquarium sucht Videochatpartner für ihre Aale, weil durch die coronabedingte Schließung des Meereszentrums und damit ausbleibenden Besucher die Fische die Menschen vergessen, was die Fütterung erschwert.

Bewaffnete Männer und Frauen stürmen das Parlament in Michigan, um gegen die Ausgangsbeschränkungen zu protestieren. In verschiedenen Städten werden Autokinos wiedereröffnet, der Deutschrapper Sido gibt in einem Autokino ein Konzert, die Besucher können durch Hupen ihrer Begeisterung Ausdruck verleihen. »Die Patienten werden sehr schnell sehr still.«

30. April | Handgemenge

Draußen heute eine selbstbewusste Aggression ausgewählter Mitmenschen. Selbstbewusstes Nichttragen von Schutzmasken in schutzmaskenpflichtigen Bereichen in Verbindung mit triumphierenden Blicken zu den Schutzmaskentragenden. Selbstbewusstes Drängen von Einkaufswagen gegen Einkaufswagen in Verbindung mit asozialem Kassenschlangenverhalten. Selbstbewusstes Draufzufahren auf grüne Fußgängerampeln. Auf ein Niesen ein herzhaftes »Corona« entgegnen. Vermutlich, weil alle ahnen, dass der letzte Tag dieses Monats nichts zum Abschluss bringen wird, dass die Handgemenge zunehmen werden.

Ansonsten: Selbstbewusst fordert die deutsche Autoindustrie vierstellige Kaufprämien ein und hält den Verzicht auf Dividendenausschüttungen für eine »schlechte Idee«. Das Gesundheitsministerium stellt die Einführung von Corona-Immunitätsausweise in Aussicht. Laut einer Studie der Charité ist die Viruslast bei Kindern und Erwachsenen gleich hoch. Die Bundesagentur für Arbeit meldet zehn Millionen Kurzarbeitende, dreißig Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmerinnen.

Beim Besuch einer Klinik trägt US-Vizepräsident Mike Pence als einziger keine Atemschutzmaske. Aufgrund des Sicherheitsabstandsgebots verwandelt sich ein Stripclub in Oregon in einen Drive-In-Stripclub. Herausgeberinnen wissenschaftlicher Zeitschriften vermelden, dass Einreichungen von Männern in den vergangenen Wochen um 50 Prozent gestiegen sind, während Wissenschaftlerinnen kaum noch Texte vorlegen.

Weil nicht sicher ist, wann die Kinos wieder öffnen, dürfen die Oscars im nächsten Jahr auch an nur gestreamte Filme verliehen werden. Die französische Liga wird abgebrochen, einige Vereine liebäugeln damit, einige Spiele trotzdem im Ausland, in Deutschland auszutragen.

Auf der Titelseite der Financial Times erscheint die Meldung, dass Nook, der Waschbär-Banker in dem in Coronazeiten zu besonderer Popularität gelangtem Computerspiel Animal Crossing die Zinsen gekürzt hat und die Spieler somit gezwungen sind, mit Rüben und Taranteln zu spekulieren.

29. April | Der Virologe als Feindbild

Ich sehe den Virologen. Er sitzt in einer Talkshow. Er spricht mit der Sprecherin einer Nachrichtensendung. Er gibt einer Zeitung ein Interview. Ich höre seine Stimme im Podcast.

Der Virologe (ich schreibe in der männlichen Form, weil ich Virologinnen kaum sehe) ist meine kürzeste Verbindung zum Virus. Er ist am nächsten dran am Virus. Weil ich nichts über ein Virus weiß, übersetzt er sein Wissen so, dass ich verstehen kann. Es ist eine Art Paradoxon. Als Forscher soll er forschen. Doch wenn er nicht erklärt, bleibt sein Wissen ohne Folge. Also erklärt er. Und während er erklärt, kann er nicht forschen.

Der Virologe ist ein Überbringer schlechter Nachrichten. Er erklärt, wie das Virus zerstört. Er erklärt, wie sich das Virus verbreitet. Er erklärt exponentielles Wachstum. Er erklärt, weshalb Kinder genauso Überträger sind wie Erwachsene. Er erklärt, was es braucht für einen Impfstoff.

Der gute Virologe ist Wissenschaftler. Bis er eindeutig sein kann, vergeht Zeit. Er liest Studien (gut gemachte und schlechte) und schlussfolgert, er testet und entdeckt und entdeckt nicht, er probiert Thesen aus und verwirft, er nähert sich, interpretiert Zahlen und erstellt Modelle, rechnet durch und extrapoliert. Er widerruft und bessert nach, legt nach und ergänzt. Auf vieles kann er heute keine unumstößliche Antwort geben, nur die aktuellen Erkenntnisse in den Raum stellen, sie können das Gegenteil voneinander sein.

Viele halten diese Uneindeutigkeit nicht aus. Sie erwarten, dass er sich breitbeinig hinstellt und einen Satz sagt, der alles für immer erklärt und der klare Handlungsanweisungen enthält. Sie erwarten, dass er die vielen Leerstellen seines Wissens selbstbewusst ignoriert, sie erwarten von ihm die Wahrheit und das jetzt. Wenn der Virologe ein guter Wissenschaftler ist, wird zu diesen Leerstellen stehen, er wird sie zum Zentrum seiner Aussagen machen, er wird sich nicht breitbeinig in die Talkshows setzen, er wird nicht vorgeben, zu wissen, was noch nicht gewusst werden kann.

Der Virologe wird beschimpft. Politiker beschimpfen ihn, Philosophen, Theaterregisseure, die Frau auf der Straße. Sie nennen ihn Meinungsänderer, Teil einer Expertokratie, von einer Unterwerfung unter Dekrete von Virologieprofessoren sprechen sie, sagen, sie können sich nicht auf ihn verlassen, was der macht eigentlich den ganzen Tag, warum weiß er das nicht. Dem Virologen wird gedroht, mit Mord wird ihm gedroht, ihm, seiner Familie, der ganzen Zunft. Hasserfüllt sind die Botschaften an ihn, er wird zum Symbol für alles, was falsch läuft, was als falsch empfunden wird.

Jeder sucht sich seinen eigenen Virologen, dem, dem man sein Vertrauen schenken kann. Viele wählen für dieses Vertrauen Menschen, die keine Virologen sind, keine Epidemiologen, keine Wissenschaftler. Sie suchen Wissenschaftler, die nicht wissenschaftlich arbeiten, sie suchen Antworten bei youtubechannels, die ihnen der Onkel der Bekannten der Nachbarin bei WhatsApp empfohlen hat, weil dort gesagt werde, was sonst nicht mehr gesagt werden dürfe.

Es gibt viel Wissen, noch mehr Halbwissen, noch mehr absichtlich produziertes Unwissen. Für jedes Weltbild gibt es eine Quelle, jede Theorie den entsprechenden Professor, für jede Mutmaßung einen Experten, der die eigene Annahme bestätigt. Es gibt viel mehr Ken Jebsens als Virologen, viel mehr Facebookkommentare als Papers, viel mehr privat gerauntes »Ich habe gehört, dass« als Studien.

Der Virologe sitzt in der Talkshow, er spricht in Interviews und veröffentlicht. Während er erklärt, wird er zum Feindbild.

Ansonsten: Die Forschungsorganisationen Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft und Max-Planck-Gesellschaft veröffentlichen ein gemeinsam verfasstes Papier, das Strategien zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie enthält. Ein Grund ist auch, dass es so einen Standpunkt definiert, den die wichtigsten wissenschaftlichen Institutionen gemeinsam tragen, dass sich so sagen lässt: Das ist nicht die Ansicht einzelner Wissenschaftler, das ist die Ansicht der Wissenschaft.

28. April | Das Virus als Marke

Wäre das Virus eine Marke, wäre sein Branding: »nur gefährlich für sehr alte Vorerkrankte, Tod durch Lungenentzündung, Symptom trockener Husten«.

Das Branding hat in den ersten Tagen des Virus in Deutschland stattgefunden, auf Grundlage des damals bestehenden Wissens. Diese kurze Information ist, was abgerufen wird, wenn an SARS-CoV-2 gedacht. Anhand dieser Einschätzung leitet sich oft das eigene Verhalten zur Pandemie ab, u.a. bei mir.

Möglicherweise wäre ein Rebranding angebracht. Oder zumindest festzuhalten, dass alles doch nicht so klar und eindeutig ist und knapp vier Monate nach der Identifizierung des Virus erstaunlich wenig bekannt darüber ist; bezüglich der so unterschiedlich ein- und nicht eintretenden Symptome, bezüglich der betroffenen Organe (weit mehr als nur die Lunge), weshalb es Todesfälle bei jungen Nichtvorerkrankten gibt, lauter Informationen, die das Gegenteil der ersten Informationen darstellen.

Vielleicht würde diese Neubewertung des vermeintlich sicheren Wissens über den Virus die persönliche und öffentliche Reaktion darauf beeinflussen, vielleicht auch in privat geführten Diskussionen helfen.

Die umstrittene Zahl des Reproduktionsfaktors (umstritten, weil sie aufgrund fehlender Daten nur geschätzt werden kann), die Zahl, von der gesagt wird, dass sie unter 1 liegen müsse, damit die Ausbreitung unter Kontrolle gehalten werden kann, liegt laut Robert-Koch-Institut am Montag bei 1. Für Dienstag wird die Zahl mit 0,9 angegeben.

Ansonsten: In Spanien dürfen nach mehreren Wochen Shutdown wieder die Kinder mit einer Begleitperson die Wohnung verlassen. Im chinesischen Yangzheng tragen Grundschüler 1-Meter-Abstand-Hüte. Die finnische Regierungschefin gibt eine Pressekonferenz nur für Kinder, auf der sieben bis zwölfjährige Kinder die Fragen zum Thema Corona stellen. In Großbritannien steigen die Anrufe beim Frauennotruf wegen häuslicher Gewalt um 49%.

In Amerika gibt es über eine Million Infizierte und knapp 60000 Tote. In Deutschland besteht nun bundesweite Maskenpflicht im Einzelhandel. Boris Palmer sagt in einem Interview: »Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären« und entschuldigt sich aufgrund der zahlreichen Kritik wenige Stunden später für seine Aussage. Frank Castorf sagt: »Ich möchte mir von Frau Merkel nicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss. Das beleidigt meine bürgerliche Erziehung.«

27. April | Systemschaf im Schallhaus

Heute ein nicht-coronabezogener Dreh im Schallhaus auf der Anlage von Schloss Heidecksburg in der schönen Residenzstadt Rudolstadt. Wobei es momentan keine nicht-coronabezogenen Dreharbeiten geben kann. Das Schallhaus wird restauriert, Anfang Mai sollte mit großem Gartenfest gefeiert werden. Da ein Fest nicht möglich ist, soll nun ein kurzer Film zumindest den Interessierten das Schallhaus zeigen, d.h. ohne Corona würden auch keine Dreharbeiten stattfinden. Und weil es Corona gibt, finden die Dreharbeiten anders statt als sonst; Mundschutz (dem dann doch erstaunlich wenige am Drehort Folge leisten) und Sicherheitsabstand.

Ein Streichquartett sitzt fast zwei Meter voneinander getrennt und spielt die Greatest Hits von Mozart. Die Musikerinnen sagen, dass dies ihre erste gemeinsame Probe seid März sei, sie seien sehr froh, wieder zusammenspielen zu können. Momentan würden sie zuhause vorbereiten, gemeinsames Proben würde das aber nicht ersetzen. Neben Radio und Zeitung ist das Fernsehen da, es berichtet über die Dreharbeiten, weil Dreharbeiten in Coronazeiten berichtenswert sind, wieder so ein Paradoxon, weil es für diesen Bericht über Dreharbeiten ja Dreharbeiten bräuchte und darüber könnte auch berichtet werden, Dreharbeiten über Dreharbeiten über Dreharbeiten über Dreharbeiten über Dreharbeiten in Coronazeiten, ein ewiger Spiegel.

Wenn man aus dem Schallhaus tritt, das über eine besondere Akustik verfügt, dank derer man über mehrere Stockwerke hinweg ausgezeichnet hören kann, liegen auf der Wiese vor dem Pavillon Menschen auf Decken, sie umarmen sich zur Begrüßung, sie teilen Wasserflaschen, man nimmt das so hin, Ende April, ein Tag, nach dem Armin Laschet bei Anne Will saß.

Ein Nachsatz zum gestrigen Eintrag, dem Transkript eines Videos über die Hygienedemonstration. Kurzzeitig hatte ich überlegt, dem eine Erklärung beizustellen; zu schreiben, dass von etwa tausend Demonstranten nur eine Handvoll gefragt wurde und von den Aussagen wieder gewählt wurde, um einen Eindruck herzustellen, dass mein Transkript auch nicht vollständig ist etc., damit der Vorwurf möglich wäre, Video und Text wären nicht ausgewogen und dass in der Verkürzung die vorgebrachten Argumente sinnentstellt worden sind. Dann strich ich diese Passage, weil der Text das darstellt, was er darstellen soll.

Trotzdem glaube ich, dass ein solcher Zusammenschnitt über den eigentlichen Inhalt hinaus etwas erzählt, auch etwas darüber sagt, was sich im Vergleich zu März verändert hat und gerade im Verändern begriffen ist, gewissermaßen ein Blick in den Mai hinein.

Es geht um eine Entweder/Oder-Sichtweise auf die Situation: Wenn ich Corona ernst nehme, bin ich ein Opfer des Systems, ein Schaf, das der Herde folgt und nicht zu eigenen Gedanken fähig ist.Umgekehrt funktioniert das auch. Ich merke das an mir selbst. In Gesprächen höre ich mit gespitzten Ohren auf Bemerkungen wie: »Die Grippewelle von 2018 hat ähnliche Todeszahlen verursacht«, »Die wirtschaftlichen Folgen werden viel verheerenden sein als die gesundheitlichen«, »Die Tests für Fußballspieler würden nur 0,4% der Kapazitäten in Anspruch nehmen«, »Weil Corona ständig in den Nachrichten ist, ist das auch so ein großes Thema« etc., lauter Aussagen, über die sich diskutieren lässt, denen ich aber beim Hören schon einen grundsätzlichen Zweifel an der Gefährlichkeit des Virus unterstelle, quasi ein Leugnen, ein Opfern von Menschenleben, damit die Dividende des Volkswagen an die Aktionäre wie vorgesehen ausgezahlt werden kann.

Es ist dieses fatale Schlittern in dieses »Wenn du nicht meiner Meinung bist, bist du gegen mich«, eine Diskussionskultur wie den 2010er Jahren. Das Video, das Transkript dazu ordnet sich da ein. Es bestätigt ein Bild: Die Hygienedemonstranten sind … [Synonym für fehlgeleitet, Narren]. Ihre Aussagen lassen diesen Schluss zu, es gehört dazu zu wissen, dass es Menschen gibt, die so denken, offensichtlich mindestens tausend, nimmt man das Schallhaus Internet dazu, wesentlich mehr.

Der Rückschluss aus den Bildern lautet nicht: Jede, die sich kritisch über die beschlossenen Maßnahmen äußert, läuft geistig schon auf einer Hygienedemonstration mit. Umgekehrt erwarte ich, dass, wenn ich die Lockerungen der Maßnahmen als zu voreilig und wenig durchdacht kritisierte, ich nicht in den Verdacht eines Systemschafs gerate. Es gehört dazu zu fragen: Wieso kommt mein Gegenüber zu seinem Annahmen?Nur so ist ein Gespräch möglich und Bedarf an Gesprächen wird es in den nächsten Wochen großen geben.

Ansonsten: Kim Jong-un bleibt weiter verschwunden.

26. April | Jeder fragt sich

So funktionieren Auschwitz und andere Konzentrationslager. Diese Virusgeschichte ist eine geplante New-World-Order-Sache, um Europa, die Welt und Deutschland zu zerstören und zu versklaven und die Freiheit komplett zu berauben. Ja, ich denke, dass gar nichts eingedämmert werden muss, dass es ein Virus ist, wie es schon welche vorher gab. Was haben wir in Deutschland für Tote? 3000? Das ist alles unverhältnismäßig.

Corona sehe ich gar nicht als Feind, sondern als Freund. Wir haben jetzt eigentlich schöne Zeiten erlebt, oder? Wo kommt der Virus her? Es gibt Vermutungen, dass sie aus einem Labor in Wuhan gekommen sind, weil die Chinesen ja alles essen, durch diese Lebensgewohnheiten und diese Unhygienischkeiten übertragen wurden, keine Frage.

Ich bin der Meinung, dass wir hier zu treuen, dummen Arbeitssklaven gemacht werden sollen. Es geht doch nicht mehr um rechts/links. Es geht nicht mehr wie in der DDR, im Kaiserreich, bei Hitler, dass wir »schön«, »ja« und »amen« sagen und dann werden wir irgendwie belohnt. Ob wir den Kopf in den Sand stecken, ob wir rebellisch sind oder nicht, wir werden alle einen Kopf kürzer gemacht. Die Bonzen, die da oben sitzen, ob sie nun Bill Gates oder sonst wie heißen, denen stinkt es schon lange, dass wir auf diesem Planeten herumlaufen.

Jeder fragt sich: Was hat die Regierung davon, die Wirtschaft komplett vor die Wand zu fahren? Ich vermute, dass es irgendwie mit der Neuen Weltordnung zu tun hat. Die BRD ist immer noch besetzt, sage ich ihnen so, wie es ist. Wie konnten sich die Massen unter Hitler nur so dumm manipulieren lassen? Die Corona-Trottel von heute geben uns die Antwort. Politiker heben alle Grundrechte auf, Angriff auf freie Bürger. Kinder und Senioren in die Isolation, Kontaktverbote für Freunde und Familie. Müller will Tegel zu KZ mit Gaskammern machen. Besuchsverbote für Alten- und Pflegeheime, keine Pflege und Versorgung für Betroffene. Freiheit für freie Bürger!

Aus: Hygienedemo, Berlin April 2020

25. April | Wie Wasser

Heute geht der Filmbeitrag für die Coronarolle online. Vor drei Wochen sind wir ins Dorf gefahren, verbrachten zwei Tage dort. Drei Wochen. Das fühlt sich an wie eine Ewigkeit, würde ich schreiben, wenn ich wüsste, wie sich eine Ewigkeit anfühlt.

Bei den Aufnahmen schien mir, als wären wir unmittelbar im Augenblick, mitgerissen von der Wucht der auseinanderfallenden Gegenwart, die selbst in solch einem stillen und abgeschiedenen Dorf bröckelte. Den Film zu sehen, auch eingereiht zwischen den anderen neunzehn Beiträgen der Rolle, macht ihn trotz aller Gegenwärtigkeit zu einem historischen Dokument. Der Film erzählt etwas, das selbst jetzt schon Geschichte ist. Alle Getroffenen sind weitergegangen, die infizierte und deshalb unter Quarantäne gestellte Familie nimmt längst wieder am Alltag teil.

Der Film, wie auch die anderen Beiträge, ordnet ein, er zurrt etwas fest, was noch im Fluss ist. Er versucht, Wasser zu halten. Das ist kein unmögliches Unterfangen (Damm, Eis), aber eines, das nur unter besonderen Umständen gelingt. Und von dem klar ist, dass dieses Festhalten nur zeitweise erfolgreich sein wird; Eis schmilzt, ein Damm bricht. Diese zwei Tage im Dorfe, die trotz aller mit Sorgfalt gesuchten Momente sind zufällig, sie geben vor, für ein Ganzes zu stehen, sie tun es, einen Augenblick lang tun sie es.

Heute lese ich in einem Interview mit einer Bildhauerin und einer Bildenden Künstlerin den Satz: »Es ist die Frage, ob es dann noch die bisherige Form des Kunstmarkts geben kann, wenn es durch eine digitalisierte Kunst keine Begrenzung von Zeit und Ort mehr gibt.« Vor einigen Tagen eine Zoomkonferenz, in der wir über die Möglichkeit literarischer Veranstaltungen sprechen, angesichts der Situation, dass auf unbestimmte Zeit keine kulturellen Veranstaltungen im öffentlichen Raum stattfinden dürfen.

Auf der Suche nach Auswegen aus diesem Paradoxon landet das Gespräch bei abgefilmten Lesungen. Dabei sagt jemand etwas, das mir, trotz aller Offensichtlichkeit, bisher nicht bewusst war: Gefilmte Lesungen bedeutet, dass es jede Lesung nur einmal braucht. Anders als bei Lesungen, bei denen der Autor reist und jeden Abend zwar das Gleiche tut, aber vor anderen Leuten, genügt es heute, einmal das Gleiche zu tun und für alle abrufbar zu stellen. Der Augenblick steht für alles, er braucht keine Kopie. Der Kunst kann das Vermeiden der Wiederholung helfen, dem Monetären nicht.

Ansonsten: Engste Berater warnen den amerikanischen Präsidenten vor weiteren Pressekonferenzen, da diese mehr Schaden als Nutzen bringen würden. Nach dem Trinken eines Aquariumreinigers, dessen Namen dem des von Donald Trump als Coronamedizin empfohlenen Malariamittels Hydroxychloroquin ähnelt, stirbt ein amerikanischer Ruheständler. Nils Petersen, Stürmer bei SC Freiburg, bestätigt, dass Spieler regelmäßig auch ohne Infektionsverdacht auf das Coronavirus getestet werden. Ohne Kenntnis des Gesundheitsamts entsteht in Berlin die erste private Corona-Teststelle, die ab nächster Woche Tests für sechzig Euro anbieten wird.

Nach Angaben der Johns-Hopkins-Universität sind mittlerweile mehr als 200.000 Menschen an Covid-19 gestorben. Mit einer mit Krankenhauspersonal eingesungenen Neuaufnahme von »You’ll never walk alone« steht der neunundneunzigjährige Tom Moorean der Spitze der britischen Singlecharts. An der Spitze der deutschen Albumcharts stehen Frei.Wild mit ihrem »Corona Quarantäne Tape«.

24. April | Fensterrentner

Seit zwei Monaten schreibe ich über die Coronamonate. Am Abend überlege ich, was ich tagsüber wahrgenommen habe und wofür es Worte benötigt. Das, was mich umgibt, ist gleichförmiger geworden, es erscheint läppisch, davon zu erzählen. Die Schritt-für-Schritt eingetretenen Veränderungen sind mittlerweile schon in der Sekunde nach dem Erwachen präsent, sie sind zur Normalität geronnenes Extrem. Sie müssen nicht mehr beschrieben werden.

Die Beobachtungen und Erfahrungen sind gemacht. Die Reaktionen darauf sind, was mich beschäftigt. Das Verändern ist abgeschlossen, nun geht es um das Gestalten des Veränderten, der Kampf um die Deutungshoheit. Es ist ermüdend, weil die gleichen Muster, die für einige Wochen ausgesetzt schienen, wieder übernehmen: die #s, Empörungen, geteilten Texte, das Anspringen auf geringste Reize, das Ignorieren eines vernünftigen Maßes. Ich spreche von Kommunikation, weil es das ist, was denen, die nicht mehr Handelnde sind, geblieben ist, wir sind in der Mehrzahl.

Darüber zu sprechen und nicht über das, was mich unmittelbar umgibt, macht mich zu einem Fensterrentner. Ich habe ein Kissen auf die Fensterbank gelegt und bette meinen Oberkörper auf dieses Kissen, hänge mich so selbstbewusst hinaus in die Welt, ohne Teil von ihr zu sein und kommentiere Ereignisse, die ich nicht greifen kann. Meine Stimme schnappt wie alle Stimmen in dieser Position über. Ich kommentiere die ferne Welt, weil die nahe Welt verschwunden ist. All die anderen Fensterrentner nicken bejahend oder heben ihre Mistgabeln, es ist ein ewiger Echoraum hier in unserer Straße, die endlos ist und ins Nichts führt.

Und als dieser Fensterrentner nehme ich an den amerikanischen Pressekonferenzen teil, höre, wie der Präsident empfiehlt, sich Desinfektionsmittel zu spritzen.

Wie alle bin ich fassungslos und amüsiert zugleich. Ich lese irgendwo, dass dies die erste Krise der letzten hundert Jahren wäre, in der es der Welt nicht nach amerikanischem »Leadership« verlangt. Jede weitere Pressekonferenz bestätigt diesen Satz.

Aber jede weitere Pressekonferenz schaue ich dennoch und jedes Mal schmunzle ich, die Show ist gut, sie ringt mir ein Lächeln ab – fassungslos zwar, aber immerhin – und genau dies ist der Zweck dieser Konferenzen. Und jedes Mal sage ich mir, beim nächsten Mal nicht, dann nicht mehr. Aber es geht nicht, es geht einfach nicht.

Ansonsten: Der britische Desinfektionshersteller Reckitt Benckiser spricht sich in einer Mitteilung nachdrücklich dagegen aus, die von ihm hergestellten Desinfektionsmittel im Menschen anzuwenden. In Österreich wird ein Änderungsvorschlag des Epidemiegesetzes ins Parlament eingebracht; das Gesetz würde dann den Ausschluss bestimmter Personengruppen von Veranstaltungen erlauben.

Das deutsche Kanzleramt übt Druck auf Apple aus, damit der Konzern für die geplante Coronaapp den Datenschutz-Standard aufweicht. Laut aktueller Zahlen zur Übersterblichkeit sterben in den teilnehmenden Ländern derzeit wöchentlich etwa sechzehntausend Menschen mehr als sonst zu dieser Jahreszeit.

Weil aufgrund der Restaurantschließungen die Vernichtung von 750.000 Tonnen Kartoffeln droht, ruft Belgiens Vereinigung der Kartoffelhändler die Bevölkerung auf, zwei Mal pro Woche Pommes zu essen. Der Duke und die Duchess of Rothesay treten vor die Haustür, um mit Klatschen dem medizinischen Personal ihren Dank auszusprechen.

23. April | Das alte Leben

Ein Donnerstag in der Stadt wie ein verkaufsgeschlossener Sonntag, nur ohne Touristen, Studentinnen, Schulklassen. Auf dem Herderplatz haben sich Schauspieler des Nationaltheaters Süßkartoffel-Chili-Suppe beim Biorestaurant geholt und reden über Proben mit Schutzmasken. Vor die geöffneten Türen der Nähläden sind Tische geschoben, auf denen mehrere Plastikschalen mit unterschiedlich gestalteten Schutzmasken zum Verkauf stehen. Geschäfte haben sich für Gegenstände entschieden, die sie ab morgen abgezählt den Kunden in die Hand geben können, um die Höchstkundenzahl bestimmen können; im Taschengeschäft sind es Rollkoffer, für den Buchladen hat der Besitzer heute fünfzehn alte DDR-Einkaufskörbe über ebay-Kleinanzeigen in Bad Dürrenberg abgeholt. Hinter einer Plexiglasscheibe sitzt eine Verkäuferin und sagt zum Mann, der seine Waren aufs Band legt: »Da wünscht man sich schon sein altes Leben zurück.«

Ansonsten: In London reduziert sich die Luftverschmutzung um fünfzig Prozent. In Schweden werden ältere Patienten nicht mehr in die Intensivstationen aufgenommen, um die verfügbaren Plätze für jüngere, ansonsten gesündere Patienten bereitzuhalten. Einer Studie zufolge erkranken wenige Raucher an Covid-19, Wissenschaftler raten aber davon ab, jetzt mit dem Rauchen zu beginnen. Grönland ist virusfrei. Covid19 zu haben als Comic.

22. April | Coronasituation mit Bierbezug

Kurz nach Bekanntgabe der Oktoberfestabsage lese ich von einer weiteren Coronasituation mit Bierbezug. Ein Text erklärt, weshalb es in Bayern so viele Covid19-Fälle gibt: zum einen die Nähe zu Österreich & Italien, die von dort zurückkehrenden Wintersportlerinnen. Zum anderen die Starkbierfeste. Abgehalten in der ersten Märzwoche, tausende Menschen in großen Hallen, biertrinkend. »Acht von zehn Landkreisen und kreisfreien Städten mit den bundesweit pro Kopf höchsten Covid-19-Infektionszahlen sind im Freistaat. In allen acht fanden noch im März Starkbierfeste statt – teils auch sehr große.«

Der Artikel arbeitet die Begebenheiten auf. Berichtet von Unsicherheiten, von einem, der entscheiden musste, der sagt: » Ich bin KfZ-Mechaniker – kein Mediziner oder gar Virologe.« Was beschrieben wird, ist Vergangenheit. Es ist bereits geschehen. Abstand ist möglich, man kann die Ereignisse mit dem Wissen von heute bewerten, deshalb Fehler aufarbeiten und Versäumnisse benennen. Die Schlussfolgerungen leuchten ein.

Am 6. März war die Buchmesse bereits abgesagt, der Lockdown in Italien stand unmittelbar bevor. In den Coronamonaten steht zum Unterlassen des Händeschüttelns: »Damit überspielen wir das Unbehagen, einer sozialen Gepflogenheit nicht zu entsprechen, auch die Unsicherheit, ob es wirklich schon so weit ist, solch radikale Schritte gehen zu müssen.«

Ende der ersten Märzwoche war bekannt, was anderswo geschieht. Aber es war noch nicht hier geschehen, noch nicht uns. Die Gefahr war wahrscheinlich, aber noch nicht erfahren. Alle, die Entscheidungen treffen mussten, konnten davon ausgehen, dass etwas Schreckliches geschehen könnte. Aber es war nicht gewiss. Jede Entscheidung zugunsten der schrecklichen möglichen Zukunft hätte diese schreckliche Zukunft schon in die damalige Gegenwart geholt und diese okaye Gegenwart beschädigt. In der ersten Märzwoche ein Starbierfest zu feiern, bedeutete, das Schreckliche zu verschieben.

Gerade sind wir wieder in einer Situation, die Vergangenheit sein und über die bald geschrieben werden wird. Die Lockerungen werden bewertet werden, die Entscheidungen Einzelner ebenso, Aussagen werden zitiert und vorgehalten werden. Die Bilder von heute werden neu eingeordnet werden; der verkaufsoffene Sonntag, die Diskussion um die Wiederaufnahme der Bundesliga, um das schwedische Modell. Man wird die Protagonisten zukünftig an ihren heutigen Äußerungen messen, wird unter den Gegenspielern Laschet & Söder einen »Gewinner« ausgemacht haben. Man wird rausgefunden haben, ob Öffnungsdiskussions-Orgien eine vermessene oder angemessene Wortwahl war.

Gestern wurde eine Ausstellung, die im September stattfinden sollte, abgesagt, nicht nur aus Sicherheitsabstandsgründen, sondern hauptsächlichen wegen Geldern, die aufgrund einer Haushaltssperre nicht mehr zur Verfügung stehen. Zwei weitere Ausstellungen sind noch im Terminkalender, dazu Lesungen und ebenso ein Projekt, das allerdings die Anwesenheit mehrerer Menschen auf engem Raum erfordert. Sehr wahrscheinlich, dass all dies nicht stattfinden wird und sich in eine Zeit verlagert, in der Zitat »wieder so was möglich ist«, eine mögliche Zukunft nach der schrecklichen Gegenwart.

Möglich sein werden in diesem Jahr vermutlich weder die Frankfurter Buchmesse noch ähnliche Zusammenkünfte. Ich drücke 2020 auf Pause, halte an, was geschehen sollte, und drücke erst auf Weiter, wenn es weitergehen kann, am 1.1.2021, am 1.7. 2021, am 1.1.2022, um dann fortzusetzen, was sich in den ersten Märztagen des neuen Jahrzehnts verloren hat.

Und es wäre bei all dem Aussetzen und Pausemachen schön, wenn der Körper auch eine Nullrunde anbieten würde, wenn er sagte: Du setzt mit dem Älterwerden aus und wir fahren mit Zellteilung fort, wenn auch der Rest wieder Fahrt aufnimmt.

Ansonsten: In Großbritannien wird nach einer Studie von doppelt so hohen Todeszahlen ausgegangen. Eine andere Studie stellt die These auf, dass in den USA Fehlinformationen von Fox News zu weniger social distancing und damit zu einer höheren Zahl von Infizierten und Toten geführt haben. In Wolfsburg wird Mitarbeiterinnen des ambulanten Pflegedienstes bei einigen Bäckern und Supermärkten der Zutritt verweigert, wenn sie anhand ihrer Dienstkleidung als Pflegekräfte zu erkennen sind. In Amerika werden für zunächst zwei Monate keine dauerhaften Aufenthaltserlaubnisse mehr ausgegeben.

Aufgrund der wegbrechenden Einnahmen aus dem Tourismussektor wird auf den Färöer-Inseln eine Initiative gestartet, dank der man Einheimische fernsteuern kann; der ferngesteuerte Reiseführer sei »eine einzigartige Plattform, auf der isolierte Menschen einen Spaziergang durch unsere wilden Landschaften machen und ein Gefühl der Freiheit wiedererlangen können«.

Die Kanzlerin bekräftigt das deutsche Nein zu Eurobonds, weil sich die Bundesregierung auf zentrale Bereiche der Wirtschaft konzentrieren solle, statt immer neue Versprechen zu machen. Wenn etwa auch Künstler mit Steuergeld gerettet werden sollten, werde man dies in Spanien und Italien vermerken und darauf verweisen, dass Deutschland offensichtlich über genug Geld verfüge.

21. April | Angst III / Verkaufsoffener Sonntag

In regelmäßigen Abständen befrage ich mich, ob ich Angst habe. Heute war einer dieser Tage. Heute verspürte ich zum ersten Mal über die allgemeine Angst hinaus, die Angst um Familie und Freunde, die immer da ist, die egoistische Angst, die Angst um mich selbst.

Sie kam nach dem Lesen der zweiten Zeile eines Artikels, der von der möglichen Mutation des Virus berichtete, 270fache Virenmenge stand dort und was das bedeuten könnte. Nun stoße ich jeden Tag auf einen Artikel, der hoffnungsvoll von einem potentiellen Impfstoff schreibt und ebenso auf einen Artikel, der beschreibt, warum alles noch viel länger dauert / schlimmer ist / unterschätzt wird. Die Kunst besteht in der Einordnung oder besser noch, im Luftholen und Abwarten.

Bei diesem Artikel war es anders. Ich sah diese Zahl und ahnte für einen Moment, was sie für Auswirkungen haben könnte und die aus dieser Erkenntnis resultierende Angst kam schlagartig, wuchtig, allumfassend. Ich las weiter, las von verschiedenen Virenstämmen, die verschieden aggressiv wirken, las, dass in New York ein besonders aggressiver Stamm aktiv ist und in der weiten Fläche Amerikas ein weniger aggressiver und ahnte, welche Rolle Glück spielt und dass sich Glück nicht organisieren lässt, sondern nur, dass das Unglück weniger verheerend wirkt. Dann schloss ich den Text und schob ihn beiseite und damit die Angst und es war das Vernünftigste, was ich heute getan habe.

Davon abgesehen bin ich erstaunt, wie unterschiedlich doch die Wahrnehmung ist. Einerseits das Beschreiben einer zweiten Welle, andererseits die feuchtfröhliche Ankündigung eines verkaufsoffenen Sonntags in Köln, Shoppen in der Pandemie, weil die Reproduktionszahl kurzzeitig mal auf 0,7 stand.

Ansonsten: Die Reproduktionszahl in Deutschland steigt auf 0,9. Das Oktoberfest wird abgesagt. Phisher senden Mails mit gefälschten Nachrichten, in denen der Empfänger gewarnt wird, dass er mit infektiösen Personen in Kontakt gekommen sei und er deshalb auf einen bestimmten Link klicken soll. Der US-Bundesstaat Missouri reicht wegen der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie Klage gegen China ein. In mehreren Bundesländern wird die Maskenpflicht eingeführt. Nach der zweiten Ansteckungswelle verschärft Singapur den Shutdown.

20. April | stets Seite Unbehagen

So fühlt sich also die Normalität ein; ich arbeite, ich shoppe, ich schreibe das Abi. Ein kalter Wind bläst und der einzige Regen der letzten Wochen ist längst verdunstet, morgen schon wird der Boden wieder so hart sein, dass sich die Kinder daraus nur ein Staubbrot werden backen können.

Die temporäre Einheit, das Gefühl, dass uns alle dasselbe widerfahren ist und wir deshalb dasselbe wahrnehmen und uns verbunden fühlen könnten, ist nun auch futsch. Wie in nahezu allem der letzten Jahre sammeln sich die Standpunkte auf zwei Seiten. Ich bin klar auf der Seite Unbehagen angesichts der Lockerungen und beäuge die Argumente dagegen vorerst nur kritisch, wohlwissend, dass kritisch nicht ausreichen wird.

Währenddessen laufen in Amerika die patriotischen, libertären, republikanischen Prepper, die sich für genau solch eine Situation präpariert haben – mit Dosennahrung und Trockenfutter für zehn Jahre im Voraus – Sturm gegen den Shutdown, sammeln sich in ihren mit der Konföderierten-Flagge bestickten Jeansjacken vor Regierungsgebäuden und skandieren »We want to work«, befeuert von den Tweets des Präsidenten, in maximaler Bewaffnung. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, wohin das führen wird.

Auch in Deutschland wird Sturm gelaufen. Das Empfinden wird extremer, damit auch die Reaktionen. In Berlin werden die Proteste begleitet von den üblichen Verdächtigen plus einem Schulterschluss mit so etwas wie einer homöopathischen Linksaußenbewegung. In Dresden marschiert am 20. April, dem Geburtstag Hitlers, Pegida, fünfzehn Personen ist die Meinungsäußerung erlaubt.

Auch hier gehört nicht viel Fantasie dazu, um sich die nächsten Schritte, die nächsten Kundgebungen, die mediale Verstärkung, die Facebookposts und Kommentare der Bots und des Überschwappen von Theorien in den großen Kessel der Allgemeinheit auszumalen.

Währenddessen lese ich im Spanischen-Grippe-Buch von der zweiten Welle und weshalb diese so viel tödlicher war als die erste Welle. Virologen erklären, weshalb das Virus bisher lokal so unterschiedlich stark aufgetreten ist und warum sich das ändern wird und im Herbst das Virus an allen Orten etwa gleichstark vertreten sein wird und die Kanzlerin spricht von »Öffnungsdiskussions-Orgien« und in Nordrhein-Westfalen wird Latein gebüffelt, weil es gilt, einen Notendurchschnitt von 2,3 zu schaffen, damit man nach dem Sozialen Jahr auf der Intensivstation im Wintersemester 21/22 Maschinenbau studieren kann und ich denke, mit der Seite Unbehagen ist man am 20. April 2020 auf der sicheren Seite.

Ansonsten: Amerikanische Krankenschwestern blockieren einen Protest gegen den Shutdown. Im Sicherheitsabstand demonstrieren Menschen in Tel Aviv gegen Korruption und damit gegen Benjamin Netanyahu. Der Ölpreis fällt auf einen negativen Wert. Laut Forschern könnte der Fall eines neunjährigen Kindes, das trotz einer längeren Zeit unentdeckt gebliebenen Infektion mit dem Coronavirus niemanden ansteckte, darauf hindeuten, dass Kinder bei der Verbreitung von Sars-CoV-2 keine wichtige Rolle spielen.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen einen CDU-Landrat, der an einem illegalen Konzert des Möschlitzer Posaunenchors teilgenommen haben soll. Die Kanzlerkandidaten Markus Söder und Armin Laschet nennen bei einem Interview mit BILD als mögliches Datum für die Wiederaufnahme der Bundesliga den 9. Mai. Coronavirus erleichtert Fertigstellung von BER. 15.000 russische Soldaten, die für die Parade des 75. Jahrestag des Sieges über Deutschland geprobt haben, werden nach mehreren positiven Tests in Quarantäne geschickt.

Singend sammeln Rolling Stones, Paul McCartney, Billie Eilish, Elton John, Stevie Wonder, Lady Gaga und viele andere für »One World: Together At Home« Spendengelder ein. Nach über drei Monaten im Exil kehren die Spieler des chinesischen Fußballklubs Wuhan Zall FC in die Heimatstadt ihres Vereins zurück. In Amerika steigt die Zahl der Covid19-Toten auf über 40000. Oder wie Donald Trump sagt: »fake news, they were excoriated by people like you who don’t know any better because you don’t have the brains with you were born with.«

19. April | Angebot

Ein Mädchen läuft durch den Park. An ihren Rucksack sind mehrere, unterschiedlich bunte Masken gebunden. An einer hängt ein Zettel: Masken zum Verkauf.

18. April | Leerstellen

Ich merke, dass mich die medizinische Sicht auf die aktuelle Situation deutlich weniger interessiert als vor Wochen noch. Nur sporadisch horche ich auf, wenn ein Heilmittel versprochen ist, informiere mich nur oberflächlich über den Grund, weshalb es Heilung versprechen könnte. Über die Coronaapp bringe ich kaum etwas in Erfahrung. Ich schaue nicht die Videos, die zeigen, wie sich der Alltag nach Aufhebung des Shutdowns in Wuhan geändert hat, will auch nichts über die juristischen Feinheiten wissen, weshalb manche Geschäfte mit mehr als 800 m² doch öffnen dürfen.

Mich interessiert, was mich betriff. Und dort besonders die Leerstellen, das, was nicht gesagt wird. Weil es oft wichtiger ist zu verstehen, warum etwas nicht gesagt wird als zu verstehen, was gesagt wird.

Zwei Leerstellen betreffen mich. Die Kindergärten in Zeiten von Corona. Zu behaupten, dass sie in den offiziellen Verlautbarungen der letzten Tage nur am Rande eine Rolle gespielt hätten, wäre schon eine Übertreibung. Dürre Nebensätze, was sicher auch der demographischen Zusammensetzung der Kommissionen und Entscheidungsgremien zuzuschreiben ist. Vielleicht der Vorstellung, dass Kindergärten zum »Gedöns« zu zählen sind, dass Kindergärten sowieso nur zwischen 9-12 Uhr geöffnet haben und diese drei Stunden schon irgendwie zu schaffen sind, dass Homeoffice und Kinderbetreuung zu schaffen sind.

Ich horche auf, wenn erklärt wird, dass eine Öffnung von IKEA ab Montag möglich gemacht wurde, für die Kindergärten nur eine lapidare Öffnungsempfehlung irgendwann nach den Sommerferien ausgesprochen wird. Ich verstehe die Angst derer mit Vorerkrankungen, jene, die betroffene Kinder haben, deren sorgenvolle Aussagen, dass es nicht denkbar sei, in den nächsten Monaten wieder einen regulären Schul- oder Kindergartenbetrieb aufzunehmen.

Und ich sehe den Alltag, ich höre von Freunden und Bekannten, den langen Tagen, natürlich mit den wunderbaren gemeinsamen Momenten und den vielen dazwischen, weiß, dass Autohäuser öffnen und Spielplätze abgesperrt bleiben und ein Kontaktverbot weiterhin besteht. Ich erwarte kein Fingerschnipsen von irgendjemanden, welches das gesamte Komplizierte mit einem Mal hinwegfegt. Aber ich erwarte, dass die Frage nach der Kinderbetreuung wahrgenommen wird, auch als eine der drängenden, dass nach der Verkündigung der allgemeinen Vorgehensweise praktische Vorschläge und Lösungen erdacht und in die Welt hinaus gegeben werden; Notbetreuung für Alleinstehende, schrittweise Schichtbetreuung aller Kinder in kleinen Gruppen, Coronaelternzeit, Coronaelterngeld, zumindest die Bestätigung, in einem festen, kleineren Kreis sich privat organisieren zu können, eben nicht vorauszusetzen: Bis Herbst so weiter, ihr vereinbart das schon irgendwie.

Eine zweite Leerstelle ist die Kultur in Zeiten von Corona. Und mehr noch: in den Zeiten nach Corona. Ich horche auf bei der Aussage, dass alle Großveranstaltungen bis 31. August abgesagt sind. Ich suche, wie Großveranstaltungen definiert sind und finde keine Zahl. Und ich weiß: zu Kultur in diesen Zeiten gibt es in den Gremien wenige Gedanken, weil Kultur immer da ist, immer am Extrem ist, was kann extremer sein als die Gegenwart.

Dem literarischen Verein, in dem ich tätig bin, sind von kommunaler Seite alle Mittel für dieses Jahr gestrichen worden. Nicht teilweise, nicht aufgeschoben, ein kompletter Wegfall der Unterstützung. Es ist unklar, ab wann, wo und in welcher Größe welche Veranstaltungen wieder stattfinden können. Eine Planung ist unmöglich, aber geplant werden muss, Finanzierungspläne müssen angepasst, Konzepte erdacht und umgesetzt werden.

Mehrere Monate keine Kultur im öffentlichen Raum; es ist klar, dass die Kultur im öffentlichen Raum nach diesen mehreren Monaten eine andere sein wird. Sie wird weniger sein. Und es ist klar, dass es auch hier kein Fingerschnipsen geben kann. Und auch hier die Erwartung, dass diese Frage als solche wahrgenommen wird, dass Maßnahmen für Kinos und Theater und Kulturspielstätten – nicht nur die großen, sondern gerade die kleinen, überlegt und ersonnen und ermöglicht werden.

Das sind die Leerstellen. Sie beschäftigen mich, mehr als das andere, denn sie betreffen mich.

Ansonsten: Der amerikanische Präsident ruft die Bürger in drei Bundesstaaten auf, sich von den Corona-Maßnahmen zu »befreien« und ihr Recht zu verteidigen, Waffen zu tragen. Arnold Schwarzenegger wird Corona-Berater in Kalifornien. Durch die Einschränkungen der Mobilität wird in den USA wird die Kohlensäure fürs Bier knapp. Aus Angst vor Corona fliehen Pfleger aus einem kanadischen Altenheim, 31 Senioren sterben. Belgien hat die höchste Todesrate im Verhältnis zur Einwohnerzahl. In Deutschland wird die Möglichkeit der Krankschreibung per Telefon zurückgenommen, entgegen der ausdrücklichen Empfehlung der kassenärztlichen Bundesvereinigung, auf Druck des Arbeitgeberverbandes.

17. April | Skateboarden in der Pandemie

Neben dem Bauhausmuseum in Weimar steht ein Turm, er gehört zur unterirdischen Autoparkanlage. Seit Mitte März hängt an dessen Fassade ein meterhohes Transparent. »Deine Verantwortung für uns alle« steht dort und darunter sind in Piktogrammen Handlungsanweisungen für das Verhalten während der Pandemie vermerkt.

Das Transparent erinnert in seiner ausgestellten Dringlichkeit an die Big-Brother-Screens in 1984, an die Neoreklamen in Blade Runner. Es ist – trotz aller positiv gemeinten Aussage – ein dystopisches Bild; die überlebensgroße Verkündung von Informationen, die in die Leben ausnahmsloser aller eingreifen, dauerhaft und gut sichtbar ausgestellt. In dieser Größe gibt es keine Entschuldigung, das Piktogramm vom Händewaschen zu ignorieren, der Aufforderung, Menschenansammlungen zu meiden.

Neben dem Turm, vor dem Museum, ist ein Platz. Er ist groß und flach und makellos, einige wenige Bäume mit weiß angestrichenen Stämmen sind im Beton eingelassen, dazu fällt ein Wasserbecken ohne Wasser allmählich flach ab. Die Architektinnen haben diesen Ort geplant für kulturinteressierte Besucher aus aller Welt, die hier den Ursprung der Bauhausbewegung kennenlernen sollen.

Doch der Platz ist kein Platz für Kulturinteressierte, der Platz vor dem Museum ist ein Platz der Skater. Der Boden ist ideal für ihre Boards, die Kanten des Wasserbeckens können sie für ihre Bewegungen nutzen, an das Museumsgebäude sind Steinvorsprünge eingelassen, auf denen sie sitzen und rauchen können. Ansonsten rollen und springen sie, Jungen und Mädchen, Skater in den besten Jahren, alte Skater in hellbraunen Cordhosen und Holzfällerhemden, Rad Dads.

Heiß brennt die Sonne, dreißig, vielleicht auch fünfzig Skaterinnen sind auf dem Stéphane-Hessel-Platz versammelt. Ihre Zahl scheint den überlebensgroßen Piktogrammen zu widersprechen. Dabei sind die Skater in maximal Dreier-Gruppen zusammen. Davon allerdings bestimmt zwanzig.

Von der Friedenstraße her kommt ein Polizeiauto. In Schritttempo fährt es vorbei, die Scheiben heruntergekurbelt, sensibilisiert von den Pandemieverordnungen schauen skeptische Polizistenaugen auf die Skatergruppen.

Der Wagen hält. Ein Polizist steigt aus. Er will zu den Skaterinnen gehen, als ein Dreizehnjähriger mit Board unter dem Arm auf ihn zueilt. Der Skater winkt den Polizisten heran. Er bitte um Hilfe.

Denn mitten unter den Skatern sitzt einer, der nicht zu ihnen gehört. Er ist älter, er hat mehrere Flaschen bei sich, Bier, Schnaps, einen Tetrapack Weißwein. Er sitzt und setzt an immer wieder an, trinkt und säuft und brüllt dabei »Heil Hitler«. Der dreizehnjährige Skater macht den Polizisten darauf aufmerksam.

Der Polizist und ein zweiter gehen zu dem Brüllenden, sprechen mit dem Trinkenden, nehmen Personalien auf, das, was Polizisten so machen. Am Ende führen sie ihn zum Auto, verlassen den Platz und fahren zum Revier. Die Skater bleiben, maximal Dreiergruppen, springen, rauchen, am Turm das dringliche Transparent mit den Piktogrammen, Deine Verantwortung für uns alle.

Ansonsten: China korrigiert die Todeszahlen in Wuhan deutlich nach oben. In Chicago berichtet eine Studie mit dem Ebola-Mittel Remdesivir davon, dass fast alle 125 Studienteilnehmer das Krankenhaus innerhalb einer Woche verlassen hätten, nur zwei Patienten seien gestorben, die Rede ist von einem ermutigenden Ergebnis. Laut einer Umfrage geht die Angst vor dem Virus bei den Deutschen zurück, die große Mehrheit hält die Auflagen für die Eindämmung des Coronavirus weiterhin für notwendig. Trotz der Beschränkung der Öffnung von Geschäften mit einer Ladenfläche bis 800 m² wird in NRW auch die Erlaubnis zur Öffnung für IKEA erteilt.

Beim Polizeipräsidium Mittelhessen gehen sieben Anzeigen ein, die sich auf ein Foto von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und weiteren Politikern in einem Fahrstuhl am Gießener Uniklinikum beziehen. Unbekannte stehlen aus einem Keller in Halberstadt zehn Klopapierrollen. Die Polizei ermittelt wegen Diebstahls im »besonders schweren Fall« und kommentiert: Das sei in Tagen wie diesen nicht lustig.

16. April | Der angemessene Rant

Es gibt das Bedürfnis zu schreien, oft auch, sofort loszubrüllen, sobald ich etwas erfahren habe. Instinktiv loszuranten, weil ich mich angegriffen, bevormundet, zurückgesetzt, für dumm verkauft fühle. Manches Bedürfnis nach einem Rant erledigt sich, wenn ich mehr Informationen habe, wenn das scheinbar eindeutige Bild vielschichtiger wird, wenn ich zu verstehen beginne, wie etwas zustande kommt, wenn Informationen den ursprünglichen Anlass zum Rant möglicherweise ins Gegenteil verkehren.

Und dann gibt es die Rants, ich instinktiv starten möchte, zu denen ich mich aber nicht hinreißen lasse, die ich runterschlucke, weil ich annehme, sie wären der Sache nicht gerecht, weil da mehr sein muss. Aber das Gefühl bleibt, es hat von Anfang an mit starker Stimme gesprochen.

Ein Beispiel. Die Leopoldina. Eher zurückhaltend habe ich geschrieben, auch, weil ich so wie nichts über die weltweit älteste Wissenschaftsakademie wusste und ich Institutionen – neben allem neugierigen Zweifel – mit einem Grundvertrauen entgegentreten will. Fehlt das, könnte ich mich gleich in den Channel von Xavier Naidoo einloggen und dann wäre eh alles vorbei.

Mit etwas Abstand betrachtet erscheint bei der Leopoldina die Irritation, das ich beim ersten Lesen verspürte, doch systemisch zu sein. Nicht nur das Geschlechterverhältnis der Arbeitsgruppe, auch das Alter (niemand jünger als 50), frühere Aussagen, dazu die nähere Betrachtung der Empfehlungen, das Lebensferne darin, die vielen Leerstellen und Auslassungen, die wirtschaftlichen Forderungen, auch der Vergleich zu Empfehlungen anderer Expertengruppen lassen mich zu dem Schluss kommen, dass an diesem 13. April ein Rant nicht unangemessen gewesen wäre.

Ein Rant auch drei Tage davor, zum sogenannten Heinsberg-Protokoll. Dieser Text schlüsselt akribisch den Werdegang der Studie auf. Und beschreibt das fatale Ziel, von Anfang an mit der Studie eine Lockerungspolitik in Gang setzen zu wollen. Von Anfang klar, was am Ende stehen muss – eine verminderte Gefahrenlage – um damit später auf Pressekonferenzen bestimmte Maßnahmen begründen zu können. Und selbst wenn es diese verminderte Gefahrenlage geben sollte, ist es fatal, all diese Anstrengungen, diesen Spin einer Medienagentur darauf hin ausgerichtet zu sehen. Weil es etwas minimiert, was kostbar ist: Vertrauen.

Diese Informationen, diese Erkenntnisse kommen nicht mit dem ersten Hören. Sie kommen mit Abstand. Und damit zu spät. Die ersten Worte sind zuerst in der Welt. Sie werden geteilt, ihren gehört die größte Aufmerksamkeit. Kaum jemand wird den hervorragenden Text über die Hintergründe des Heinsberg-Protokoll lesen. Aber nicht wenige werden sich bestätigt fühlen, dass alles übertrieben sei, weil dieser Virologe das ja bestätigt hat. In einer wissenschaftlichen Studie!

Ein notwendiger Rant, jeden Tag wieder, ist der über den amerikanischen Präsidenten. Es ist eine Tragödie, dass in dieser Situation ein solch inkompetenter, skrupelloser, gefährlicher Narzisst das Land führt. Den eigenen Namen auf die Hilfeschecks schreiben lassen. Die Unterstützung an die WHO einstellen. Bundesstaaten nach persönlicher Vorliebe zu bevor- oder benachteiligen. Sich mit einem Kreis von ebenso inkompetenten Jasagern zu umgeben. Wissenschaft nicht verstehen zu können, nicht einmal ansatzweise Interesse dafür zu zeigen. Keinerlei Mitgefühl für andere zu zeigen, weil keines existiert.

Die Strategie der langen Pressekonferenzen, quasi Ansprachen ohne Widerreden, fahren ansonsten Diktatoren. Alle Aktionen in der Krise werden allein unter dem Aspekt betrachtet, ob sie die eigene Wiederwahl sichern können. Den Kongress umgehen zu wollen. Sich selbst absolute Macht zuzuschreiben. Wenn man einen dystopischen Politikroman schreiben wollte, dann würde man jemanden wie Trump genauso handeln lassen. Und ebenso tragisch, dem beizuwohnen und nicht viel anders reagieren zu können, als sich die tägliche irrsinnigste Aktion von einem Comedian vorlesen zu lassen.

Ansonsten: Aufgrund des reduzierten Stromverbrauchs erwägt Frankreich die Abschaltung von Atomkraftwerken. In Ohio gibt es Proteste gegen den Shutdown, die Menge skandiert: »Show us the data«. In Jena, wo seit Anfang April Maskenpflicht herrscht, werden seit einer Woche keine Neuinfektionen mehr festgestellt. Die nun deutlich leereren Straßen in New York verleiten Autofahrer dazu, zu schnell zu fahren. Die Tour de France wird abgesagt. Durch das Verbot aller Großveranstaltungen bis 31. August fallen alle Festivals aus. Der chilenische Schriftsteller Luis Sepúlveda und der Jazzmusiker Lee Konitz sterben an Covid19.

15. April | Zerbrechlicher Zwischenerfolg

Ein knapper, vielleicht der längste Monat, ist vergangen seit der Verkündigung des Lockdowns und der Ankündigung, dass nach Ostern die Situation neu bewertet werden würde. Nun ist nach Ostern, nun wird neu bewertet werden, es wurde neu bewertet.

Wäre das, was geschieht, ein Roman (und ein Roman wird es sein), würden Sätze fallen wie »Die Nation hielt den Atem« an, Wieworte wie »nervös« oder »gespannt« würden sich in den Absätzen finden, auf den Seiten würde »nägelkauend« stehen oder »fiebrige Atmosphäre«. Vielleicht wäre es kein guter Roman, aber er würde die Tage davor beschreiben, den »Superforecaster«, der in einem Interview die deutsche Pandemiezukunft prophezeit, würde von den Empfehlungen mehrerer Expertenräte erzählen und wie unterschiedlich sie bewerteten und wie »hoch die Emotionen« schlugen, bei all dem Empfohlenen, den Rants von den Betroffenen, der Wut, dem Verständnis, der Solidarität und dem Egoismus.

Der Roman würde ein Bild von der Pressekonferenz zeichnen, auf welche die Kanzlerin ohne Umschweife zum Podest läuft, Vizekanzler und Ministerpräsidenten die Plätze weist, wie sie notwendige Worte des Dankes sowohl aufrichtig als auch pflichtschuldig abhakt, um schnell zum Eigentlichen kommen zu können. Der Roman würde sie sagen lassen: »Was wir erreicht haben, ist ein zerbrechlicher Zwischenerfolg. Mit dem Virus werden wir leben, bis wir einen Impfstoff haben. Wir müssen die Zwischenerfolge bis dahin sichern.«

Sie wird erklären, worin der folgenschwere Unterschied zwischen einer Basisreproduktionszahl von <1, 1,1 und 1,3 besteht und es wird nicht so klingen, als hätte man ihr das drei Mal erklären müssen. Sie wird von 800 m² sprechen und Buchhandlungen, von Schulen und Abiturklassen, von Großveranstaltungen und Bedarfsgruppen, sie wird auch den Religionsgemeinschaften ein Dankschön sagen.

Der Roman wird weitere politische Figuren haben. Sie werden unterschiedliche Meinungen über die Öffnung von Schulen und der Größe von Geschäften haben und sie werden sich unterschiedlich souverän präsentieren. Eine Figur wird ein politischer Journalist sein, der in seiner Bewertung der Konferenz Punkte vergibt für die Kanzleranwärterschaft und niemanden wird es interessieren und alle werden es registrieren, weil sich der zukünftige Erste eines Landes am besten in einer Krise beweisen kann.

Eine Nebenfigur in einem Nebensatz wird Christian »Maulkorb« Lindner sein. In seinem Nebensatz wird er darüber sinnieren, was wohl wäre, wenn er sich 2017 für die Vizekanzlerschaft entschieden hätte, welche staatsmännische Figur er dann wohl auf dem Podest abgegeben würde und vielleicht fällt dieser Nebensatz doch dem Lektorat zum Opfer.

Der Roman würde mehrmals poetisch den Sicherheitsabstand auf der Pressekonferenz beschreiben und Metaphern bauen, die dem inneren Zustand der Figuren Ausdruck verleihen sollen. In einer Fußnote wird der Roman darauf verweisen, dass fast zeitgleich zur Konferenz die ARD einen Fernsehfilm ausstrahlt, der eine politische Situation fünf Jahre zuvor zum Thema hat, auch mit Pressekonferenzen, auch mit Krisengipfeln, Die Getriebenen. Die Kanzlerin ist mit Imogen Kogge besetzt, Walter Sittler als Frank-Walter Steinmeier und Claudius Franz als Jens Spahn.

Der Roman würde über den Fernsehfilm schreiben: »Die Geister schieden sich an dieser Entscheidung. Viele kritisierten sie scharf, andere betonten ihre starke moralische Haltung. Dabei geht es unter anderem um selbst auferlegte Zwänge, Machtinhaber und jede Menge Druck auf Merkel.« Und wäre der Roman sich seiner selbst bewusst, würde er einen Filmproduzenten auftreten lassen, der 2020 überlegt, wen er 2025 als Olaf Scholz besetzen könnte.

Anschließend würde er der Roman in einer seitenlangen Montage die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger des Landes nebeneinanderstellen. Ich wäre eine von ihnen, ich würde von einem fiktiven Roman erzählen.

Ansonsten: Die Auslieferung der Notschecks im Zuge des amerikanischen Konjunkturpaketes verzögert sich, weil auf Anordnung des US-Finanzministerium der Name Donald Trumps auf die Schecks gedruckt werden soll. Auf Anordnung Donald Trumps werden die amerikanischen Zahlungen an die Weltgesundheitsorganisation eingestellt. Ein rumänischer Erntehelfer für die Spargelernte stirbt an Covid19.

Das Vermögen von Amazon-Chef Jeff Bezos ist seit Jahresbeginn um 23,6 Milliarden auf 138 Milliarden Dollar gestiegen, Grund dafür ist der Rekordwert der Amazon-Aktie. Die Automobilhersteller Volkswagen und BMW schlagen staatliche Anreize für Autokäufer vor, um die Coronakrise zu überwinden. Forscher warnen, dass ganze Populationen von Menschenaffen an einer Infektion mit dem Virus Sars-CoV-2 sterben könnten. Der Tierpark Neumünster erarbeitet wegen der Corona-Zwangsschließung Pläne für Notschlachtungen der Tiere. So soll u.a. ein Eisbär getötet werden, falls Eintrittsgelder weiter ausbleiben.

14. April | Durchseuchung

Es ist Anfang März und ich höre zum ersten Mal das Wort Durchseuchung. Ohne zu wissen, was es bedeutet, bin ich abgestoßen davon. Durch/seuch/ung. Gleich darauf erfahre ich, was das Wort meint. Mir scheint, als haben sich hier Wort und Strategie in perfekter Ergänzung gefunden. Eine aktive Substantivierung wie ein Kärcher, der einmal durch eine Menschenmasse fegt und erbarmungslos wegreinigt, was seinem Druck nicht standhalten kann.

Das Wort geht – ebenso wie das nicht weniger grauslige »Herdenimmunität« – im Wortschatz der Coronazeit auf. Großbritannien soll durchseucht werden, die Niederlande und Schweden werden es, die USA anfangs auch, Iran, Türkei. Immer wieder drängt das Wort zurück ins Gespräch, gerade dann, wenn Alternativen besprochen werden, wenn Wirtschaft gegen Medizin gestellt wird, wenn Gegensatzpaare aufgemacht werden, wenn es um die Rückkehr zur Normalität gehen soll, wenn Maßnahmen beschlossen und Lockerungen verschoben und Expertengremien Empfehlungen aussprechen.

Durchseuchung
Durchseuchung
Durchseuchung

Durchseuchung schreibt Artikel, deren Unterzeilen lauten: »Der Tod an einer Lungenentzündung in hohem Alter muss nicht in jedem Fall bekämpft werden.« Durchseuchung lässt den Virologen sagen: »Wenn wir die Gesellschaft noch drei Monate oder mehr im Lockdown halten, dann opfern wir alles, was wir unter unserer Identität und Kultur verstehen, dafür, dass wir nicht bereit sind zu akzeptieren, dass einzelne Menschen sterben, damit am Ende die Mehrheit immun ist.« Durchseuchung ist das Ziel, wenn sie klug gelenkt ist, wenn man klug seucht.

Parallel dazu die Texte, die einordnen. Die auf den Utilitarismus verweisen, darauf, das Wohlbefinden der größten Zahl an Menschen fördern, wenn nötig, dafür das Glück des Einzelnen zu opfern. Im Fall der Durchseuchung bedeutet Glück Leben.

Oder, eine weitere Beobachtung, wie rechtsextreme Kräfte die Durchseuchung begrüßen. Für sie zeige die »Hysterie« um den Virus die Schwäche der modernen Gesellschaft, deren Schwäche und Verweichlichung. Man müsse den Kampf gegen das Virus annehmen und aushalten, bereit sein für einen sogenannten »Heldentod«.

Ansonsten: Der amerikanische Fernsehsender MSNBC bricht die Übertragung des »Coronabriefings« Donald Trumps ab. CNN kommentiert die Pressekonferenz mit live eingeblendeten Bannern wie »Angry Trump Turns Briefing Into Propaganda Session« oder »Trump uses Task Force Briefing to try and Rewrite History on Coronavirus Response«. Der Infobildschirm, der die Task Force zur Wiedereröffnung der amerikanischen Wirtschaft zeigt, wird zum Meme

Weil Amazon seine Verpflichtung in Bezug auf Gesundheit und Sicherheit der Angestellten nicht angemessen beachtet hat, dürfen in Frankreich nur noch Lebensmittel, Hygiene- und Medizinprodukte versandt werden. Luís Pitarma, Klinikarbeiter aus Portugal, der für Boris Johnsons während dessen Aufenthalt auf der Intensivstation sorgte, wird in seiner Heimat auf Titelseiten gefeiert. Über die Situation in Kolumbien. In Österreich werden die Baumärkte wieder geöffnet.

13. April | Leopoldina

Am Nachmittag signalisieren Töne den Eingang zahlreicher Nachrichten in den Freundes-WhatsApp-Gruppen. Alle (jungen Eltern) schicken diesen einen Satz: »Kitas sollten bis zu den Sommerferien weiterhin im Notbetrieb verbleiben«, verbunden mit einem Panik-Emoji.

Der Grund dafür sind die Empfehlungen der Expertenkommission für das weitere Vorgehen, die heute publik werden. Ich lese, schaue zuerst in den Absätzen, die mich unmittelbar betreffen; die Finanzwirtschaft weniger, Kinderbetreuung schon eher.

Im Freundes/Bekanntenkreis sehr unterschiedliche Auslegungen dazu: manche vermeiden seit den vergangenen vier Wochen bewusst und sorgsam jeden Kontakt mit anderen. Bei anderen helfen von Beginn an die Großeltern aus, der Grund ist Arbeit. Andere halten sich die ersten Wochen daran, öffnen seither den Kreis mehr und mehr. Andere sind in den vier Wochen im kleinen Kreis unterwegs, dieselben zwei, drei Kinder, die abwechselnd betreut werden.

Alle, die es betrifft, wissen dass sich Kinderbetreuung und Arbeit nicht vereinbaren lassen; wer ein oder mehrere Kinder betreut, kann nicht arbeiten. Selbst wenn, wie in nicht wenigen Beispielen, die Betreuung einigermaßen fair auf zwei verteilt wird, bedeutet das nicht, dass jede und jeder nun 50% der Arbeit schafft, eher 33%, eher 25%, das sind die Erfahrungswerte der letzten Wochen.

Und natürlich geht es um viel mehr als Arbeit und zu wieviel Prozentpunkten man was auf Zoommeetings geregelt bekommt. Es geht darum, dass Spielplätze mit weißroten Plastikbändern markiert sind und viele Orte, die Kinder gefallen, gesperrt sind, dass Kinder nicht mit Kindern aus anderen Familien spielen sollen, dass andere Betreuungsmöglichkeiten wie Großeltern, Tanten, Freunde nicht in Frage kommen, dass Alleinstehende mit den Kindern in den Supermarkt gehen und auch ansonsten überallhin gemeinsam und dass dies alles notwendig ist und zugleich bedeutet, jede wache Stunde am Tag, sieben Tage die Woche, nun viele Wochen bis zu den Sommerferien auf engem Raum, was angemessen ist, wenn man hört, dass Beamtungsgeräte Narben auf der Lunge hinterlassen können und was zugleich Fragen aufwirft, die weder eine 19seitige Dritte Ad-hoc-Stellungnahme beantworten kann noch sonst wer, nicht in der Zeit, nicht für den Alltag, der jeden Morgen mit dem strahlendsten Lächeln der Welt an die Tür klopft.

Die Empfehlungen der Leopoldina werden je nach persönlicher Betroffenheit besprochen und bewertet, sind nicht streng genug, lockern zu schnell, lockern an den falschen Stellen, sind zu wirtschaftsfreundlich, sind zu lebensfern, wenn Schülerinnen der vierten Klasse Mundschutz in der Schule tragen sollen oder eine Klassenstärke von fünfzehn empfohlen wird.

Die Expertenkommission ist die Nationale Akademie der Wissenschaften, eine Versammlung von Professoren aus unterschiedlichen Fachbereichen, die vor vier Jahren beispielsweise 330 Klinikzentren empfahl. 26 Mitglieder gehören zur Arbeitsgruppe, beschämenderweise nur zwei Frauen darunter. Bzw. nicht beschämend, sondern eine absolut verheerende Zahl.

Und vielleicht eine, die viel aussagt. Am gleichen Tag geht ein Artikel online, der die Pandemie als Krise der Männlichkeit sieht, der schreibt, dass die aufgerufenen Experten bis auf wenige Ausnahmen Männer sind, in den systemrelevanten Berufen mehrheitlich Frauen arbeiten und die ungleiche Bezahlung, die ungleiche Präsenz, dieses Ungleichgewicht nicht zufällig ist.

Söders Satz »In der Krise wird oft nach dem Vater gefragt« wird zitiert und die These aufgestellt, dass Krisenzeiten oft ein Backlash einleiten können. Der Text spricht von traditionellen Rollenbildern und Videokonferenzen im Homeoffice, an denen gefühlt mehr Männer teilnehmen, spricht von der Aufteilung bei der Kinderbetreuung und vom Abbild einer Realität, weil man jetzt in viele Wohnzimmer schauen kann und das alles muss nicht stimmen, weil ich viele Gegenbeispiele kenne und doch noch mehr Beispiele.

Ansonsten: Frankreich verlängert die Ausgangssperre auf den 11. Mai, der 11. Mai werde den Eintritt in die nächste Phase bedeuten. Weil in Malaysia das Gerücht kursiert, Corona verwandele Menschen in Zombies, muss das Gesundheitsministerium richtigstellen: »Die Behauptung, mit dem Virus infizierte Personen würden sich wie Zombies verhalten, ist nicht wahr.« Sachsens Ministerpräsident nimmt die Ankündigung, dass, wer sich der Anordnung häuslicher Quarantäne verweigert, in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden kann, zurück. Fünfhundert Verschwörungstheoretiker*innen demonstrieren in Berlin, weil sie angesichts der geltenden Infektionsschutzmaßnahmen eine Diktatur aufziehen sehen.

Die Straßen in Istanbul sind leer. Durch einen Waldbrand in der Sperrzone bei Tschernobyl gelangen radioaktive Teilchen in die Luft. Die Polizei löst die Geburtstagsfeier eines sechzehnjährigen Mädchens in einem Apartment in Berlin Mitte auf, das eigens für diesen Zweck von der Mutter des Mädchens angemietet wurde; gegen 32 Personen wird nun wegen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten nach dem Infektionsschutzgesetz ermittelt. Weil sie gegen die Ausgangsbeschränkungen verstoßen haben, werden zehn Touristen von der indischen Polizei dazu verpflichtet, fünfhundert Mal zu schreiben: »Ich habe mich nicht an die Regeln der Ausgangssperre gehalten, das tut mir sehr leid.«

https://twitter.com/AwardsDarwin/status/1249389261612371969

11. April | Innen / Außen

Heute habe ich im Tagebuch von Esther Kinsky gelesen, dort stehen ganz bezaubernde Sätze: »Jeder horcht bloß noch in die eigene Brust, aber nicht auf Herzensregungen, sondern ob vielleicht schon Corona kratzt.« oder »Die Menschen haben immer mehr Angst, die Vögel immer weniger.« Ihre Worte sind ein leichtes Fließen, ein Verlorengehen bei blühender Clematis und singender Trauerschnäpper.

Ich überlege, jeden Tag überlege ich, was ich schreibe und wie viel Privates ich preisgeben will. Und fast jeden Tag merke ich, dass ich an meinem Inneren gar nicht so interessiert bin, auch nicht immer an meiner unmittelbaren Umgebung, den täglichen Spaziergängen und Unternehmungen, den Reihern, die Goldfische aus dem Parkteich schnappen, den überzüchtenden, traurig schnaufenden Boxern, den Nachbarn, die im Hof Zweifelhaftes rauchen, die Kreidezeichnungen der Kinder auf den Steinen, die herangeschleppten Zweige und Stöckchen, all das, was sich erst einmal ausnimmt von der Pandemie.

Das Innen interessiert mich nicht so sehr, weil es sowieso nicht vermeidbar ist. Das Außen hingegen, ich müsste nur die Augen schließen und Kabel kappen und einmal die Woche die aktuellen Zahlen abrufen und einer ausgewählten abwegigen Aktion des amerikanischen Präsidenten beiwohnen. Wenn morgens die Väter und Mütter ihre Kinder auf dem Fahrrad transportierten, wüsste ich, die Kindergärten wären wieder offen. Wären die Plexiglasscheiben vor den Supermarktkassen abmontiert, wüsste ich, die Pandemie wäre vorbei. Was mehr müsste mir bekannt sein?

Aber so springe ich in das Außen, ständig und ständig. Und mit jedem weiteren Tag darin merke ich, wie sehr sich dieses Springen in gewohnten Bahnen bewegt. Nicht, weil keine neue Informationen kämen (die gibt es zur Genüge: eine überstandene Infektion macht möglicherweise nicht immun) oder Verschiebungen im öffentlichen Diskurs (im Moment auffällig die Häufung der Artikel über die Einschränkung von Grundrechten); nein, gewohnt ist es, weil die Informationen aus ähnlichen Quellen fließen und über ähnliche Orte ziehen wie früher.

Meine Wahrnehmung der Pandemie ist zuerst eine deutsche, dann eine europäische, zuletzt eine westliche, was immer das heißt, Europa plus Amerika vielleicht. Über New York weiß ich mehr als über Kairo. Ich weiß nur Rudimentäres über Indien, Usbekistan, Afrika noch weniger und wäre gestern die Bilder aus Istanbul nicht rundgegangen – aufgrund der extrem kurzfristig verkündeten Ausgangssperren drängen Menschen dicht an dicht zum Brot – wüsste ich kaum etwas über die Türkei.

Ich weiß nichts davon, welche Akzeptanz Atemschutzmasken in Kolumbien haben, wie Social Distancing in Nigeria aussieht, was die Ausgangssperre für Frauen in Saudi-Arabien bedeutet. Ich habe in einem Text von Guayaquil gelesen, wo Angehörigen ihre Verstorbenen in Planen wickeln, Kalk über die Leichen streuen und sie auf den Straßen ablegen. Sonst wüsste ich kaum etwas über Südamerika, außer natürlich von den Diktatoren, weil man über die Diktatoren immer Bescheid bekommt und Bescheid wissen will. Es wäre zumindest einen Versuch wert, die nächste Wortmeldung Friedrich Merz´ zu ignorieren und stattdessen mehr über Libyen in Erfahrung zu bringen, damit die Ansonsten öfter anders ausfallen als dieses.

Ansonsten: Die USA sind das Land mit den meisten Covid19-Toten. Robert Habeck schlägt vor, »nach der Krise Räte zu gründen, in denen zufällig geloste Bürgerinnen und Bürger das Erlebte diskutieren, über Konsequenzen für die Zeit danach beraten und gesellschaftliche Schlüsse daraus ziehen.«, was die Twitterbots durchdrehen lässt. Das Bundesverfassungsgericht hält das Gottesdienstverbot weiterhin für zulässig, um in der Coronakrise »Leib und Leben« zu schützen. Das Comeback der Serie Friends verschiebt sich wegen Corona. Über Hart Island.

10. April | Das Heinsberg Protokoll

Gestern stellt der Virologe Hendrik Streeck auf einer Pressekonferenz die Heinsberg-Studie vor, eine Untersuchung in der deutschen Stadt, die nach einer Karnevalssitzung zuerst besonders stark vom Virus betroffen war. Zusammengefasst: 15 Prozent der Untersuchten haben Antikörper gebildet, womit »der Prozess bis zum Erreichen einer Herdenimmunität bereits eingeleitet« sei. Schlagzeilen skalieren daraufhin auf das gesamte Land hoch – jeder siebte könnte immun sei – und fragen auf Basis dieser wissenschaftlichen Studie nach Lockerungen der Maßnahmen.

Ein Tag später wird klar, dass doch nicht alles so klar ist. Unklar ist, ob die Tests wirklich eine überstandene Infektion bestätigen und ob die 15 Prozent nur für die besonderen Bedingungen dieses kleinen Orts gelten. Ein Text, der das Vorgehen der Forscher und ihre Interpretation der Ergebnisse genau beschreib, wurde bislang nicht veröffentlicht.

Begleitet wird die Studie von der Medienagentur Storymachine. Die wird u.a. von Kai Diekmann betrieben. Die Agentur »erzählt«, nach eigenen Angaben unbezahlt, die Studie in den Medien. Dafür wird ein prägnanter, dramatisch klingender Namen gefunden, das »Heinsberg Protokoll«. Das »Heinsberg Protokoll«-Team besteht aus zehn Mitarbeitern, die »die Arbeit der Forscher vor Ort [dokumentieren], sie für die entsprechenden Kanäle Twitter und Facebook plattformgerecht aufbereiten, [dazu] Themenfindung, Konzeptionierung, Produktion, Grafik, Text, Video, Community Management…«

Nach der Pressekonferenz gestern und den ersten Schlagzeilen dazu, erscheinen heute die hinterfragenden und kritischen Texte. So schreibt die taz darüber, was wiederum Christian Drosten zu einem Tweet veranlaßt:

Warum ich das so ausführlich schreibe? Weil es ein solches Klein-Klein zeigt, ein Hin- und Her, ein Der-gegen-Den, ein Vorpreschen und Ausstellen, unnötige Unsauberkeiten, eine Verkomplizierung durch Vereinfachung von Kompliziertem und dadurch eine Vergrößerung der Ungewissheit, ein Vertrauensverlust. Und mittendrin Kai Diekmann, was nie etwas Gutes bedeuten kann.

Dabei möchte ich das gern hören. Ich möchte gern von Beginn der Herdenimmunität hören, von Lockerungen. Und doch habe ich vor zehn Tagen geschrieben, dass diese Annahme nicht aufgehen wird, dass die aktuelle Normalität über den 20. April hinaus andauern wird. Das sagt sich damals, nach zwei Wochen im Lockdown, natürlich leichter als nach vier Wochen.

Womöglich entpuppen sich die beiden Drehtage im Dorf als Bumerang. Die Stunden unter freiem Himmel, das Beitragende haben mich aus der notwendigen Routine des minimal Aktiven herausgerissen. Die Vorstellung, jetzt noch einmal zwei / vier / acht Wochen wie die letzten zu verbringen, erscheint nicht gerade sehr verlockend.

Ansonsten: Drohnenaufnahmen zeigen, wie auf Hart Island vor New York Massengräber für die Covid19-Toten ausgehoben werden. In Nordrhein-Westfalen setzt die Polizei Drohnen ein, um die Ausgangsbeschränkungen zu kontrollieren. Eine Studie ergibt, dass 57 Prozent der geprüften Coronafälle in Österreich sich nach Ischgl zurückverfolgen lassen. Um das Einreiseverbot für Touristen zu unterlaufen, versuchen einige ihren Zweitwohnsitz auf Sylt zum Erstwohnsitz zu machen, andere erfinden Schäden an ihren Immobilien, um sich so um die Reparatur kümmern zu müssen. In China zeigt eine App öffentlich die Körpertemperatur des Benutzers an.

Das südkoreanische Centers for Disease Control and Prevention erklärt in einem Briefung, dass vermeintlich geheilte Covid-19-Patienten womöglich erneut an dem durch das Coronavirus ausgelösten Lungenleiden erkranken können. Nach mehreren Betrugsversuchen stellt Nordrhein-Westfalen die Zahlung der Corona-Soforthilfe vorerst ein. Unter Meisen bricht ein unbekannter, hoch ansteckender Virus aus. Die Komplettlesung der »Die Pest« im Literaturcafé ist abgeschlossen. Auf dem Cluj-Napoca Flughafen in Rumänien warten 1500 Menschen auf ihren Flug nach Deutschland, um dort als Erntehelfer auszuhelfen.

9. April | Alle gleich

Ich lese: Vor dem Virus sind wir alle gleich. Ich lese: In New York ist die Sterberate für Schwarze und Latinos mehr als doppelt so hoch wie für Weiße. Ich lese: In Chicago sterben infizierte Schwarze sieben Mal so häufig wie jede andere Bevölkerungsgruppe. Ich lese: »Überwiegend schwarze und braune Viertel sind medizinisch meist unterversorgt«. Lese: »Schwarze und Latinos können es sich viel seltener als Weiße leisten, im Homeoffice zu arbeiten … Soziale Distanz ist ein Privileg.«

Ich lese im Buch über die Spanische Grippe in einem Kapitel über die Gründe dafür, weshalb das Virus an unterschiedlichen Orten unterschiedlich wirkte. Ein Beispiel wird genannt: In Paris gab es in den wohlhabenden Vierteln die meisten Toten. Doch nicht die Besitzer der Villen und großen Stadthäuser starben, sondern die Bediensteten, die bis zu achtzehn Stunden arbeiteten, die in kleinen, schlecht belüfteten Räumen mit schrägen Decken wohnten. »Die Grippe mag demokratisch gewesen sein, doch die Gesellschaft, die von ihr heimgesucht wurde, war es nicht: Ein Viertel aller Frauen, die in Paris starben, waren Dienstmädchen.«

Den letzten Drostcast vor Ostern gehört. Darin die Information, dass zukünftig nur noch alle zwei Tage gesprochen wird. Ich verspüre Erleichterung. Das tägliche Hören hat zur Pflicht gehört, eine Notwendigkeit, um im Bilde zu sein, Informationen zu bekommen, die Tage später von Bedeutung sein werden. Dieser Pflicht werde ich nun entbunden, zumindest zum Teil. Und will ich nicht glauben, dass diese Reduzierung auch sagt: Die Schlagzahl lässt nach, weil sich die Situation verändert hat, entspannt möglicherweise?

Ansonsten: Boris Johnson verlässt die Intensivstation. Ein Inder konstruiert ein Auto, das wie der Coronavirus aussieht und fährt damit durch die Straßen von Hyderabad, um auf den Lockdown hinzuweisen. Nach wochenlanger Quarantäne können drei Raumfahrer zur Internationalen Raumstation ISS starten. Die Bundesregierung erlaubt Zwölf-Stunden-Dienste für Berufe im Gesundheitswesen, in der Pflege oder im Bereich der Sicherheit. Das Lesen von Büchern auf bayrischen Parkbänken bleibt nun doch erlaubt. Ein Automat in der Berliner U-Bahnstation Schlesisches Tor, an es seit kurzem Atemschutzmasken zu kaufen gibt, wird aus der Wand gebrochen und gestohlen. Weil der malaysianische Präservativ-Hersteller Karex aus Malaysia seine Produktion herunterfährt, droht nun weltweit eine Kondomknappheit.

Und: Die gute Nachbarschaft hat mir Fragen gestellt.

8. April | Alles außer Corona

Ein Nachtrag zu gestern: Als wir auf der Dorfstraße stehen, drei aus zwei verschiedenen Haushalten, zwei Meter zwischen diesen Haushalten, Atemschutzmasken über dem Gesicht, geht eine Scheunentür auf. Ein irritierter Blick, auch fordernd. Ob wir nicht von Corona gehört hätten? Ob wir nicht wüssten, dass man zu dritt nicht mehr zusammenstehen sollte, dass dies verboten sei?

Wir erklären uns, sprechen von Ausnahmen, zu der wir als Drehteam gehören, bieten an, die ausgedruckte Bestätigung des Fernsehsenders über einen Drehauftrag hier vorzuzeigen. Ach, ist das so, sagt der Mann und winkt ab. Einen Moment wartet er, taxiert die Ortsfremden, baut sich gewissermaßen auf und verschwindet dann wieder in der Scheune.

Es ist nicht so, dass ich kein Verständnis für ihn hätte. Er hat Fremde gesehen, sie standen zusammen. Er ist zur Tat geschritten, er hat eingegriffen. Nur scheint es, als tat er das nicht aus Sorge um seine, um unsere Gesundheit, als er tat das, weil er annahm, wir würden gegen die Regeln verstoßen. Und dieser vermeintliche Regelverstoß versetzt ihn in eine exquisite Position, sie gibt ihm Kontrolle, verleiht ihm die Autorität, über unsere Anwesenheit verfügen zu können.

Für einige Zeit nehmen wir, er könnte einen Anruf tätigen, die Polizei und das Ordnungsamt würden bald ins Dorf einfahren und unsere Angaben überprüfen. Auch wenn nichts dergleichen geschieht, bleibt ein Unbehagen, eine Ahnung einer möglichen Fortschreibung, einer Zuspitzung.

Durch die Drehtage, durch die zwangsweise Offlinezeit habe ich seit Samstag wenig erfahren. Die vielen kleinen Informationen, die größeren Zusammenhänge und Entwicklungen sind mir entgangen. Ich bin herausgefallen aus der Gegenwart. Ein gutes Gefühl, weil es das Getriebene nimmt und einen Abstand schafft zu allem außerhalb der eigenen, unmittelbaren Wahrnehmung. Nun kann ich zwischen letzten Freitag und diesen Mittwoch vergleichen und werde nicht mehr ständig überholt von Ereignissen, die keine Zeit geben, zurückzutreten, kann aus der Entfernung auf das Nahe schauen und so andere Schlüsse daraus ziehen.

Im Drostcast die Rede von den Coronaübersichtskarten, von Johns Hopkins University und dem Robert-Koch-Institut. Die Institutionen erheben ihre Zahlen mit unterschiedlichen Methoden. In Amerika scannen sie Zeitungsberichte, was zu höheren Zahlen führt, die nachträglich korrigiert werden, oft nach unten. Das RKI nimmt die gemeldeten Fälle in die Statistik auf, so dass die Zahlen den anderen Zahlen um ein, zwei Tage hinterherhängen zu scheinen.

Beide Karten habe ich in meiner Lesezeichenliste gespeichert. Meist rufe ich nur die Karte der Johns Hopkins University auf. Ich habe nie darüber nachgedacht, warum das so ist. Jetzt ahne ich: Ich bevorzuge die höheren, die dramatischeren Zahlen.

Ansonsten: Das Bundesinnenministerium bittet in einem offiziellen Schreiben alle Seenotrettungsorganisationen, keine Menschen mehr aus dem Mittelmehr zu retten, da aufgrund der Pandemie kein Aufnahmehafen mehr gefunden werden könne. 68 AfD-Abgeordnete reisen aus ganz Deutschland nach Berlin, um in einer gemeinsamen Sitzung über den Parteikurs in der Coronakrise zu entscheiden; wer per Telefon teilnimmt, verwirkt sein Stimmrecht. Das Landgericht Duisburg will den Loveparade-Prozess aufgrund der Corona-Pandemie ohne Urteil einstellen, womit die letzten verbliebenen drei Angeklagten keine Strafen oder Auflagen erhalten könnten.

Österreich kündigt eine Lockerung der Einschränkungen nach Ostern an. Sylter Privatvermieter stellen gefälschte Arbeitsaufträge aus, damit Urlauber unter dem Deckmantel beruflicher Tätigkeit auf die Insel kommen können. Laut Polizei München ist das Lesen eines Buches auf einer Parkbank nicht erlaubt. Peter Hahne schreibt in einem Beitrag für die katholische Wochenzeitung: »In Deutschland haben Getränk: emärkte weiterhin geöffnet, doch die Gotteshäuser müssen geschlossen sein. Pervers!« Jugendliche sprühen an die Wand an einer Klinik in München: »Fuck RKI«. Zeit Online bietet in der Navigationsleiste nun drei Schwerpunkte an: Coronavirus, Donald Trump und Alles außer Corona.

https://twitter.com/nhannahjones/status/1247176506452905986

7. April | Schwere Luft. Dorfleben II

Zweiter Drehtag. Diesmal sind die Autobahnen voll, kein Platz mehr für Rehe. Auf dem Weg zum Dorf Halt für einen Einkauf von Schutzsachen in einem großen Markt. Eine doppelte Wagenwartereihe zieht sich einmal von der Kasse bis hin zu den Tiefkühltruhen am anderen Ende. Neben der Reihe bricht eine ältere Frau zusammen. Mitarbeiterinnen eilen herbei, bringen Kissen aus der Haushaltsabteilung mit, Wasser, kümmern sich, so lange, bis der Notarzt eintrifft. Die Wagen ziehen einen engen Kreis um die Frau, die atemgeschützen Gesichter dem Notfall zugewandt, ruhig und gelassen, als gehöre so etwas zum Einkauf nun dazu.

Im Dorf der gleiche unwirklich helle Sonnenschein wie zwei Tage zuvor. Wir sprechen mit einem Köhler. Er hat einen Meiler angeworfen. Schwerer Rauch zieht in den blauen Himmel. Der sei gut gegen Asthma, sagt der Köhler, früher hätten Lungenkranke mit dem Liegestuhl vor den Meilern stundenlang ausgeharrt, um zu gesunden. Der Coronavirus jedenfalls könne in dieser schweren Luft kaum existieren.

Wir sprechen mit einer Studentin. Vor drei Wochen ist sie zurück aus Dresden in ihr Heimatdorf gekommen, die Stadt zu groß für diese Tage. Sie studiert Medizin, das zweite Semester hat gerade begonnen. Sie hat sich – so wie viele ihrer Kommilitoninnen – in eine Liste eingetragen, mit der sie ihre Bereitschaft erklärt, in Krankenhäusern oder Heimen Hilfe zu leisten, wenn die Situation es erfordern sollte. 300 Studentinnen wurden schon einberufen, sie noch nicht. Sie sagt, nach einem Semester könne sie kaum von Nutzen sein und würde dennoch bei einem Anruf sofort zurück nach Dresden fahren. Ins Dorf käme sie dann erst einmal nicht mehr, um niemanden hier zu gefährden.

Am Nachmittag ein Interview mit der Familie in Quarantäne. Der Sicherheitsabstand doppelt und dreifach groß, die Gerätschaften entsprechend präpariert. Ein positiver Test, daraufhin die Quarantäne. Die anderen aus der Familie werden nicht getestet und werden auch nicht den offiziellen Zahlen zugerechnet. Zwei Wochen auf engem Raum, die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung sehr hoch. Für sie ist das Ausbleiben eines Tests nicht erklärbar. Die Ungewissheit, ob sie erkrankt sind, wie sollen sie sich verhalten, wenn es zurück auf die Arbeit geht? Familie, Leute aus dem Dorf haben Hilfe angeboten, angerufen, unterstützt.

Wir stehen jenseits der Grundstücksgrenze und halten Abstand. Wir schauen auf die Menschen, die uns gegenüberstehen. Der Verlauf ist milde, keine Symptome, keine Beschwerden. Ihnen ist die Krankheit nicht anzumerken, sie ist da und zugleich nicht. Doch müssen wir uns fernhalten, sie wie eine Gefahr wahrnehmen, ihr Grundstück, eine Area X, muss gemieden werden, ein temporärer Unort, sie selbst auch momentan Gemiedene.

Auf der Rückfahrt kommen wir an einem Spargelstand vorbei. Sechzehn Euro kostet das Kilo. Spargel fühlt sich falsch an, dekadent, den Umständen nicht angemessen. Von den eingeflogenen Erntehelferinnen zu wissen, die Schlagzeilen mit der scheinheiligen Sorge um die Spargelernte, so, als wolle man sagen: Erst wenn es im Frühjahr keinen Spargel mehr gibt, ist die Situation wirklich ernst, erst dann revoltiert es in Deutschland.

Ansonsten: Boris Johnson wird aufgrund seiner Covid19-Erkrankung auf die Intensivstation verlegt. Die Queen hält eine Ansprache und trägt dabei ein greenscreenfarbenes Kostüm, auf das anschließend Fußballspiele, Iron-Maiden-Shirts und ähnliches gekeyt werden. Es wird über die Verbreitung des Virus in der Luft diskutiert, die Augsburger Allgemeine fragt: Ist es jetzt gefährlich, einen Bart zu tragen? In Großbritannien werden Mobilfunkmasten wegen der Theorie, dass 5G zur Verbreitung des Virus beitragen würde, angezündet.

Die Stadt New York lässt Gefangene Massengräber ausheben. Aufgrund der Coronakrise will Spanien das geplante bedingungslose Grundeinkommen schneller einführen. In Panama segnet Erzbischof José Domingo Ulloa zum Palmsonntag mit Marienstatue und einer Monstranz aus dem Helikopter heraus. Der israelische Gesundheitsminister Yaakov Litzman, der die Corona-Pandemie für eine »Strafe Gottes wegen Homosexualität« hält, wird positiv auf Corona getestet.

6. April | Kurz nach den Rehen. Dorfleben

Halb neun fahren wir los. Die Autobahn ist nahezu leer. Nahezu leer bedeutet, dass uns in einem kilometerlangen Tunnel kein Fahrzeug entgegenkommt. Kurz vor Jena laufen Rehe auf die Autobahn, nicht übermäßig in Eile überqueren sie die Fahrbahn.

Beim Fahren tragen wir Atemschutzmasken, wir kommen aus verschiedenen Haushalten. Die Masken sind aus Stoff, genäht von Bekannten, die ein Modetheater betreiben, für das es auf absehbare Zeit keine Veranstaltungen geben wird. Ein kleiner, auf Höhe der Nase sitzender Metallbügel sorgt für besseren Halt. Dennoch ist das Bedürfnis groß, die Masken ständig zurechtziehen zu wollen, eine fatale Handlung, wäre der Virus an unseren Fingern. Beim Atmen beschlagen die Brillengläser. Wenn wir die Spiegelbilder unserer Gesichter in den Fensterscheiben sehen, kommen wir nicht umhin anzunehmen, wir wären unterwegs zu einem Raubüberfall, etwas eben, das jeder mit Maske auf dem Gesicht einmal denken muss.

Kurz nach den Rehen biegen wir ab, mehrmals die Kurven. Die Straßen werden kleiner, bis nur noch ein einziger Weg bleibt, er führt in ein Dorf, er führt nicht wieder heraus. Das Dorf liegt am Ende der Welt, gebettet in einem schmalen Tal, auf dessen Höhen sich Wald entlangzieht. Über den Wipfeln kreisen Raubvögel, im Dorf schlagen deshalb mehrere Hähne Alarm. An den Hängen springen Lämmer graszupfenden Schafsmüttern nach, Katzen schleppen Mäuse vom Feld, Hunde behalten Grundstücksgrenzen im Blick.

n den vielleicht dreißig Häusern wohnen nicht ganz hundert Menschen. Wir waren hier schon öfter, wir kennen nicht wenige von ihnen. Nun sollen wir mit Kamera dokumentieren, wie es ihnen gerade geht. Es ist das erste Mal seit drei Wochen, dass ich Weimar verlasse, dass ich zu einer anderen Handvoll Menschen von Angesicht zu Angesicht spreche, stehts im Sicherheitsabstand, wir haben gemessen, wie weit wir die Mikrofonangel ausziehen müssen, um zwei Meter zu garantieren.

Die Menschen, die Umgebung, der Wald, die Vögel, die Gerüche und Geräusche setzen mich erst einmal schachmatt. Ich nehme das Klopfen eines Spechts auf, das Plätschern eines Bachs, Vogelstimmen, Schwalben, Goldammern, Amseln, Gemurmel von Bauern, die auf den Hängen ihr Grün vertikutieren, Blöken, Bellen, Krähen, das Schnarren einer Motorsäge, das Krächzen eines Rasenmähers, Traktorratern. Es ist ein guter Fall ins Idyll, in eines dieser Bilderbücher, mit denen Kindern gesagt wird: Diese Welt ist eine der schönen.

Die erste Begegnung ist dann auch so, entnommen einem Bilderbuch für Erwachsene. Zwei Nachbarn stehen sich an ihren Zäunen gegenüber, der Weg dazwischen misst vorbildliche zwei Meter. Ansonsten treffen sich die Männer des Dorfes sonntags vor dem Mittagsbraten auf mehrere Biere in einem alten Haus, eine immens wichtige Zusammenkunft, die mehr als eine soziale Funktion erfüllt. Das ist seit mehreren Wochen nicht mehr möglich.

Nun hat einer der Nachbarn Bier mitgebracht. Er legt die Flasche in einen Sack, hängt den Sack an eine Latte, schwenkt die Latte über den Weg, so, dass der andere Nachbar sie erreichen kann. Der nimmt das Bier, entkorkt es, sie stoßen in die Luft und damit an, trinken, reden, social distancing über den Zaun hinweg.

Beide sagen, dass sie eigentlich nicht raus müssten. Die Vorräte reichen länger als zwei Wochen, kürzlich wurde erst eine Vierzentnersau geschlachtet, die Kühltruhen sind voll. Der Garten ist groß, auf dem kleinen Acker wird gesät, aus dem Forst bei Bedarf Holz geholt. Einer von den Nachbarn arbeitet außerhalb Thüringens auf dem Bau, er sagt, dort gelte auch der Mindestabstand, der sei auf einer Baustelle aber niemals einzuhalten. Unter den Kollegen sind viele Arbeiter aus Rumänen, die kehren nicht zurück in die Heimat, sie bleiben auf dem Bau, weil sie Angst haben, später nicht mehr einreisen, damit ihre Arbeit verlieren zu können.

Im Dorf mussten sie einen Teil des Faschings und eine Dorfversammlung absagen. Neben dem Biertreff ist das Gemeindehaus, auch so ein Zusammenkunftsort, geschlossen. Selbst wenn auf der einzigen Straße des Dorfes ansonsten auch nicht viel los ist, scheint es heute noch ruhiger als sonst. Erst im Laufe des Tages fallen mehrere Autos mit Kennzeichen aus Erfurt, Jena, Weimar auf. Das sind die Städter, sagen die im Dorf, denen falle die Decke auf dem Kopf. Alle hier sagen, dass sich für sie eigentlich wenig geändert habe und alle sagen, dass es ihnen ganz gut gehe und alle erwähnen einmal oder mehrmals jene in den Städten, die in den Zweizimmerwohnungen, die ohne Garten am Haus oder Wald vor der Tür, vielleicht mit Kindern, ohne Häme die Gedanken.

Handyempfang gibt es im Dorf nicht. Kommuniziert wird jetzt über Mails, oder, noch viel öfter, über WhatsApp-Gruppen. Es gibt Gruppen für den Fasching, den Heimatverein, die Frauen haben eigene Gruppen, manche der Männer auch. So fließen die Informationen. Eine hat alle schnell erreicht: In einem Haus gab es einen Verdachtsfall, der sich bald darauf als tatsächliche Infektion herausstellte. Selbst hier, in diesem Tal, mit nur einer Zufahrtsstraße, ist die Welt angekommen. Das Haus steht unter Quarantäne. Im Dorf wurde daraufhin getestet, gerade bei den Kindern, die miteinanderspielten. Es blieb bei diesem einen Fall. Jeder hier weiß davon, jeder sagt, dass er helfen würde, Lebensmittel bringen, zum Arzt fahren, aber jeder hier hat Familie, die für ihn sorgt.

Wir hören, dass es in einem der Nachbarorte einen Fall gab, der unwissentlich ansteckte, das geschah in den Anfangstagen. Es kam zu Anfeindungen, zu Beschuldigungen, »der wurde richtiggehend fertiggemacht«, heißt es. Hier, sagen sie, wäre das nicht möglich, hier steht man zusammen, wenn es darauf ankommt, so war es auch bei der Überschwemmung vor einigen Jahren, als der kleine Dorfbach über Nacht anschwoll und einige Häuser unter Wasser setzte.

Wir sprechen mit einigen aus dem Dorf. Den meisten ist es fast unangenehm zu sagen, dass sich für sie so wenig geändert hat. Weiterhin Gärtnerarbeit, im Wald nach dem Rechten sehen, Spaziergang zum Sommerberg, am Haus bauen, Streichen, Nageln, Wäscheaufhängen. Urlaube, Kreuzfahrten mussten abgesagt werden, es sind Kleinigkeiten. Die Sorgen sind andere: abends im Weltspiegel sehen, was in Italien, in Spanien passiert. »Die Coronanachrichten schauen« nennen sie das.

Niemand verdient sein Geld im Dorf, alle arbeiten außerhalb oder erhalten ihre Aufträge von dort. Einige befürchten, ahnen, wissen schon, dass die wirtschaftlichen Folgen sie betreffen werden, es könnte existentiell sein. Jemand sagt, dass jede Generation einen Krieg erlebe, das sei eben unser Krieg, korrigiert sich gleich darauf, nein, Krieg könne man das nicht nennen, aber wie dann? Ein anderer kommt aus dem Wald zurück und ruft über den Gartenzaun, dass Corona eine Sache sei, die vielleicht ein, zwei Jahre dauern werde, aber die Trockenheit, die werde uns viel länger beschäftigen.

Im Dorf sagen sie, dass sie hier einen kleinen Himmel haben. Am Abend verschwindet die Sonne schnell hinter den Hängen. Rauch steigt aus Schornsteinen, im Teich neben dem abgesperrten Spielplatz quakt ein Frosch, auf einem Dach hämmert eine Goldammer gegen ihr Spiegelbild. Und dann meint einer, dass doch etwas wirklich anders sei jetzt im Dorfbild: Die Kinder sind nicht mehr auf der Straße. Deshalb ist es so still. Die Kinder, sie spielen jetzt für sich.

4. April | offline

Kommentarlos fällt heute der Internetzugang aus und wird voraussichtlich auch die nächsten Tage schweigen. Dadurch wird es noch einmal ruhiger und bringt mich dazu, darüber nachzugrübeln, auf was ich denn am Ehesten, auf was ich zuletzt verzichten könnte: Strom, Wasser, Abwasser, Heizung, Internet, Essen, Haus, Menschen? Die Logik ordnet vor – ohne Strom kein Internet, ohne Essen und Wasser kein ich. Aber so eindeutig ist es dann doch nicht und das bringt mich dazu, an den Text zu denken, welchen ich las, als online noch die Normalität war.

Der Text beschimpfte die gutsituierte Mittelschicht, die im Home Office sitzt und bei selbstgebackenen Brot klagt, wie schwer doch so ein Lockdown wäre. Dem stimme ich zu, weil ich das öfter denke, mindestens drei Mal am Tag denke ich, was für eine Ausnahmesituation das doch ist, in der man über Strom, Wasser, Abwasser, Heizung, Internet, Essen verfügt und nicht fürchten muss, dass einem das Haus weggebombt wird und dass mit diesem Wissen jede Klage über die Einschränkungen eine zu viel ist.

Und zugleich ist diese Klage notwendig, wenn sie so empfunden wird, weil jeder Zustand von jedem anders empfunden wird und kein Zustand identisch mit dem anderen ist und Faktoren eine Rolle spielen, die von außen nicht einsehbar sind. Ich z.B. kann dankbar sein und mich glücklich schätzen, diese Pandemie in einer solchen Sicherheit verbringen zu können, besser wahrscheinlich, als die sehr große Mehrheit, selbst in meiner Hausgemeinschaft befinde ich mich in einer privilegierten Situation.

Und dennoch kann mir, was geschieht, auf den Magen schlagen, kann ich mich gereizt fühlen, kann ich resignieren und mich maßlos über- oder unterfordert fühlen. Zustände können nebeneinander existieren, sie widersprechen sich nicht. Texte wie der obengenannte stellen das in Abrede, sie suchen Streit, sie schwärzen an, sie stellen sich so an, weil sie unbedingt eine Meinung haben wollen und das ist nicht unbedingt das, was gerade gebraucht wird, dieses Ausspielen gegeneinander, das machen schon die Länder, die die sich gegenseitig die Atemschutzmasken wegkaufen.

Ansonsten: fällt diesmal offlinebedingt aus. Schreiben kann ich aber, dass ich morgen unterwegs sein werde. Die Ausschreibung, von der ich vor drei Wochen schrieb und in der ein Fernsehsender um Ideen für einen dokumentarischen Beitrag zum Thema C19 bat, war erfolgreich. Der Sender hat Y.s Konzept angenommen, weshalb wir morgen nach Meusebach, ein Dorf mit neunzig Einwohnern fahren, um zu erfahren, wie die Pandemie das Dorfleben verändert hat.

3. April | lyrisches Ich

Der erste Tag seit Wochen, an dem mich nicht viel mehr interessiert als das Buch, welches ich lese (4 Uhr kommt der Hund), Oliven symmetrisch zu schneiden und drei Mal »Dieses Jahr« auf der Gitarre zu spielen, sagt mein lyrisches Ich.

Anderen scheint es ähnlich zu gehen. Der erste Tag seit Wochen, an dem in der Filterblase wie bc diskutiert wird; Anlass ist ein »Gedicht« des Rammsteinsängers. Nach fünf Minuten hat jemand schon jeden Standpunkt in eine aktualisierte Fassung von avenidas überführt. Es ist beruhigend, den Hashtag #Lindemann zu sehen, ein Form von Normalität wie der Hashtag #Nuhr oder #Naidoo, es ist Luxus.

Dem lyrischen Ich fällt die Diskrepanz auf zwischen den Videos, in denen Ärzte zeigen, wie man Masken, Handschuhe und Schutzkittel korrekt und virensicher anzieht und dem Bratwurststand, der wie jeden Freitag vor dem Supermarkt Gegrilltes verkauft. Bratwurst ist in Thüringen systemrelevant.

Die Anfrage kommt, für eine Anthologie, die mit Geldern für geplante und nun ausfallende Lesungen finanziert werden soll, eine Kindergeschichte zu schreiben, das Thema im weitesten Sinn diese Zeit. AC soll es mit dem Buch Lesungen geben. Einen Titel habe ich schon, nun muss die Geschichte noch folgen.

Meine Schwester schreibt eine Postkarte. Sie schreibt, sie hofft, dass es mir gut geht. Und dass die Welt anders geworden sei. Die Menschen seien jetzt aufmerksamer miteinander.

Ansonsten: Um drohende Ernteausfälle zu verhindern, sollen jeweils 40.000 Saisonarbeiter aus Osteuropa nach Deutschland einreisen dürfen. Eine Studie bestätigt, dass einfache medizinische Gesichtsmasken die Abgabe von Coronavirus und Influenzavirus durch den infizierten Maskenträger reduzieren. Wichtiger Nachsatz: Stoffmasken kann man zur Reinigung auch bügeln. Wuhan beendet den Shutdown. Die Kanzlerin verlässt die Quarantäne.

Die USA konfiszieren 200.000 für die Berliner Polizei bestimmte Schutzmasken; ein »Akt moderner Piraterie«, sagt Berlins Innensenator. In Israel riegelt die Polizei Siedlungen der Ultraorthodoxen, da diese sich aus religiösen Gründen den verhängten Maßnahmen verweigern. »Welchem Virologen vertrauen Sie am meisten?» fragte BILD seine Leser in einer Abstimmung, Christian Drosten gewinnt mit 37 Prozent. Im Onlinespiel Fallout76 wird die Pandemie nachgespielt und Toilettenpapierrollen werden wie Schätze in Vitrinen präsentiert. Jemand sucht den ersten Satz des besten Romans, der über die Pandemie geschrieben werden wird:

  • »”It is a wondrous and joyous thing, this voyage that lies ahead for us,” Fred said to his wife as they boarded the Diamond Princess for the dream vacation that cost him most of his 401K.«
  • »It was the worst of times, it was the worst of presidents.«
  • »No one expected the hero of a global pandemic to be a gay polygamist with a mullet who owned a private big cat zoo, but he was exactly the hero the world needed.«

2. April | the most vulnerable

Jemand schreibt: »Es ist jetzt Tag-X in der Coronawelt und es ist so unfassbar nervig und für den Kopf absolut kontraproduktiv die ganze Zeit sämtliche Virologen und Co. immer wieder im TV sehen und hören zu müssen nebst Möchtegerns…Ich habe das Gefühl, dass alles gesagt ist und auch die dümmsten Menschen auf der Erde die Ernsthaftigkeit des Virus erkannt haben.«

Dem möchte ich zustimmen, dem möchte ich widersprechen. Widersprechen, weil zwar schon alles gesagt ist, aber nur das, was bis heute bekannt ist. Und sich damit auch der Blick auf die Pandemie verschiebt. Nicht jeden Tag, vielleicht nicht einmal jede Woche, doch es ändert sich die Bewertung der Situation, eine neue Perspektive wird getestet und setzt sich schließlich durch, so lange, bis die nächste Neubeurteilung erfolgt.

Heute wird ein Video geteilt, welches Flatten-The-Curve für überholt erklärt, das besagt, man müsse zurück zur fast vollständigen Eindämmung, dann ein Lockern vieler Maßnahmen und anschließend ein konsequentes Überwachen und Verfolgen von Infizierten und deren Kontaktpersonen, Titel: Corona geht gerade erst los.

Eine andere Erzählung ist die von der konsequenten Isolation der Risikogruppen beim gleichzeitigen Freigeben der Maßnahmen für alle anderen. Es ist nicht auszuschließen, dass einer der beiden Wege zukünftig begangen wird. Besonders die zweite Möglichkeit erscheint verlockend, weil sie für die Mehrzahl die Rückkehr zur Normalität bedeuten würde. Es ist klar, was das für die, die nicht zur Mehrzahl gehören, bedeuten würde, es wäre ihre Last.

Ich müsste lügen, würde ich schreiben, dass ich nicht gern zur Mehrheit gehören möchte. Ich würde gern die Kindergärten offen sehen und Lesungen bestreiten können, ich würde gern Freunde treffen, es müssen keine Großveranstaltungen sein, keine Konzerte in engen Räumen, es müssen nicht einmal Grillabende mit zwanzig Personen sein. Es würde gegen die Gereiztheit helfen, die sich heute so penetrant über alle Handlungen legt, ich möchte es glauben, ich streiche durch, was ich schreibe.

https://twitter.com/DeAnna4Congress/status/1244342772783394822

Unter #FilmYourHospital filmen Menschen eine Notaufnahme in ihrer Nähe, um zu beweisen, dass, wenn sie nicht überfüllt ist, Covid19 nur erfunden ist. Viele Videos sind aus dem Inneren eines Autos gefilmt, der User fährt langsam am Krankenhaus vorbei und sagt im Off etwas wie: »Don`t see anyone.« Es ist ein Versuch, die Zahlen und Kurven in Einklang zu bringen mit der eigenen Realität, die keine Krankheit kennt, aber alle sonstigen Einschränkungen. Dieses Hinauswagen in die Wirklichkeit ist bemerkenswert naiv, der hilflose, obszöne Versuch, eine vermeintliche Wahrheit zu entdecken, um so dem Schrecklichen zu entkommen. Es ist gefährlich und wird sich verstärken und Bilder liefern für jene, die nach solchen Bildern suchen.

  • TheGipper2000: »The Elmhurst Hospital in New York is a ghost town. I thought this was supposed to be a war zone? The media is full of shit.«
  • Stewie Mac: »That’s the greatest bit of detective work I’ve ever seen! Film the outside of the hospital, not what’s happening in the intensive care ward! Brilliant!«

Gestern war ich in der Buchhandlung, um die bestellten Romane, Erzählbande, Bilderbücher zu holen. Im Gespräch sagen die beiden, dass sie ohne Pause von morgens bis abends durcharbeiten. Eine nimmt die Bestellungen an, eine ordnet sie zu. Viele Kisten kommen so zusammen, die mit Fahrrad ausgeliefert werden, oft zu viele Kisten, um sie an einem Tag auszufahren. Der Grund ist ein Fernsehbeitrag, der über die Buchhandlung und die Auslieferung berichtete, ist vielleicht Ostern, ist vielleicht die Weigerung amazons, Bücher zu verschicken, ist vielleicht Solidarität. Die meisten freuen sich, schreiben nette Bemerkungen (Bleibt gesund! Haltet durch!) in die Betreffzeilen der Überweisungen. Wenige beschweren sich, wenn die Bücher nicht am Tag nach der Bestellung schon vor der Haustür sind.

Ansonsten: 6,6 Millionen Amerikaner melden sich arbeitslos, doppelt so viel wie in der Vorwoche. Aldi holt Pasta mit Sonderzügen aus Italien. Belgien beendet die Fußballsaison und erklärt FC Brügge vorzeitig zum Meister. Angeblich sollen die USA für Frankreich bestimmte Atemschutzmasken in China weggekauft haben; »sagte dem Fernsehsender BFMTV, dass für Frankreich bestimmte Maskenlieferungen von einem anderen Land auf dem Rollfeld chinesischer Flughäfen aufgekauft worden seien.«

Auf der Webseite der Johns-Hopkins-University wird die Zahl der Infizierten mit über einer Millionen angegeben, die Zahl der Toten in Deutschland mit über tausend, die Zahl deutscher Infizierter übersteigt die chinesischer Infizierter. Der amerikanische Musiker Adam Schlesinger von Fountains Of Wayne stirbt an Covid19.

1. April | 20. April

Es braucht ein Ziel und das Ziel muss konkret sein und konkret ist Sonntag, der 19. April, bis zu dem alle Pandemiemaßnahmen weiterlaufen werden. Dem 19. April folgt der 20. April und eine Schlussfolgerung, vielleicht Hoffnung, könnte sein, dass sich dieser 20. April von den Tagen davor unterscheiden wird, er der Beginn einer Rückkehr in die Normalität bedeuten könnte. Doch muss jeder ahnen, dass diese Annahme nicht aufgehen wird, dass die aktuelle Normalität über den 20. April hinaus andauern wird.

Die Frage ist, unter welchen Bedingungen sich welche Maßnahmen ändern werden. Öffnung von Geschäften bei gleichzeitig verbindlicher Mundschutzpflicht? Aufheben von Ausgangssperren bei größeren Testmengen mit rigoroser Quarantäne für alle Kontaktpersonen eines Infizierten? Rücknahme der Kurzarbeit bei Umstellung der Produktion auf medizinische Güter?

Einiges wird länger als April bleiben: die Plexiglasscheiben in den Supermärkten, die desinfizierten Einkaufswagen, der Gesprächsabstand von 1.5 Meter, die ausgedünnten Nah- und Fernverkehrsfahrten. Hinzukommen wird die Atemschutzmaske als Normalfall. Im Februar schrieb ich noch über die Bebilderung der Pandemie anhand von Fotos mit atemschutzmaskentragenden Menschen. Es war kritisch gemeint.

Vielleicht habe ich mich geirrt. Vielleicht ist das Bild von Menschen, die Atemschutzmasken wie selbstverständlich im beschränkten öffentlichen Leben tragen, das Bild, um zu verstehen, was geschieht. Mit nur einer Ergänzung: Die Schutzmasken hier haben keine bleichgrüne Krankenhausfarbe, sondern sind mit Ornamenten und Mustern gestaltet, ein Festhalten am Individualismus in der Gleichmacherei der Pandemie. So wie eine Zeit lang Je Suis Paris den Profilbildern diverser sozialer Medien beigefügt war, sind es nun die mit bunten Masken geschützten Gesichter.

Freunde und Bekannte berichten unterschiedliches vom Homeschooling. Lehrer, die vor zwei Wochen ein paar Arbeitsblätter verschickten und seither abtauchten. Oder: jeden Tag Arbeitsblätter für sechs Fächer und die Pflicht für Kinder und Eltern, dieses Pensum zu schaffen. Beides ist weit von einem Idealzustand entfernt. Sollte die Schließung von Schulen und Kindergärten länger anhalten, womöglich bis zu den Sommerferien, wird es dafür andere Wege brauchen.

Im Drostcast von Montag spricht Dr. Drosten über seine Rolle in den Medien. »Es gibt Zeitungen, die malen inzwischen nicht nur in den Wörtern, sondern in Bildern, Karikaturen von Virologen. Ich sehe mich selber als Comicfigur gezeichnet und mir wird schlecht dabei. Ich bin wirklich wütend darüber, wie hier Personen für ein Bild missbraucht werden, das Medien zeichnen wollen, um zu kontrastieren. Das muss wirklich aufhören.«

Und: »Genau diese Überzeichnung, dieses immer noch provozieren wollen von einem Konflikt, der so gar nicht existiert, das zeigt doch, dass es uns gesellschaftlich immer noch ziemlich gut geht. Dass unsere Medien immer noch eigentlich ein Niveau nehmen, auf das sie was obendrauf setzen wollen von Unzufriedenheit, gesellschaftlicher Unzufriedenheit.«

Das ist Luhmann: Verschiedene Systeme – Wissenschaft, Politik, Medien – treffen aufeinander. Jedes System hat seine eigenen stabilisieren Faktoren. Reibung entsteht, wenn diese Systeme in Kontakt geraten; wenn Wissenschaftler Politiker beraten. Politik wissenschaftliche Erkenntnisse zur Entscheidungsgrundlage nehmen muss. Wenn Medien Politik und Wissenschaft betrachten.

Drosten: »Es gibt kein Erfolgsmaß in der Wissenschaft, in Form von Podcasts oder Twitterfollowern. Im Gegenteil, für einen Wissenschaftler ist es gefährlich. Es kann wirklich karriereschädigend sein, sich zu sehr in die Öffentlichkeit zu begeben. Denn in der Öffentlichkeit muss man simplifizieren und muss Dinge vereinfachen. Das steht einem Wissenschaftler eigentlich nicht gut.«

Ansonsten: Der amerikanische Präsident erhöht die Zahlen und spricht von zweihunderttausend zu erwarteten Toten. Der große Kinohit vor Schließung der Kinos – Die Känguru Chroniken – gibt es nun für 17€ zum Streamen, ein Teil der Einnahmen soll den Kinos zugutekommen. Adidas erklärt sich doch bereit, die Mieten der geschlossenen Läden zu zahlen. Ein Unternehmer bietet für mehrere tausend Dollar im Monat einen garantiert virenfreien Platz in einer Luxusvilla nahe Los Angeles an; »Guests will be screened for Covid-19 before being admitted so that they can freely participate in open mics, fireside chats, daily yoga and parties without worry of infection.«

Für Anspucken und Anhusten werden Gefängnisstrafen verhängt. Prinz Charles gilt als genesen. Wimbledon wird abgesagt. Die Stadt Erfurt kündigt an, die Namen Carola oder Corina zu verbieten; das Standesamt untersage demnach ab sofort jungen Eltern, ihren Töchtern diese Vornamen zu geben – wegen der lautmalerischen Nähe zum Coronavirus. Ein Aprilscherz.

31. März | Der längste März von allen

Ich kaufe »Der Spiegel«. Am oberen Rand fast jeder Seite, dort, wo sonst das Ressort vermerkt ist, steht in einem roten Kästchen mit roter Schrift: Coronakrise. Bis auf vier Ausnahmen handeln alle Artikel aller Ressorts von der Pandemie, ein monothematisches Wochenmagazin. Die Ausnahmen sind: Woody Allen, Cum-Ex, der AfD-Flügel und der geheime Dienstkalender Heinrich Himmlers.

Ansonsten: In Nevada werden auf einem Parkplatz sogenannte Social-Distancing Boxes gemalt, in denen Obdachlose in dem vorgeschriebenen Sicherheitsabstand zueinander schlafen können. Jena führt eine Mundschutzmaskenpflicht ein. In Sachsen droht ein Bußgeld in Höhe von 150€ beim Verlassen der Wohnung ohne triftigen Grund. Das Bundesgesundheitsministerium bittet darum, morgen auf Aprilscherze zu verzichten, weil Falschmeldungen zur Verunsicherung beitragen können. Die Bayreuther Festspiele 2020 werden abgesagt.

Heute geht der zweite Coronamonat vorbei, der längste März von allen. Die Tage verklumpen, die Welt schrumpft, es ist gut, schreiben zu können.

30. März | Abkürzung der Realität

Ein Bekannter, der ansonsten kaum aktiv auf FB ist, postet innerhalb weniger Minuten mehrere Links zu Texten und Videos, die alle eins zum Inhalt haben: Covid19 sei nicht gefährlicher als die übliche Grippewelle. »Die Angst vor dem Coronavirus ist weit überzogen.« & » Momentan sehe ich in der Öffentlichkeit eine große, weitgehend unkritische Einigkeit: Mach, was Mutti sagt.« & » Uns wird suggeriert, dass Opa tot umfällt, wenn wir nur die Haustür aufmachen, “Stay at home”, das neue Mantra, dem alle zu folgen haben« etc.

Es ist nicht viel, was ich dabei fühle, aber zumindest Irritation. Irritation darüber, dass diese Bewertung der Pandemie immer noch existiert, dass die vergangenen Wochen, die Bilder, Texte, Videos, Augenzeugenberichte tatsächlich ignoriert werden können, dass der Glaube besteht, es gäbe eine Wahrheit, die im Gegensatz zur Realität stehen könnte und diese »Wahrheit« zwingend vermittelt werden müsste.

Auch von anderen Seiten Fragen, wie man mit Freunden, Bekannten, Arbeitskolleginnen, Familienmitgliedern umgeht, die Wodrag-Videos teilen, die von zionistischen Entwicklern, Biowaffen, US-amerikanischen Militärlabors schreiben, davon, dass das Virus aus kommerziellen Gründen für angeblich patentierte Impfstoffe in Umlauf gebracht worden sei. Die schreiben: Der wahre Grund der Erkrankungen sei nicht etwa ein Virus, sondern 5G-Strahlung! Die, für die der Hashtag Coronavirustruth Berufung îst.

Verschwörungstheorien sind wie Abkürzungen für jene, denen die Realität zu mühsam ist. Vielleicht kann ich auch das Bedürfnis nachvollziehen, glauben zu wollen, es gäbe einen Plan hinter der Pandemie, weil die Pandemie alle gemachten Pläne egalisiert. Weil es so schlimm ist, glauben zu wollen, es wäre nicht so schlimm. Besonders schwer zu ertragen muss der Zustand für alle sein, die stets anti sind und die sich jetzt mit einer Realität konfrontiert sehen, in der anti keinen Platz mehr hat.

Und ist es nicht immer einfach, das zu erklären, die manchmal gar nicht so leicht zu erkennenden Trennlinien zu finden zwischen dem, was notwendig ist, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und dem, was die Gesellschaft auf andere Weise gefährdet. Die Unterschiede zwischen StayAtHome und einer möglichen Willkür der Polizei bei all den Beschränkungen, dem Mundschutzzwang und dem dauerhaften Tracken von Handydaten, einer Schließung von Geschäften und dem Erlassen von Gesetzen, die es einem Regierungschef ermöglichen, auf unbegrenzte Zeit und ohne parlamentarische Kontrolle mit Verordnungen zu regieren.

Ansonsten: Ungarn beschließt ein »Notgesetz«, dass dem Präsidenten nahezu uneingeschränkte Macht einräumt und Kritiker dauerhaft in Gefängnis bringen kann, natürlich die Blaupause einer Diktatur, in einem Staat der EU. Twitter löscht zwei Tweets des brasilianischen Präsidenten, weil sie die Gefahren durch die Pandemie leugnen.

Der amerikanische Präsident spricht von zwei Millionen möglichen Toten, hunderttausend wären ein Erfolg, es ist die einzige Exit-Strategie, die er hat. In einem Tweet lobt er sich, da seine täglichen Pressekonferenzen höhere Einschaltquoten als der Bachelor haben. In New York läuft ein Sanitärschiff des Militärs ein, der Bürgermeister sagt, dass es eigentlich 40 Schiffe dieser Größe bedürfe. Im Central Park werden Krankenhauszelte errichtet. Überraschend werden fünftausend Atemmasken in der Krypta der Washington National Cathedral gefunden.

Österreich verhängt eine Mundschutzpflicht für den Einkauf im Supermarkt. Eine im April in China startende Rakete wird auf der Außenhülle ein Bild tragen, das das medizinische Personal in Wuhan im Kampf gegen den Virus zeigt. Ab 1. April erhebt DHL einen Krisenzuschlag von 16€ pro Paket in die USA. Ein australischer Astrophysiker wird ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem Magnete in seiner Nase steckenblieben, als er versuchte, ein Gerät zu erfinden, das Menschen davon abhält, ihre Gesichter zu berühren.

Artikel spielen Geisteswissenschaften gegen Naturwissenschaften aus. Der Verein Deutsche Sprache e. V. schreibt: »In Deutschland werden Milliardenbeträge für den Genderunfug ausgegeben. Diese Gelder fehlen Krankenhäusern oder den naturwissenschaftlichen Uni-Fakultäten – zum Beispiel in der Virusforschung«. Armin Laschet setzt den Mundschutz falsch auf und korrigiert sich kurz darauf auf Twitter. Der Formel1-Rennstall Red Bull dachte darüber nach, Fahrer absichtlich zu infizieren. »Das ist nur im kleinen Kreis besprochen und nicht positiv aufgenommen worden«, sagte Red-Bull-Motorsportberater Helmut Marko. Unter Arbeitstitel Bachmannpreis digital soll eine Arbeitsgruppe in den nächsten Tagen ein Konzept eines »digitalen Bachmannpreises« ausarbeiten.

29. März | GLG

Heute ein erster, wirklicher Lagerkoller, ein Tief, dem Regen geschuldet, dem Ende der zweiten Woche erst, der Ahnung, dass viele folgen werden. Ich will wenig schreiben, wenig erfahren, von dem, was geschieht. Ich lese: »It’s a trauma response. Because you can’t fight the virus actively, and because you can’t run away from it, your body is going into “play dead” mode.«

Lese auch: »Falls ihr euch stresst, weil zB Homeoffice einfach nicht laufen will: Wir haben eine globale Pandemie. Beschränkung von Grundrechten. Wirtschaftsschmelze. All das vor dem Hintergrund der Klimakrise.«

Gegen Mittag wird der Tod des hessischen Finanzministers, des designierten hessischen Ministerpräsidenten, vermeldet. Im Abschiedsbrief soll die Rede sein von »Aussichtslosigkeit«, »bezogen auf die wirtschaftliche Lage des Landes« sehe, mit dem Vermerk: »Ob dies allerdings mit konkreten Ängsten in Bezug auf den Coronavirus zusammenhänge oder eher allgemeiner Art gewesen sei, das sei auch für die Ermittlungsbehörden derzeit nicht ersichtlich.« Fast augenblicklich drängt sich der Gedanke an den Werther-Effekt auf und ebenso augenblicklich fühlt es sich schäbig an, diese Verbindung gezogen zu haben.

In nahezu jeder Mail, die eintrifft, am Ende fast jeden Telefonats, anstatt Tschüss oder Bis bald steht nun, wird nun gesagt: Bleib gesund. Es ist das Mit freundlichen Grüßen, das Liebe Grüße, das GLG dieser Monate.

Ansonsten: In Indien ist eine Ausgangssperre für 1,3 Menschen verhängt. In Süditalien soll der Geheimdienst vor sozialen Unruhen warnen. Mobilfunkanbieter stellen kostenlos vergrößerte Datenpakete zur Verfügung. In der #BundesligaHomeChallenge duellieren sich Profifußballer auf der Konsole. In Aachen klagt ein Mann gegen die erlassenen Kontaktverbote. In der Weimarer Humboldstraße werden Briefe in die Briefkästen eingeworfen, die besagen, dass die Hausbewohner zwei Wochen in Quarantäne bleiben sollen.

28. März | Traurige Rekorde

Ich muss an ein Interview denken, dass ich Ende Januar mit der Besitzerin eines Trainingszentrums für Frauen und Mädchen geführt habe. Sie lehrt Selbstschutz und hat sich damit Anfang des Jahres selbstständig gemacht, eine Entscheidung, die lange überlegt und abgewogen war. Sie ist auf die Anwesenheit anderer angewiesen. Im Gespräch hatte sie so zuversichtlich und hoffnungsvoll von ihrer neuen Zukunft gesprochen. Nach nicht einmal drei Monaten muss sie die Stunden und Kurse einstellen, unklar, wann sie diese wieder aufnehmen kann.

Ich habe Bücher bestellt, einen Packen. Johannes, der Besitzer der Eckermann-Buchhandlung in Weimar, wird sie ausliefern. Mit dem Fahrrad fährt er zu den Häusern und bringt die georderten Bücher vorbei. Der Laden ist geschlossen, drinnen sitzen Katja und andere, nehmen die Bestellungen per Telefon an, auf den Tischen die Bücherstapel, die bald weggebracht werden.

Amazon hat Bücher als nicht essentiell eingestuft, sie werden momentan nicht oder verzögert ausgeliefert. Da Amazon eine solche Marktmacht innehat, ist das für Verlage eine Katastrophe. Jeder Buchladen hat geschlossen, viele versuchen, wie in Weimar zu handeln.

Freundinnen und Freunde haben Bücher geschrieben, es sind Debüts darunter. Alle sollten auf der Buchmesse in Leipzig präsentiert werden, anschließend sollten Lesungen folgen, Interviews, ein Rumreisen mit den Geschichten, an denen sie jahrelang arbeiteten. Das Fenster ist kurz, im Herbst in Frankfurt beginnt die nächste Saison, ein halbes Jahr bleibt für Aufmerksamkeit. Von diesem halben Jahr fehlen nun mindestens zwei Monate, die entscheidenden, weil hier die Flughöhe der Bücher bestimmt wird. Ob diese nachzuholen sind, ist unklar, jedes Buch wird nur einmal geschrieben, es hängen Jahre daran, an Wense, der Silbermeer-Saga, an 4 Uhr kommt der Hund, an final image.

Diese Zeit ist auch eine Krise der Literatur, wirtschaftlich, inhaltlich. Gefühlt schreiben eine Hälfte der Autorinnen etwas zu Corona und die andere Hälfte belustigt sich an dem Gedanken, dass andere etwas darüber schreiben könnten. Dabei ist es doch das, was getan werden kann: festzuhalten, was ist.

In nahezu allen Gesprächen über die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie fällt der Satz: Das habe ich unterschätzt. Unterschätzt, wie schnell und drastisch ein Lockdown so vieles zum Stillstand bringt, ins Schlingern, zum Untergang. Rücklagen sind in Tagen aufgebraucht, Reserven kaum vorhanden, was alle ahnten, aber ignorierten, weil sonst ein Weitermachen nicht möglich gewesen wäre. Optimierte Abläufe lassen keinen Raum für Unerwartetes zu, Effizienz ist möglich, die Kosten werden jetzt beglichen. Es ist vollkommen ausgeschlossen sich zu vorstellen, was eine Absage aller (kulturellen) Veranstaltungen für die nächsten zwei / sechs /zehn Monate bedeuten würde, so lange, wie es aus Sicht der bestmöglichen Ausbreitungsverhinderung des Virus bedeuten würde.

Es ergeben sich unerwartete Zusammenhänge, Kreisläufe und Verschränkungen. Die Menschen sind zu Hause, produzieren so mehr Hausmüll. Die Müllabfuhr – auch krankheitsbedingt geschwächt – muss ihre Aufgaben beschränken und kann kein Altpapier mehr holen. Recylingfirmen brauchen Altpapier, um u.a. Firmen, die Toilettenpapier herstellen, zu beliefern. So könnte Toilettenpapier tatsächlich zu einem knappen Gut werden. Viele solcher Verknüpfungen ergeben sich so. Eine banale Erkenntnis, dass alles mit allem zusammenhängt, das Konkrete erstaunt.

Auch Gespräche über Mieten, Diskussionen über Mieterstreiks, über Adidas, H&M, große Ketten, die keine Ladenmiete mehr zahlen. Die einen sind auf Seiten der Vermieter, sagen, dass denen durch das Einfrieren der Mietschulden Handlungsmöglichkeiten genommen werden. Andere sind bei den Mietern, deren Einnahmen wegbrechen, während der größte Ausgabenposten von allen unbeirrt weiterläuft.

Ich lese Texte. Nach einer Weile stelle ich fest: Es sind keine Worte, die ich lese, keine Geschichten über Menschen. Es sind Zahlen, die ich wahrnehme, die meisten nicht einmal mehr genau, sondern gerundet. 5700, 832, 1500, 700, 50000, 10000, 120000. Es sind Nummern, Höhepunkte, sogenannte »traurige Rekorde«.

Das Lesen der Wirklichkeit in Zahlen und nicht in Worten ist ein schlimmes Gewöhnen, an Akzeptieren der Normalität und damit ein Resignieren. Ich muss niemanden mehr sagen: Unglaublich, dass diese Zeit eingetreten ist, das hätte man vor einem Monat nicht gedacht, oder?

Was ist, ist da, das ist jetzt, das passiert. Alles, was gerade geschieht, folgt dieser Logik und diese Logik ist auf furchtbar einleuchtende Weise nachvollziehbar. Kein Ausnahmezustand, die Zahlen bilden ab, was ist. Es sind erschreckende Gedanken und ich hoffe, dass mir zumindest in der Reflektion des Lesens noch lange das Wort »erschreckend« in den Sinn kommen wird.

Ansonsten: Von verschiedenen Betroffenen wird das Klatschen für Ärztinnen / Kassiererinnen / Pflegerinnen kritisiert, Euren Applaus könnt ihr euch sonstwohin stecken. Anstatt Applaus wird eine konkrete Verbesserung der Arbeitssituation gefordert, auch, gerade nach der Pandemie. Wegen des gestiegenen Datenaufkommens beschneidet Microsoft Funktionen seiner 365-Onlinedienste. Der amerikanische Präsident droht, einigen US-Staaten nicht in der Coronakrise zu helfen, weil sie seine Arbeit nicht genug wertschätzen würden. In Thüringen bleibt der Bratwurstverkauf unter strengen Auflagen erlaubt. Ein Teilnehmer der #Coronachallenge, der in einer öffentlichen Toilette über den Beckenrand leckte, wird angeblich mit Covid19 ins Krankenhaus eingeliefert.

27. März | Das Vergessen der Normalität

Ab wann wird man sich nicht mehr an die Normalität erinnern?

Es wird einen Tag geben, an dem die Pandemie für beendet erklärt werden kann. Von diesen Tag an wird es möglich sein, alle Maßnahmen, Beschränkungen und Veränderungen zu verwerfen und in den Dezember 2019 zurückkehren. Doch wird man sich an diese Zeit erinnern? Wird einem dann Social Distancing so vertraut sein, dass Nähe seltsam scheint? Wird man sich dann noch die Hände schütteln, in die Hand husten, Hände kürzer als eine Minute lang waschen, den Mundschutz wieder als Irritation verstehen? Wird man 2022 auf dem Highfield-Festival mit sechzigtausend Menschen zusammenstehen und niemand wird einen Coronawitz machen? Wird man ohne Unbehagen auf große Menschenmassen schauen können?

Wie selbstverständlich wird das Zurückkehren sein? Ich frage mich das, da verschiedene Sichten auf die langfristen Folgen jenseits der medizinischen Situation miteinander konkurrieren; die kleine und große Wirtschaft auf Jahre zerstört, Rezession, Inflation, Pleiten. Das Virus als Katalysator für eine zunehmende Polarisierung, als endgültiger Triumph der Giganten gegenüber der Vielfalt, Amazon, das noch schneller die kleinen Läden in der Innenstadt in die Knie zwingt, die Fluggesellschaften, denen mit Milliarden geholfen wird, während das viele Kleine nicht diese Unterstützung erhält. Andererseits jene, die von Chancen sprechen, dass die Pandemie die offensichtlichen Schwachstellen der Gesellschaft bloßstellt und so Gelegenheit gibt, eine Veränderung hin zum Guten zu bewirken.

So oder so wird von einer neuen Normalität ausgegangen, keine, die mit Dezember 2019 vergleichbar ist. Oder sagt sich dies so pathetisch aus der atemlosen Situation heraus? Denn auch wenn das Beisl heute geschlossen ist, 2022 wird dort wieder Bier getrunken und wir alle werden uns wieder zwei Küsse auf die Wange geben und wir werden an Supermarktkassen ohne Plexiglasscheiben stehen.

Im Park, auf dem Weg zum Markt sind wieder deutlich mehr Menschen unterwegs. Es scheint das Gefühl zu herrschen, dass eine allgemeine Entspannung eingetreten ist. Worauf diese Annahme beruht? Vielleicht aus den Andeutungen einiger Entscheider, die Ausgehverbote nach Ostern schon locker zu können. Die im Vergleich zu anderen Ländern verhältnismäßig geringe Todeszahl. Die Aussage, dass das deutsche Gesundheitssystem eines der besten sei. Der Eindruck, genug gemacht zu haben. Die schöne Sonne.

An der heimischen Fleischtheke findet die im Eintrag vom 23.3. erwähnte Lebensmittelrutsche Verwendung. Aus den Lautsprechern zwischen dem Konsumgeduddel eine Ansage, in der sich eine für Supermarktverhältnis bedeutungsschwangere Stimme bei den Mitarbeiterinnen bedankt, von einer schweren Zeit spricht, die alle durchmachen und verspricht, dass am Ende alles gut werden würde.

Freunde aus Straßburg sind in Quarantäne. Sie berichten davon, dass die Lage in der Stadt besonders schlimm sei, in Krankenhäusern Menschen über achtzig keine Beatmungsgeräte mehr erhalten. Freunde aus Österreich berichten, dass die Tagespflege ausgesetzt sei und mobile Krankenschwestern nur noch zu den besonders schweren Fällen fahren. Die Aussage: Tut etwas, solange noch Zeit ist.

Wie gestern schon erwähnt, ist New York ein Ort, an dem die Pandemie besonders wütet. Im Spanische-Grippe-Buch, das ich für einige Tage ausdrücklich aus der Hand gelegt hatte, wird beschrieben, welche Folgen der Virus vor hundert Jahren dort hatte: »…Krankenhäuser waren total überfüllt, chirurgische Abteilungen wurden zu Influenzaabteilungen umfunktioniert, Turnhallen… dienten mittlerweile als Notkrankenhäuser.« In einem Text über die Situation in New York heute heißt es: »Es mangelt an allem: Ausrüstung, Geräten, Betten. Das Javits Center, Manhattans gläsernes Kongresszentrum, wird in ein Feldlazarett mit 1000 Betten umgewandelt. Doch hundertmal so viele werden benötigt.« Und, was im Spanische-Grippe-Buch über New York noch steht: »…dass die Krankheit dazu missbraucht werden konnte, die ohnehin schon marginalisierten Gruppen noch weiter zu stigmatisieren, und damals schlug den Italienern sowieso oft Fremdenfeindlichkeit entgegen.«

Ansonsten: Wegen fehlender Krankenversicherung wird in den USA einem Siebzehnjährigen die Behandlung versagt, wenig später stirbt er an Covid19. Die USA sind nun das Land mit den meisten Infizierten. In Brasilien stellen sich die Gouverneure des Landes wegen seines schlechten Krisenmanagements gegen Präsident Bolsonaro. In den Favelas sorgen Drogen-Gangs für die Umsetzung des Social Distancing.

In einer Wahlumfrage gewinnt die CDU fast zehn Prozentpunkte hinzu und steht bei 36 Prozent. H&M, Adidas und andere großen Ketten beschließen ab April keine Miete für ihre geschlossenen Läden zu bezahlen. Am häufigsten kaufen Deutsche im Einzelhandel momentan Seife, Klopapier, Reis, passierte Tomate, Äpfel und Bier. In Tirol setzen Tourismusbetriebe Mitarbeiter vor die Tür, die aber aufgrund der Quarantänebestimmungen die Orte aber nicht verlassen können. Der Bachmannpreis wird abgesagt.

Der Papst lässt ein wundertätiges Pestkreuz in den Vatikan holen. Boris Johnson wird positiv getestet. Till Lindemann liegt auf der Intensivstation. Die Ärzte und Herbert Grönemeyer veröffentlichen Quarantänelieder, »Sing ein Lied für sie | Isoliere Dich für sie | Sie arzten, pflegen, transportieren, kassieren | bewachen, forschen, schützen, ziehen«.

Nachdem Frei.Wild Anfang März einen Coronasong aufnehmen, in dem sie vor Weltuntergangsstimmung, Panikmacherei und Hysterie warnen, wird ihr Tontechniker positiv getestet und die Band muss in Quarantäne. Nun haben sie haben einen zweiten Coronasong aufgenommen, in dem sie singen, dass es ihnen leid tue und sie C19 nun erstnehmen würden: »Verdammt, wir lagen so falsch | Wir lagen daneben | Dann ritt das Karma zu uns heim | Dieses Scheißding fraß an uns«.

26. März | Angst II

Angst ist beides: Ratgeberin, um unnötige Risiken zu vermeiden und voller Gefahr, wenn sie der Blickwinkel wird, mit dem man die Welt um sich herum wahrnimmt. Ich habe am Anfang des Monats geschrieben, dass ich keine Angst verspüren würde. Das ist ebenso falsch wie richtig.

Natürlich habe ich Angst. Eine abstrakte Angst vor dem, was weltweit geschieht, die fernen Augenzeugenberichte und erschütternden Protokolle. Aber es ist – bei aller Tragik, bei allem Leid – aus zweiter Hand, weit weg. Wesentlich konkreter ist die Angst um jene meiner Familie und Freunde, die zur Risikogruppe gehören. Wenn sich zwei Drittel aller damit infizieren werden, dann werden zwei von Dreien in der Risikogruppe davon infiziert sein. Auch wenn ich mir sage, dass selbstgewählte Isolation, die Strategie einer Verseuchung der Nichtrisikogruppe und frühe Entwicklung eines Impfstoffs dieses Zahlen relativieren werden: Die Sorge bleibt dennoch, sie muss.

Die Angst um die Welt, die Angst um die Lieben. Am größten von allen wird die Angst um einen selbst sein, der unerhörte Angriff auf die eigene Existenz. Selbst Dan Patrick, Vize-Gouverneur von Texas, der sein Leben so selbstlos für den Neoliberalismus opfern würde, wird intubiert auf der Intensivstation seinen Altruismus möglicherweise überdenken. Soweit ich weiß, gehöre ich nicht zur Risikogruppe. Dieses Wissen war von Anfang an da. Statistisch gesehen muss ich wenig befürchten. Diese Information ist letztlich ausschlaggebend für meinen Blick auf diese Zeit. Die Zahlen sagen: Habe keine Angst.

Ich lese die Berichte über die Jüngeren, die 36jährigen, die Hochleistungssportler, die ohne Vorerkrankungen, jene, denen die Zahlen ebenso sagten: Habe keine Angst. Ich höre im Drostcast, dass medial die Ausnahmefälle überbewertet werden und die Gesamtzahlen die Einschätzung der Risikogruppen bestätigen. Ich lese in den Kurven und weiß, einige Punkte auf den Linien sind die Ausnahmen, alle Punkte auf den Linien sind Einzelfälle für die, die es betrifft. Die Zahlen sind abstrakt, sie beruhigen, das Konkrete beunruhigt.

Und ich weiß, wie privilegiert es ist, das schreiben zu können, den Luxus zu haben, überhaupt so denken zu können, keine Angst haben zu müssen. Zu dürfen schon, zu dürfen schon.

Was mache ich mit der Angst? Ich nutze sie, um Risiken für mich und andere zu minimieren. Die Dringlichkeit der Lage zu begreifen und ihre Konsequenzen anzunehmen.

Was mache ich mit dem Ausbleiben der Angst? Ich lese keine weiteren Berichte über Menschen, die zwei Wochen sediert auf dem Bauch liegen, um den Druck von der Lunge zu nehmen. Ich halte fest an den Zahlen, die mir etwas versprechen, lasse den Schrecken nur einzeln und in einem 1.50 Meter Sicherheitsabstand in den Lockdown eintreten, höre wieder verstärkt Musik mit Gitarren und koche Erbsenschoten in besonders viel Olivenöl. Angst ist gesund und vernünftig, ihr Fernbleiben ebenso.

Ansonsten: Die sächsische Polizei greift hart durch und spricht diverse Bußgelder rund um den Cospudener See aus. Verstärkt melden Bürger Verstöße anderer gegen die Ausgehregeln. Die Landwirtschaftsministerin hebt das Arbeitsverbot für Asylbewerber auf, damit diese als Hilfskräfte in der Landwirtschaft arbeiten können, Hashtag Spargel. Das System der amerikanischen Indiebuchläden bricht zusammen. New York entwickelt sich zu einem Hotspot der Pandemie. Ein US-Neonazi hat in Missouri einen Bombenanschlag auf ein Krankenhaus geplant; Corona sei eine Ausrede, um »unser Volk zu zerstören«.

Eine Tagebuchschreiberin aus Wuhan beendet ihr Coronatagebuch. Nach Aufhebung des Lockdowns in Wuhan lange Schlangen vor dem Friedhof, die Menschen holen die Asche ihrer verstorbenen Familienmitglieder. Bosch entwickelt einen Corona-Schnelltest. Dyson stellt nun Beatmungsgeräte her und nutzt dabei Erfahrungen im Bau von Luftreinigern. RTL setzt die Quarantäne-WG ab. Til Schweiger beschwert sich, dass die Menschen keinen Abstand halten. Aus Protest darüber, dass sie nur eine Rolle Klopapier kaufen darf, setzt sich eine 54jährige Frau in Bergneustadt auf das Kassenband; Polizisten führen sie in Handschellen ab.

25. März | eine Dystopie, romantisch gezeichnet

Heute erstmals seit mehreren Wochen nicht das Bedürfnis verspürt, am Abend meine Gedanken ordnen zu müssen. Ein Zeichen der Entspannung? Der Gewöhnung? Der Resignation? Der Überforderung? Morgen werde ich mehr wissen, möglicherweise. Dann schreibe ich über die Angst.

Ansonsten: Prinz Charles wird positiv getestet. Die Pestsäule am Wiener Graben wird zur Corona-Anlaufstelle; neben Kerzen steht dort auf einer Zeichnung: »Schütze uns vor dem Coronavirus.« Die Kultusministerkonferenz entscheidet, dass die Abiturprüfungen stattfinden werden. Der Rundfunk in Seattle veröffentlicht die Statements von Donald Trump nicht mehr live, weil dieser in seinen Reden derart viele falsche Informationen streut, dass man diese nicht mehr ohne die notwendigen Korrekturen senden könne. Auf einer Karte von Istanbul ist anhand der Verkehrsdaten zu erkennen, dass die Bewohner der reichen Viertel zuhause bleiben, während die der armen Viertel zur Arbeit fahren.

Denis Scheck präsentiert anstatt der aktuellen Bestsellerliste seine Top Ten zur Krise. Zitat Pressetext: »Verblüffend aktuell: “Die Pest” von Albert Camus oder das “Decamerone” von Bocaccio. Beklemmend und doch befreiend: “Die Wand” von Marlen Haushofer. Vergnüglich: die “Peanuts” von Charles M. Schultz oder “Der Wind in den Weiden” von Kenneth Grahame.« Medienpater Anselm Grün erklärt, was wir von Mönchen für die Quarantäne lernen können, Spoiler: Gerade jetzt brauche unser Alltag klare Strukturen wie im Kloster. Das Trolley-Problem in Zeiten von Covid-19.

Und, am Ende doch noch eine Bemerkung: Ich wurde darauf hingewiesen, dass das Video über Skaten in der Pandemie von 2014 ist, die Überschrift ein Clickbait. Es wäre leicht herauszufinden gewesen, schon der erste Kommentar weist darauf hin. Ich überlege, weshalb ich nicht überprüft habe. Vielleicht, weil das Video – ein Skateboarder in einer von Menschen verlassenen Stadtstruktur – genau das Bild zeichnet, welches ich gern (auch) sehen will: eine Dystopie, romantisch gezeichnet. Bereitwillig geglaubt habe ich, weil sich in den letzten Wochen sowieso schon viel zu viele popkulturelle Referenzen in die Realität übertragen haben. Warum nicht auch diese Vorstellung? Und – dieser Glaube wird wieder passieren, kein Zweifel daran.

24. März | Rückblick

Vor einem Monat beginne ich zu schreiben. Zuerst still, für mich soll es sein, auch, weil ich nicht ertappt werden will bei einer Überreaktion. Was, wenn es doch vorbeigehen wird wie die Waldbrände in Australien; ein kurzer Aufreger, bevor ab Mitte März jeder von … sprechen wird?

Es ist ein Sammeln von Eindrücken, auch ein neugieriges Beiwohnen beim Verändern einer Realität, ein Auflisten von Fundstücken, ein Festhalten von Momenten, die Tage später längst überholt sind, zuzuschauen, wie sich die Ausnahme verstetigt, auch Irrtümer und Fehlinformationen stehenzulassen, weil sie dazugehören, die Gerüchte und falschen Fährten, die Irrwege und Sackgassen, die oft nur aus dem Augenblick heraus zu verstehen sind und im Rückblick entblößend und entlarvend wirken, aber notwendig sind, um sich dem anzunähern, was geschieht. Was es ist? Vielleicht eine allmähliche Verfertigung von Gedanken bei einem langen Schreiben.

Irgendwann merke ich: Diese Stunde am Abend hilft mir beim Ordnen der Eindrücke von innen und außen. Das Schreiben schafft ein Gefühl von Kontrolle, lässt mich glauben, dass das, was geschieht, sich in ein Datum tippen ließe, fein säuberlich durch Tage getrennt. Mir ist bewusst, dass es viele solcher Auseinandersetzungen dazu gibt; Aufzeichnungen, Tagebücher, Eintragungen, Podcasts, TikToks, Videotagebücher. Jedes einzelne davon ist notwendig und sei es nur für diejenige, die es verfasst. Mehr soll es auch nicht sein, jederzeit soll diese Form abgebrochen, erweitert und verändert werden können. Es gibt keine Regel dafür, nur diese eine müde Stunde am Abend.

Damit sollte ich es belassen, wenn heute nicht erstmals der Gedanke in aller Deutlichkeit ausgesprochen wurde, von dem klar war, dass er kommen würde: Warum nicht einen Teil der Alten und sonstigen Risikogruppen opfern zugunsten einer weiterhin funktionierenden Welt für die anderen? Bezeichnenderweise wurde dies öffentlich nicht in China oder Europa geäußert, sondern in den USA, vorgetragen von der neoliberalen Rechten, ein erster Vorstoß, ein neues Narrativ in die Diskussion zu geben, weil klar ist: Ist dieser Blick einmal in der Welt, wird er auch nicht mehr gehen. Mit jedem Prozentpunktverlust mehr wird dieser Blick an Bedeutung gewinnen, wird das Abwägen und Aufrechnen für viele eine relevante Frage sein.

Und vielleicht ist das, neben dem medizinischen Kampf, die wichtigste Auseinandersetzung: die über Solidarität. Diese Pandemie ist die erste, in der man dem unbekannten Virus von Anfang an wissend etwas entgegenstellen kann. Die Frage: Unter welchen Umständen ist der Preis dafür verhandelbar?

Ansonsten: Neustadt am Rennsteig steht komplett unter Quarantäne. Deutschlandfunk stellt sein Programm um. Das IOC entscheidet nach großem Druck, die Olympischen Spiele um ein Jahr zu verschieben. Auf einem Hackathon schreiben 42000 Programmerinnen Codes für Anwendungen, die gegen den Virus helfen sollen. Texas verbietet mit Verweis auf den Virus Abtreibungen. Spammails, die für eine Umfrage zu »THEMA DES TAGES: virus Corona !« Einkaufsgutscheine im Wert von 500€ für Penny und Netto versprechen. In Weimar wird vor Betrügern gewarnt, die Coronatests anbieten und dafür Kontodaten erfragen. Ursula von der Leyen wäscht die Hände zu »Freude schöner Götterfunken.«

23. März | Polizisten und Passanten

Heute erstmals die Exekutive in dieser neuen Realität wahrgenommen. In einer doch recht engen Vierergruppe laufen zwei Polizisten und zwei Ordnungsamtler die Straße entlang. Ihre Blicke messen kritisch die Passanten und die Passanten strecken automatisch ihre Rücken durch und legen lieber noch einmal fünfzig Zentimeter auf die 1.50 Meter Sicherheitsabstand drauf. Nicht, dass es etwas zu beanstanden gäbe – weder bei Polizisten noch bei Passanten – fühlt es sich kontrolliert an, auf eine Weise, die unter diesen Umständen korrekt erscheint. Wie werden diese Blicke in zwei Wochen geworfen sein, werden sie nach der Pandemie wie selbstverständlich weiter messen?

Weggefegt hat der Virus die anderen Themen: den Terror von Hanau, die Amokfahrt von Volkmarsen, Hannibalnetzwerk, Erderwärmung. Das scheint weiter weg als sonstige Ereignisse, die vor einem Monat diskutiert wurden. Was aktuell noch geschieht – der aufgelöste Flügel, Cum Ex – wirkt wie eine Störung im einzigen Strom, in dem nun alle treiben. Es scheint nicht relevant, auch anstößig, über anderes zu berichten, absurd und respektlos die Vorstellung, es könne neben der Pandemie noch anderes geben.

Zugleich stellt sich ein gewisser Sättigungseffekt an Informationen ein. War das Bild in den ersten Wochen sehr unklar, wuchs das Wissen über das Unerwartete exponentiell. Auch wenn die Situation im Gegensatz zu den Anfangstagen erst jetzt in aller Unrealität wirkt, ist ein Grundbedarf an Wissen mittlerweile gedeckt: Händewaschen, Flatten The Curve, Herdenimmunität, Atemschutzmasken, Inkubationszeit, was gehört zum Lockdown etc. Es ist auch nicht mehr so, dass eine einzelne Info alles ändern könnte. Vieles im Strom sind Wiederholungen, alle sind betroffen und machen in vielem ähnliche Erfahrungen, was bedeutet, dass dieses Viele oft ausgesprochen werden muss.

Ansonsten: Man schaut auf die Social-Distancing-Gemälde Edward Hoppers. In Großstädten gelangen ungewöhnlich viele Wohnungen auf den Mietmarkt, die nun und auf längere Sicht ungebuchtem AirBnB-Wohnungen. Die Meldung, dass in Tschechien und Polen LKWs mit Schutzmasken und Beatmungsgeräten aus China konfisziert wurden, stellt sich als falsch heraus. Kuba schickt zu Unterstützung Ärzte nach Italien. Dort sinkt erstmalig die Infektionsrate und Totenzahl, etwa zwei Wochen nach Einführung des Lockdowns. In Deutschland wird es dafür noch sieben Tage brauchen. In Supermärkten werden Lebensmittelrutschen gebaut, um den Abstand von Verkaufsstand zu Kundin so groß wie möglich zu halten. In den USA werden Crowdfundings gestartet, um die eigenen medizinischen Kosten im Zusammenhang mit Corona finanzieren zu können. Noch einmal stellt sich heraus, welche gewaltige Rolle Bad Ischgl bei der Virusverbreitung in Europa gespielt hat. RTL startet eine Quarantäne-WG mit Thomas Gottschalk, Günther Jauch und Oliver Pocher. Ein angeblich mit Coronavirus infizierter Mann leckt eine Rolltreppe ab. Skaten in der Pandemie.

22. März | Bewusstseinswandel

Vor einer Woche hätte ich auf der Leipziger Buchmesse lesen sollen. Heute, da Ansammlungen von mehr als zwei Personen grundsätzlich verboten wurden, erschrickt die Vorstellung, auf einer Veranstaltung, auf der dreihunderttausend Menschen zusammengekommen wären, gewesen zu sein.

In den erleuchteten Fenstern der gegenüberliegenden Wohnungen Blicke in die verschiedenen Wohnzimmer. Sie eint, dass die Teppiche und Dielen mit Spielzeug, Legosteinen und Kinderbüchern bedeckt sind. Am Abend das erste Balkonkonzert miterlebt. Jemand spielt »Careless Whisper« auf dem Saxophon. Niemand filmt, der Moment wird nur als Erinnerung gespeichert sein.

Die Straßen und Plätze weiterhin unvollkommen leer. Auch wenn die Temperatur bei null lag, schien die Sonne freundlich. Wer nicht im Schatten stand, konnte zufrieden sein. Das taten nicht wenige, doch bis auf seltene Ausnahmen exakt so, wie es nachdrücklich gefordert wurde. Es scheint ein Bewusstseinswandel stattgefunden zu haben, eine Erkenntnis, die die Mehrheit erreicht hat und der nun gemeinschaftlich Folge geleistet wird, ohne Sanktionen, ohne Geldstrafen oder Polizisten. Vernunft, könnte man das nennen. Fast vier Wochen hat es bis zu diesem Punkt gebraucht

Und das war es ja, was in der Ansprache der Kanzlerin vor wenigen Tagen gefragt wurde: Ist die Einsicht groß genug, um einen noch tiefgehenden Eingriff in die Rechte aller zu vermeiden? Ja, ist die noch leise vorgetragene Antwort. Jetzt scheinen diese Handlungsweisen angekommen und akzeptiert. Schutzmasken werden akzeptiert sein und Plexiglasscheiben im Supermarkt und Lücken zwischen Redenden und Gruppen, die offensichtlich keine Familien sind, werden böse Blicke bekommen.

Und zugleich die Frage: Wird sich das einmal rückgängig machen lassen? Was von den Einschränkungen wird bleiben? Markus Söder soll laut Umfrage aktuell der beliebteste Politiker des Landes sein. Er ist der, der stets zuerst entscheidet und stets die eindringlichsten Maßnahmen ergreift, einer, der stark ist und Führung zeigt und »Flatten The Curve« schneller als viele andere verstanden hat. Wie lang soll er so stark bleiben, wie wird das Starksein nach dem Virus gewichtet? Die Kanzlerin selbst befindet sich nun in Quarantäne, nachdem ein Arzt, der sie gegen Pneumokokken impfte, positiv auf das Coronavirus getestet wurde.

Zahlreiche Berichte machen Runde: Jugendliche, die Älteren ins Gesicht husten und dazu lachend »Ich habe Corona« rufen. Ob die Geschichten wahr sind, vielleicht so wahr sind, wie vor vierzig Jahren die Geschichten über die mit HIV-infizierten Blut gefüllten Impfnadeln, die auf Kinosessel liegen sollen?

Vermehrt werden nun Videos gezeigt, die zwei, drei Wochen alt sind und Politikerinnen zeigen, die sich zu Corona äußern; stets die Gefahr ignorierend, herunterspielend. Vermehrt ebenfalls die Verbreitung von Gebrauchsanleitungen zur Herstellung von Atemschutzmasken. In vielen Varianten die Handlungsanweisungen, bunt die Stoffe, vielfältig die Formen. Vielleicht wird die Akzeptanz von Atemschutzmasken hierzulande einhergehen mit sehr individualisierten Modellen; alle tragen das gleiche, aber anders.

Ansonsten: Der Preis für bestimmte Medikamente explodiert, der Preis einer Ampulle des Narkosemittels Propofol steigt von einem auf zwanzig Euro. Auch der Preis für Hefe geht in die Höhe, auf Ebay werden Packungen für zwölf Euro gehandelt. In England arbeiten verschiedene Industrien – McLaren, Nissan, Airbus – gemeinsam an einer schnellen Herstellung von Beatmungsgeräten. »Kreativ wie in Kriegszeiten« lautet der Titel des Artikels. In Connewitz werden für Obdachlos Nahrungsmittel in Plastiktüten an einen sogenannten Gabenzaun gehängt. In Kraftwerken werden Mitarbeiter in Quarantäne gesetzt, sie sollen die Stromversorgung sicherstellen. Der erste prominente Coronatote ist der ehemalige Präsident von Real Madrid. Geflüchtete in Moira stellen Schutzmasken in Akkordarbeit her. In Tschechien und Polen werden angeblich LKWs mit Schutzmasken und Beatmungsgeräten, die China nach Italien schickte, konfisziert, um sie der eigenen Bevölkerung zur Verfügung zu stellen.

21. März | unvollständige Leere

Heute, am Welttag der Poesie, der zugleich Welt-Down-Syndrom-Tag ist, schreibe ich: Die noch unvollständige Leere ist jetzt schon gewaltig. Eine kaum begangene Karl-Liebknecht-Straße am späten Nachmittag, auf den Plätzen eine einsame Skateboarderin. Liefe dazu Godspeed You! Black Emperor, wäre das die Entnahme des Lebens der ersten Minuten von 28 Days Later. So ist das die Gegenwart, von der man sich fragt, wann genau sie eigentlich falsch abgebogen ist. Das ist der Anfang eines Jahrzehnts, vielleicht der Beginn einer Epoche. Was gerade geschieht, wird viele Jahrhunderte rotunterstrichen in den elektronischen Geschichtsbüchern stehen.

Weiterhin eine der größten Fragen: Wie lange hält dieses Rotunterstrichene noch an? Zwei Extremszenarien herrschen und werden, anders als noch vor einigen Tagen, sehr sichtbar diskutiert. Szenario 1: Die unkontrollierte Ausbreitung des Virus mit einer Todeszahl hierzulande im oberen sechsstelligen Bereich. Szenario 2: Ein Lockdown bis zur Entdeckung und Nutzbarmachung eines Impfstoffes, Dauer mindestens ein Jahr. Sofern es nicht zu einem Deus ex machina kommen sollte, einen »göttlichen« Eingriff wie z.B. Sommer und damit UV-Licht, das dem Virus schadet – scheinen beide Szenarien in ihren Konsequenzen unvorstellbar. Trotz dessen, dass sie die wahrscheinlichen Zukünfte sind momentan.

Die Hoffnung liegt wie so oft auf einem Mittelweg, einem Mix verschiedener Strategien und Maßnahmen, die einzeln nicht wirken, sich aber ergänzen und gemeinsam verstärken könnten. Wenn man so will, eine bürokatische Rettung. Vielleicht wird es ein kontrolliertes Lösen der Anordnungen beim Fall der Infiziertenzahlen geben und einem Wiedereinsetzen bei einem erneuten Anstieg. Dies würde eine Normalität im Extremen schaffen, ein permanentes Achten auf die Zahlen, ein routiniertes Einschränken des Bewegungsradius; zwei Wochen Grillen mit Freunden, vier Wochen Zurückziehen in den kleinsten Kreis, ein Gewöhnen an das Außergewöhnliche, der Virus als ein Bestandteil des Alltags, über den man so eine Art Kontrolle behalten könnte.

In einem Thread beschreibt jemand diesen Alltag, in dem er die Rückreise in die Heimat, nach China beschreibt. Alle Menschen mit Atemschutzmasken, viele in Schutzanzügen und mit Brillen, wie Astronauten auf einem fremden Planeten, ein Abschotten von allem, ein kontrolliertes Führen. Vielleicht wird das die Realität sein für die nächsten Monate, es wäre … und hier lässt sich eine beliebige dystopische Zukunftsversion einsetzen, natürlich nur für die Länder, die sich das leisten können.

Und nein, es fühlt sich nicht seltsam an, so etwas zu schreiben, so pathetisch wie es sollte. Schlüsselworte wie »Epoche«, »Hoffnung« oder »dystopisch« schaffen eine Distanz zu der Realität, die zugleich vor der Haustür liegt, in den Streams aus aller Welt und in den Vorstellungen, die es einmal von der Zukunft gab. All das zugleich zu erleben ist eine kognitive Überforderung, der ich nur entkomme, in dem ich mir Teile davon zurechtbiege und andere geflissentlich ignoriere.

Ansonsten: Trigema stellt nun die Produktion auf Schutzmasken um. Ein Bäcker weckt mit einer emotionalen Videoansprache deutschlandweit Mitgefühl. Ein Tag später wird das Bild erweitert. Und weil der Horxtext immer noch verlinkt wird, lese ich in Faserland nach. Und denke: Was eigentlich, wenn man feststellt, dass Kniffeln per Skype letztlich einen ebenbürtigen sozialen Kontakt bedeutet, wenn social distancing eben doch eine attraktive Form des Zusammenlebens sein könnte?

20. März | Privilegiert oder systemrelevant

Ein banaler, für alle unbedeutender und für mich doch wichtiger Gedanke: wie groß die Freude, kurz vor Schließung aller nicht systemrelevanter Verkaufsstellen (Lebensmittel, Tierfutter, Baumarkt) in einem Schuhladen neue, gutsitzende Pantoffel gekauft zu haben. Bei den alten hatten sich die Sohle gelöst. Die Vorstellung, ansonsten die nächsten Monate mit schlappenden Schuhen an den Füßen verbringen zu müssen, jagt mir Schauer über den Rücken.

Im Supermarkt stehen zwei Männer am Eingang. Die Griffflächen eines jeden zurückgegebenen Wagen desinfizieren sie gründlich. Will ein Kunde in den Markt, MUSS er einen Wagen nehmen. 150 Wagen stehen zur Verfügung, maximal 150 Kunden dürfen sich gleichzeitig im Markt aufhalten. Über die Wagenzahl wird nun die Kundenzahl gemessen. Auf dem Boden vor den Kassen und Theken sind Markierungen angebracht, der Abstand ein Meter fünfzig. Die meisten halten sich daran.

Ansonsten ist die Stimmung gedämpft, kein Supermarktradio spielt »Walking On Sunshine«. Nicht wenige tragen Masken, kein irritierter Blick fällt darauf. Im Drostcast einmal die Aussage, dass Masken einen nicht vor einer Infektion schützen, aber eine Maske unter Umständen verhindern kann, dass ich andere anstecke. Angesichts der vermutet zehnmal so hohen Infiziertenzahl eine lohnenswerte Sache. Wenn alle Masken trügen, würde das helfen. Vielleicht gehört das ja in wenigen Wochen wie selbstverständig zu unserer Kultur.

Die Angestellten tragen noch keine Masken, dafür Handschuhe. Zwei unterhalten sich über eine kommende Ausgangssperre. »Der Chef hat mir schon einen Passierschein ausgestellt. Mit dem komme ich auf jeden Fall raus. Ich habe mir den Schein schon laminieren lassen.« Keine zwei Stunden verkündet der bayrische Ministerpräsident, der mit allen Maßnahmen immer der erste ist, eine Ausgangsbeschränkung. Kein Verbot, sondern eine lockere Variante davon, ein langsames Rantasten an die absolut ausgeübte Autorität des Staates. Für zwei Wochen soll diese Beschränkung gelten, sicher werden die anderen Länder nachziehen.

Einige ungeordnete Überlegungen. Mittlerweile erscheint es mir derb und vulgär, das Wort »Corona« auszusprechen oder zu schreiben. »Virus« scheint mir angemessener, warum auch immer. Privilegiert ist, wer Homeoffice machen kann. Wer systemrelevant ist, muss sich der Gefahr aussetzen, kann den guten Verhaltensregeln nur zum Teil nachkommen. Das schöne Wetter der letzten Tage war Fluch und Segen zugleich; gut für das Gemüt, schlecht für die Infiziertenzahlen. Menschen auf der Straße zu sehen, bekommt etwas Ungehöriges. Allein ihre Anwesenheit erregt Argwohn, ein Gefühl allerdings, das ich nicht erst seit dem Virus hatte, an manchen Tagen.

Ein Fernsehsender schickt ein Paper rum, in dem es Filmemacherinnen um kurze, in den nächsten Wochen zu produzierende Filme über das Virus bittet. Zuerst, um die eingetretenen Verdienstausfälle zumindest an einer Stelle aufzufangen. Mindestens genauso wichtig: Der Gedanke daran setzt einen kreativen Schub frei. Es geht darum, das, was einen beschäftigt, in eine Erzählung zu überführen. Das ist es ja, was Autorinnen, Filmemacherinnen, Musikerinnen, Malerinnen machen. Das ist, was sie können und was in diesen Tagen als nicht systemrelevant scheint. Und das nagt am Selbstbewusstsein, weil jeder Teil der Situation ist und jede etwas beitragen möchte, muss vielleicht.

Ein Gedicht scheint so privilegiert im Vergleich zu der Tätigkeit des Einräumens von Nudeln in Regale, von Sitzen an Kassen, von Pflege und Gesundheit zu schweigen. Deshalb die Masse an Coronatagebüchern, die Coronafortsetzungsgeschichten, die Memes und Musikstücke, das Vorlesen und Spielen. Und auch, wenn gefühlt jeder aus dem Literaturzirkel mindestens einmal den Witz gebracht hat, dass es nächstes Jahr zur Leipziger Buchmesse eine Schwemme an Coronaromanen geben wird: Was wäre daran verwerflich? Es wird grandiose, gute, mittelmäßige, schlechte, sehr viele überflüssige, peinliche Bücher dazu geben, so, wie zu jedem Thema.

Ansonsten: In Wien werden Bußgelder von 600€ für das Sitzen im Park verhängt. Das gestern hier erwähnte saubere Wasser in den Kanälen von Venedig ist wohl nicht unbedingt sauberer. Sondern wird nun nicht mehr der Schlamm von den Gondolieren aufgewirbelt und kann sich so setzen. Anleitungen zum Bau von Atemschutzmasken kursieren. Wahnsinnig viele Rezepte zum Backen von Broten kursieren. Olympia ist weiterhin noch nicht gesagt, Cannes schon. Thomas Brezina schrieb in drei Tagen einen Ratgeber für Corona: Auch das geht vorbei- Glücklich bleiben in schweren Zeiten.
Bei einem Starkbierfest, das am 6. März als »Schluckimpfung« gegen Corona beworben wurde, kam es wohl zu sechzig Infektionen.

19. März | StayTheFuckHome

Nach dem gestrigen Eintrag die Ansprache der Kanzlerin gesehen. Ihre Hände spiegeln sich im glattpolierten Tisch, leicht versetzt zur Mitte sitzt sie und gibt der Deutschlandfahne damit viel Raum, die blaue Flagge der EU an den Rand gedrängt, zwei Sterne sind zu sehen. Die Kanzlerin spricht nicht von Krieg, nicht von einem chinesischen Virus, sie sagt: »Wir sind eine Demokratie. Wir leben nicht von Zwang, sondern von geteiltem Wissen und Mitwirkung.« »Herzlich und vernünftig« sollen wir sein und »Solche Einschränkungen [sind] nur in der absoluten Notwendigkeit zu rechtfertigen. Sie sollten in einer Demokratie nie leichtfertig und nur temporär beschlossen werden – aber sie sind im Moment unverzichtbar.« Und sie spricht von einer »dynamischen Situation«, was bedeutet: Wenn in den nächsten Tagen noch Aperol Spritz gemeinsam in den Parks getrunken wird, kommt die Ausgangssperre.

Also wird sie kommen.

Beim Hören des Drostcasts ambivalente Gefühle. Einerseits Erleichterung, als er sagt: Es könnte sein, dass wir mit allen bisherigen Maßnahmen und dem Zustand unseres Gesundheitssystems gerade so die Kurve bekommen könnten. Andererseits die Bewertung einer Studie, deren Zahlen deutlich sagen: um den Tod vieler zu verhindern, müsste der aktuelle Zustand sehr lange andauern. Gravierende Zahlen, nennt er das. Die einzige Möglichkeit, das zu umgehen, wäre das schnelle Finden eines Impfstoffes, zur Not eben ohne Test, mit dem Risiko von Nebenrisiken.

Zwei Gedanken dazu: Wie begierig ich doch bin, von einer Person, von der ich vor wenigen Tagen noch nie gehört hatte und der ich mittlerweile große Autorität zuschreibe, nicht nur eine Einordnung der Lage zu erhalten, sondern damit Zuversicht / keine Zuversicht verbinde. Und: mit dem »wir« und »unser«, von denen ich oben schrieb, ist Deutschland gemeint. Es berührt mich sehr unangenehm, wie weit weg alles andere außerhalb dieser Begrenzung ist.

Anschließend Ausschnitte der Big-Brother-Folge gesehen, in der die Kandidaten erstmals von der Pandemie erfahren. In wenigen Minuten gerafft die Ereignisse der letzten Wochen, erinnert es in seiner Absurdität an Dead Set. Kann es sein, dass wir vieles, was gerade geschieht oder geschehen wird, popkulturell schon einmal geprobt haben? Davon abgesehen unerwartet vernünftige Reaktionen der Kandidaten; die erste Frage einer Altenpflegerin, was nun mit den Heimen sei. Einer fragt, wie viele Tote es gegeben habe. Vorsichtig schiebt er hinterher: Falls es denn welche gab. Die Zahl – 28 – erscheint in diesem Kontext gering, viel zu gering für das, was daraus erwachsen ist.

StayTheFuckHome heißt es und zuhausebleiben und StayAtHome. Und das ist richtig, das ist, was ich tue. Und zugleich finde ich die Verknappung irritierend, weil es Quarantäne meint, wo es doch auch anderes ebenfalls beinhalten sollte. StayAtHome sollte auch den verantwortungsvollen Gang ins Grüne, den distanzierten Spaziergang meinen. Das ist leicht gesagt in einer Stadt, in der man mit dem Fahrrad in fünf Minuten auf den Feldern oder im Wald ist.

Überhaupt ist StayAtHome leicht gesagt. Für manche ist StayAtHome, dass sie nach zwei Tagen schon die Vorräte für zwei Wochen verbraucht haben und darüber ironisch schreiben können. Andere streamen Konzerte oder Lesungen. Andere sind auf dem Land auf einem Bauernhof, andere in einem Einfamilienhaus mit angeschlossen Garten, viele in Städten, in denen das einzige Grün die geschlossenen Parks und Spielplätze sind. Viele sind zu viele in viel zu kleinen Wohnungen. Auf jedes »Dann gibt es in neun Monaten viele Coronababys« kommen drei Anmerkungen, dass in Wuhan in der Quarantänezeit die häusliche Gewalt rapide stieg.

StayAtHome ist eine Frage des Wer und Wo: die 15jährigen, die nun für Wochen im Haus ihrer Eltern im Kinderzimmer bleiben sollen, die Studenten-WGs, die kinderlosen Anfangdreißigjährigen in Lofts, die jungen Familien, die etwas älteren Familien, die Paare, deren Kinder aus dem Haus sind, Rentner, es gibt die Sozialwohnungen, dem Whirpool, aus dem Arnold Schwarzenegger alle auffordert: StayTheFuckHome, es gibt die Flüchtlingsunterkünfte in alten Schulen. Jedes StayAtHome ist ein anderes und jedes ungerecht, unfair, unzulänglich anderen gegenüber, jedes StayTheFuckHome ist auch eine soziale Frage.

Ansonsten: Greys Anatomy spendet Mundschutz und Handschuhe an reale Krankenhäuser. Während in Wuhan in der Zeit der Quarantäne die Luft besser wurde, wird in den Kanälen von Venedig das Wasser wieder klar. In Israel führt ein Mann in Quarantäne seinen Hund mithilfe einer Drohne nach draußen. Italien ist nun das Land mit den meisten Toten, Bilder von einem Militärkonvoi in Bergamo, der die Leichen vor die Stadt bringt, weil in der Stadt die Krematorien überlastet sind, machen die Runde. Der ESC ist abgesagt. Florian Silbereisen, der den geschassten Xavier Naidoo in der Jury von DSDS ersetzen wird, sagt: »Dieter hat angefragt, ob ich kurzfristig einspringen könnte und ich habe selbstverständlich zugesagt. In Zeiten wie diesen muss man einfach zusammenhalten und aushelfen, wo man gebraucht wird.«

18. März | Direkte Verbindung

Fahrradfahrer, unterwegs in einer Vierergruppe. »Das sind keine zwei Meter«, rufen sie sich beim Fahren lachend zu, »Wir brauchen mehr Abstand voneinander.« »Nein, wir müssen nur schneller als die Tröpfchen fahren«, ruft einer von ihnen. Ansonsten das Verhalten im weiten Grün vorbildlich; weiterhin kleinste Ansammlungen, der Abstand beim Reden wie selbstverständlich zwei Meter. Nur wenn Bluetoothboxen Beats droppen, ist die Wahrscheinlichkeit von Social Distancing sehr gering, Coronaferien am Ufer der Ilm.

Wäre das anders, wenn es von Anfang an geheißen hätte: Der Virus trifft alle gleichermaßen? Und was, wenn der Virus besonders gefährlich für Kinder wäre? Wären dann die Spielplätze trotzdem voll? Würden Großeltern dann ihre Enkel betreuen? Wann wären Schulen und Kindergärten geschlossen wurden? Würde eine höhere Sterblichkeit das Verhalten aller ändern? Veränderte Übertragungswege, wie in »The Happening« durch den Wind? Würde man dann noch über die Aperol-Spritz-Trinker im Straßencafé diskutieren, über Ausgangssperren?

Vermutlich. Vermutlich braucht es die konkrete Erfahrung. Es braucht die Cousine, die im Krankenhaus arbeitet und davon berichtet, es braucht den Onkel des Nachbarn, der auf der Intensivstation liegt, es braucht bei denen, denen es ironisch nach Coronapartys verlangt, die direkte Verbindung, die schmerzhafte Folge, um Konsequenzen zu ziehen.

Im Drostcast eine Hypothese: Die lange Inkubationszeit hat zwar eine hohe Infektionsgefahr zur Folge. Zugleich aber gibt die Zeit, in der das Virus den Rachen hinabwandert, dem Körper Gelegenheit, Antikörper zu entwickeln. Ist das Virus in der Lunge angekommen, hat der Körper schon genügend Abwehrkräfte gebildet, weshalb die meisten Erkrankungen so glimpflich verlaufen. Bei den Fällen, in denen Jüngere stark betroffen waren, gab es dieses Wandern nicht, da ging das Virus direkt in die Lunge, traf das Immunsystem nur unvorbereitet.

Den vorherigen Absatz so zu schreiben, ist natürlich vermessen und ist nur möglich, weil nach dreißig Minuten über Proteine und Helferzellen der Glaube da ist, etwas über die Art, wie Viren funktionieren, verstanden zu haben, es möglich wäre, die Welt durch die Augen von Corona sehen zu können.

In Texten heute wird sehr deutlich ausgedrückt, dass die momentane Strategie der Einschränkungen unter keinen Umständen im April schon beendet sein wird. Es ist von Monaten die Rede, eine Zahl, die fällt, ist die 18. Dann wäre September 2021 die Rückkehr in die bisherige Normalität. Eine Simulation.

Ein dänischer Supermarkt versucht die Hamsterkäufe mit Handdesinfektionsmittel zu unterbinden, indem als Preis für die erste Flasche 5,50€ angesetzt wird, als Preis für die zweite 134€. SAT1 informiert die Big-Brother-Bewohner über die Pandemie. In Weimar wird ein Mann, der hustet, zusammengeschlagen.

17. März | Primat der Medizin

Zum ersten Mal im Supermarkt eines dieser leeren Regale gesehen; Nudelabteilung natürlich. Nur einige Packungen der »verrückten« Sorten sind noch vorhanden, darunter Rotelle, die Wagenräder. Beim Scannen an der Selbstbedienungskasse, die einen Kontakt zu Menschen noch einmal minimiert, werde ich zum Zuhörer eines Gesprächs zweier Angestellter: »Die Ärzte kriegen alles Lob ab und das ist auch richtig so. Aber zu dem, was wir hier leisten, sagt niemand was.« Beim Rausgehen sage ich anstatt Tschüss Danke, die Angestellte ist da längst wieder bei der Arbeit, prüft, bei welchen Einkaufvorgängen ihre Hilfe gebraucht wird.

Die leeren Regale kommen durch den Liefermodus der Supermärkte zustande; nichtverderbliche Waren werden in der Regel nur zwei Mal die Woche geliefert, die Liefermenge anhand von Prognosen bestimmt. Momentan befinden sich die Märkte im Weihnachtsmodus, also erhöhte Liefermengen. Allerdings müssen die Angaben händisch an die Realität angepasst werden, da in der Simulation erwartet wird, dass der Kunde nur die Menge Toilettenpapier kauft, die er in naher Zeit auch tatsächlich verbrauchen kann.

Klar wird, auch aus einigen Gesprächen, dass Corona in mehreren Etappen verlaufen wird. Momentan herrscht, wie Markus Söder es genannt hat, das Primat der Medizin. Doch wird – wann immer dieser Zustand für aufgehoben erklärt wird – ein Primat der Wirtschaft erfolgen. Das wird bürokratisch und langwierig werden, von Gerichtsurteilen und Betrugsversuchen begleitet sein. In dritter Etappe werden bestimmte Handlungen, Maßnahmen, Regeln und Erkenntnisse der Ausnahmesituation in den neuen Alltag übernommen, die Chancen dann ebenso groß wie die Risiken, dass Einschränkungen bestehen bleiben.

Trumps Coronatest war negativ, eine unwichtige Meldung. Wie auch die vom an das Coronavirus angepassten Enkeltrick. Das Böse ist eine nichtrelevante Information in diesen Tagen. Es muss protokolliert sein und später müssen daraus Folgen erwachsen. Aber momentan muss das Helfende, das Konstruktive, das Gemeinschaftliche im Vordergrund stehen, müssen die Gedanken, die Kräfte dahinfließen.

Doch noch ein Wort dazu. Trump bezeichnet Covid-19 mit der ihm eigenen Penetranz als »chinesisches Virus«. In Europa ist von Essgewohnheiten »des Chinesen« die Rede, die Schuld trügen an der Situation. In China ändert sich die Erzählung zu C19, in Südkorea oder Bergamo werden Schuldige vermutet. Eine sogenannte »Schuld« wird auf andere übertragen, selbst, wenn in Europa nicht »die Chinesen«, sondern ein Barkeeper im Wintersportort Bad Ischgl für eine massive Verbreitung des Virus sorgte.

Im Spanischen-Grippe-Buch ein längerer Absatz über die Entstehung des Namens. Im Senegal hieß sie »Brasilianische Grippe«, in Brasilien »deutsche Grippe«, in Polen »Bolschewikenkrankheit«, in Japan »Sumogrippe«. Dabei trat die Spanische Grippe zuerst in Kansas, USA auf. Von dort aus verbreitete sich das Virus um die Welt. Als die Epidemie längst in Amerika und Frankreich grassierte, wusste man in Spanien (und auch sonstwo) wenig davon, da aufgrund des Kriegszustands eine Nachrichtensperre verhängt war. Die Berichte von den Erkrankungen in Spanien hingegen gingen in die bereits betroffenen Länder, weshalb sich letztlich diese Bezeichnung durchsetzte.

Auch bei anderen Epidemien führt der Name des Virus in die Irre. AIDS hieß erst GRID, Gay-related immune deficiency. Die Schweinegrippe wird nicht von Menschen übertragen. Ebola ist nach einem Fluss in Zentralafrika benannt, 2014 löste es eine Epidemie in Westafrika aus. Das Zika-Virus ist nach einem Wald in Uganda benannt, stellte aber eine besondere Gefahr für den amerikanischen Kontinent dar etc. 2015 legte die WHO fest, dass Krankheitsbezeichnungen sich nicht auf Orte, Menschen, Tiere oder Nahrungsmittel beziehen sollen. Sie sollen auch keine Worte enthalten, die Furcht erzeugen. Stattdessen soll der Name Beschreibungen der Symptome enthalten.

Ansonsten: Großbritannien ändert seine Strategie. Nun sollen sich nicht mehr so viele infizieren, bis eine Herdenimmunität erreicht ist, eine Vorgehensweise, die einen geringeren Schaden für Wirtschaft und Tote im mittleren sechsstelligen Bereich zur Folge hätte. Stattdessen doch »Flatten The Curve«. Die Fußball-Europameisterschaft wird um ein Jahr verschoben. #StayAtHomeChallenge. Friedrich Merz ist infiziert. Jemand regt an, zukünftig Krankenhäuser mit 3D-Druckern auszustatten, damit fehlendes medizinisches Gerät reproduziert werden kann. Im Informationsschreiben der Stadt Weimar findet sich der Satz: » Für den Sportbetrieb von Kaderathleten in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 2020 können Ausnahmen durch die zuständige Behörde zugelassen werden sofern dies im Einzelfall unerlässlich ist.«

16. März | Kleine Cluster

Ausflug ins Grüne. Auf den Feldwegen, den Wiesen, zwischen den Bäumen verhalten sich die meisten vorbildlich: in deutlichem Abstand voneinander, kleine Cluster von nicht mehr als drei Personen, Familieneinheiten zumeist. Eine entspannte, friedliche Atmosphäre, Entspannung, Qualitytime. Wäre man nur hier, würde man sagen: Die zwangsweise Auszeit von denen, die in nicht notwendigen Berufen arbeiten, tut Gutes.

Das Bild ändert sich schon am Stadtrand, dort, wo die Einkaufszentren beginnen. Autokolonen schieben sich auf die und von den Parkplätzen. Die Menschen auf den Gehwegen sind wesentlich enger miteinander unterwegs. Und, ein drittes Ändern, abends bei der Pressekonferenz: Der erwartete Shutdown als neue Realität. Einrichtungen des öffentlichen Lebens schließen, dazu die meisten Geschäfte. Die Versicherung, dass Lebensmittel weiterhin jederzeit verfügbar sein werden. Wer auf die Länder schaut, die uns Tage, Wochen oder Monate voraus sind, muss diese Versicherung ernst nehmen. Und bei allen Hashtags zu #Klopapier, diesen Clips mit den kleinlichen Fights in Supermärkten über Klopapierpackungen, für die sich die Gezeigten sehr bald sehr schämen werden: anders als in Filmen und Serien brechen keine Straßenkämpfe und Plünderungen aus, keine eingeschlagenen Fensterscheiben und umgeworfenen Autos. Der Notstand als Normalfall.

Weiterhin in den unterschiedlichen Echoräumen unterschiedliche Bewertungen der Situation. Die, die seit Wochen warnen, sind die, die jetzt #Haushaltshilfe teilen oder Lesungen und Konzerte streamen, die sich als Gemeinschaft sehen, die konstruktive Vorschläge machen. Woanders Verschwörungstheorien, sehr absurde oder unkonkrete Vorstellungen, wer »dahinter« steckt oder zumindest Zweifel, ob alles wirklich so schlimm ist und wirklich so stimmt, wie »uns« das von »denen« gesagt wird.

Vielleicht erfassen jene, die empathischer sind, diese Situation anders/ernster als andere, vielleicht, weil der Virus – Stand jetzt – nur einen kleinen Teil der Menschen treffen wird und es eben darum geht, ob man diesen Schutz gemeinschaftlich angeht oder nicht. Wer sagt, ich bin nicht gefährdet, weshalb soll ich deshalb die Folgen mittragen, der wird die Situation anders bewerten als jene, die sich das Leid anderer vorstellen können. Sich dem zu stellen, ist eine grundlegende Frage an die Gesellschaft, an die Menschen überhaupt.

In den geschlossenen Wasserzoos laufen Pinguine durch die Besucherzonen. Für das erfolgreiche Bestehen einer CoronaVirusChallenge auf tiktok müssen Toilettenschüsseln abgeleckt werden. Idris Elba ist infiziert. Heute soll den unwissenden Big-Brother-Teilnehmern mitgeteilt werden, dass während ihrer Isolation eine Pandemie ausgebrochen ist. Im Horoskop einer Boulevardzeitung wird allen Steinzeichen empfohlen, zuhause zu bleiben. In Oberwiesenthal findet das Nacktrodeln wie geplant statt. Veranstalter Joachim Nöske begründete das Festhalten an der Veranstaltung gegenüber der Zeitung damit, dass das Virus keinen Alkohol vertrage – man habe es sozusagen bekämpft.

15. März | Bogen schlagen

Spaziergang im Park. Angesprochen werden von einem älteren Paar. Beim Reden steter Sicherheitsabstand, eine deutliche Lücke zwischen den Körpern. Es fühlt zugleich unsozial, falsch und verantwortungsvoll an. Sie erzählen von ihrer ersten Quarantäne, viele Jahrzehnte ist das her, Gelbsucht war es. Die Enkel und Urenkel sehen sie vorerst nicht mehr.

Im Park überhaupt Beklommenheit. Sonnenschein, Kinder spielen Fußball auf der Wiese, Gruppen schlendern. Ich fühle mich befremdet, wenn ich Menschen sehe, die sich nahe gegenüberstehen, Menschen zusammen auf ausgelegten Decken sitzend, Menschen in Gruppen größer als zwei. Um Menschen, die mich in viel zu nahem Abstand zu passieren drohen, schlage ich einen deutlichen Bogen, geben ihnen so zu verstehen, dass ich sie verdächtige, dass ich verdächtig bin.

Es sind keine guten Gefühle, diese ersten Gedanken beim Anblick von Menschen. Es sind notwendige Unterstellungen, ich hoffe, sie werden sich nach dem Ende dieser Zeit verflüchtigen und nicht bleiben, diese permanenten Anschuldigungen. Im Laufe des Tages flattern dutzende Fotos aus deutschen Großstädten, die Menschen in Straßencafés, beim engen Flanieren, beim Coronasaufen zeigen. Jedes Foto lässt die Kurve ansteigen und ich weiß, dass ich unbedingt lernen muss, den eigenen Informationszugang zu beschränken, dass ich nicht zu lange in dem stetigen Fluss von Eindrücken, Entwicklungen, Mutmaßungen und Prognosen eintauchen darf, um nicht darin unterzugehen.

Verabredung zu einer kleinen, privaten Hortgruppe, drei Kinder nach der losen Quarantäne. Das würde helfen. Homeoffice mit Kind ist natürlich nicht denkbar. Den Luxus, »sich jetzt mal an alle ungelesenen Bücher zu machen«, gibt es mit Kind nicht. Das Schreiben wird sich in den müden Abend verschieben.

Was sonst noch war: Aus italienischen Hospitals die Berichte über das einsame Sterben der Infizierten und wie Ärztinnen und Krankenschwestern ihre eigenen Handys den Patienten für ein letztes Skype mit den Angehörigen zur Verfügung stellen. Eine deutsche Firma, in die Dietmar Hopp investiert hat, macht Fortschritte bei der Entwicklung eines Impfstoffes, so erfolgreich, dass angeblich der amerikanische Präsident das lukrative Angebot gemacht hat, dass die Wissenschaftler das Serum exklusiv für den amerikanischen Markt herstellen soll. Am anderen Ende weigert sich eine amerikanische Firma, ihre Fortschritte mit China zu teilen, weil man später einmal auf 50$-100$ pro Impfeinheit hofft. IS spricht für ihre Terroristen angeblich eine Reisewarnung für Europa aus. Mithilfe einer fliegenden Drohne wird in einer kuwaitischen Stadt ein Versammlungsverbot verkündet, weshalb sich die Menschen unter der Drohne versammeln, um der Verkündung zu lauschen, die vor einer Versammlung warnt.

Die ersten Satiren auf italienischen Balkonvideos machen die Runde. Igor Levit spielt weiterhin jeden Abend ein Konzert im Stream. Im Stream finden Lesungen statt. Österreichische Boulevardzeitungen drucken auf der Titelseite Zettel für die #Haushaltshilfe; jüngere Hausbewohner bieten an, für die Risikogruppe einzukaufen. Deutschland schließt die Grenzen zu den umliegenden Ländern, der Shutdown, der in Österreich schon gilt, ist hier wohl nur wenige Tage entfernt. Und klar ist: all diese Maßnahmen werden frühestens in einer Woche Wirkung zeigen. Bis dahin werden sich die Zahlen der Infizierten alle 2,5 Tage verdoppeln, die der Toten…?

14. März | Was notwendiger ist

Gestern Mittag die Nachricht, dass alle Schulen und Kindergärten geschlossen werden. Im Kindergarten stehen dutzende blaue Müllsäcke, die Habseligkeiten der Kinder darin verstaut. Es herrscht eine Mischung aus notwendigem Reagieren und ungläubigen Staunen, passiert uns das jetzt wirklich? Die Erzieherinnen werden in den nächsten Wochen in der Pflege eingesetzt, um dort den Ausfall der Pflegerinnen mit Kindern zu kompensieren.

Später wird das diskutiert. Wer bleibt zuhause und kümmert sich um die Kinder? Der besserverdienende Vater? Die Mutter im notwendigerem Beruf? Was ist notwendiger? Was ist wie bezahlt? Weshalb ist das so? Möglicherweise gibt C19 die Gelegenheit, sich diesen Fragen nicht nur bewusst zu werden, sondern zukünftig anders zu beantworten.

In Eltern-WhatsApp-Gruppen werden Videos geteilt, die erklären, weshalb C19 eine Lüge sei und wer davon profitiere. Die Videos aus Italien, in denen Leute auf Balkonen stehend miteinander singen, sind Zeichen der Hoffnung, ich schaue sie so gern, wie ich Texte über Achtsamkeit und Entschleunigung lese. Ein anderes Video aus Italien zeigt eine Hand, die eine aktuelle Ausgabe der L’Eco di Bergamo umschlägt; nahezu jede Seite ist mit Todesanzeigen gefüllt.

Die britische Regierung will eine andere Strategie als die meisten anderen Länder fahren; kein »Flatten The Curve«, sondern eine Verbreitung forcieren, die andauern soll, bis eine britische Herdenimmunität erreicht ist. Fatal scheint eine Untertreibung. Ischgl und das Lokal Kitzloch entpuppt sich Ort vieler Ansteckungen. Informationen verbreiten sich, nach denen sich der brasilianische Präsident Bolsonaro infiziert haben soll. Zu dieser Info wird das Foto gepackt, das ihn und den amerikanischen Präsidenten beim Handschlag vor wenigen Tagen sehen, gewissermaßen dem Gegenteil des Wuhan Shake. Und: Shakespeare soll in Quarantäne König Lear geschrieben haben.

13. März | Angemessen ändert sich täglich

Weiterhin ein Nebeneinander von Sicht- und Unsichtbarkeit der Pandemie. Beim Einsammeln der Informationen vor den Screens ein weltumspannendes Bild sich verstärkender Ereignisse, das beim Eintritt vor die Haustür sofort abgelöst wird durch: ein Mann schiebt einen Kinderwagen durch den Park. Zwei Frauen laufen bei Rot über die Straße. Das DHL-Auto parkt auf dem Radweg. Ein Hund zerrt an einer Leine. Alles so wie immer.

Das Virus ist dabei nicht sichtbar. An sich wird es auch nicht sichtbar werden. Neunzig Prozent der Menschen werden wahrscheinlich davon körperlich nicht betroffen sein. Doch geht es um die zehn Prozent, auf die das nicht zutrifft. Und damit geht es um Solidarität. Halten die neunzig Prozent die Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen für die zehn Prozent nicht nur aus, sondern beschränken sie sich freiwillig, ohne Murren, werden aktiv, helfen?

Parallel zum Virus verbreitet sich das Wissen über den Virus. An dem, was schneller die Menschen erreicht, entscheidet sich Erfolg und Misserfolg. Ein Wettstreit zwischen denen, die »Panikmache, Hört doch mal auf mit dem Unsinn, Ich kanns net mehr hören« rufen und »Schließt die Schulen«. Erst wenn die Äußerungen der Zauderer mehrheitlich nicht mehr als akzeptabel gelten, ist klar, dass das Wissen schneller als der Virus war.

Eine Pressekonferenz der Kanzlerin zusammen mit dem bayrischen Ministerpräsidenten. Beide sitzen vor einem Hintergrund, der so blau wie ein unbespielter Blue Screen ist. Der Bundesadler ist nur in weißen Schemen zu erkennen. Eine solche Konferenz dient mehreren Zwecken: zu zeigen, dass die höchsten gewählten Vertreter des Staats sich einer Krise bewusst sind, das Vertrauen zu vermitteln, sie hätten die Fähigkeit, aktiv zu handeln, bestenfalls Kontrolle über die Situation, Informationen zu teilen und gemäß ihrer Autorität einen allgemeinen, aktuellen Konsens über die Bewertung der Situation abzubilden.

Angekündigt wird, dass die aktuellen bzw. in Kürze zu treffenden Maßnahmen bis Ende der Osterferien anhalten werden. Dann erst folgt die Entscheidung, ob das Runterfahren der Gesellschaft bestehen bleibt oder allmählich aufgelöst wird. So oder so: ab jetzt ist das Land auf Eis gelegt. Minimum ein Monat, im Podcast ist die Rede von September, davon, dass die Ausbreitung des Virus auch zwei Jahre dauern könnte. Angemessen ändert sich täglich, wird an einer Stelle gesagt.

Ein Monat, mehrere Monate auf Eis. Man wird ein neues Leben probieren müssen, eine andere Art von Zusammensein. Das muss nicht zwangsläufig Schlechtes bringen. Es kann auch eine Chance sein. Alternativen zum gegenwärtigen Handeln lassen sich so probieren und in der irgendwann wieder zurückkehrenden Normalität als Standards durchsetzen. Vielleicht folgt aus den Coronamonaten eine veränderte Einstellung zu Arbeit, Mobilität, Globalisierung, Ökonomie, Kommunikation, öffentlicher Diskussion, zu Medien und wie diese Informationen vermitteln sollten.

Dass es bis dahin ein weiter Weg ist, zeigt die erste Pressefrage. Diese zielt auf das Oktoberfest, ist von der Sorge getragen, ob es stattfinden kann. Dadurch wird deutlich: Vielen wird der Ernst der Lage nicht durch eine Pressekonferenz der Kanzlerin bewusst, sondern vermutlich erst durch die Absage der Bundesliga.

Hilfreich auch, dass die Führungsperson nicht aus, sagen wir mal, dem Immobiliengeschäft kommt oder Aufsichtsratsvorsitzender einer Investmentgesellschaft war, sondern aus der Wissenschaft stammt und daher mit wissenschaftlichem Denken vertraut ist. Und, ein weiterer Gedanke: Bei all den verkündeten Absichten, den Plänen, den Verweisen auf das verhältnismäßig gut vorbereitete deutsche Gesundheitssystem wird deutlich, dass man sich im Zweifelsfall auf die vermeintlich eigene Gruppe zurückzieht. Staat, Stadt, Freunde, Familie – am Ende wird die Gruppe immer kleiner, man sammelt sich um wenige.

Was sonst noch ist: Hier in der Stadt dürfen Fahrgäste nicht mehr vorn im Bus einsteigen. Es gibt grünes Licht, bestimmte öffentliche Einrichtungen zu schließen. Noch halten sich die Verantwortlichen mit einer Entscheidung zurück. Doch wird sehr wahrscheinlich ab nächster Woche flächendeckend die Schließung von Schulen und Kindergärten stattfinden.

In Thailand rebellieren hungrige Affen, weil die Touristen, die die Tiere sonst gefüttert haben, ausbleiben. Ein Fernsehpfarrer versucht Corona mit einem Telegottesdienst zu heilen. Trump verhängt einen Einreisestopp für Europa, dennoch kommen bis zur Umsetzung Reisende aus Europa ohne Kontrollen ins Land. Eine amerikanische Politikerin trotzt einem Entscheidungsträger kostenlose Tests für alle Amerikaner ab. Die Insassen der aktuellen Big-Brother-Staffel wissen nichts von der Pandemie. Tom Hanks und Rita Wilson sind die ersten prominenten Coronapatienten. Trudeau geht in Quarantäne, Bolsonaro trägt eine Atemschutzmaske. Die Information, dass Isaac Newton 1665 während des Homeoffices wegen der Pest die Gravitationskräfte entdeckt hat.

12. März | Frühling

Nach Tagen des Regens Sonnenschein. Verliebt gurren Tauben in den Baumkronen. So ist Frühling und so fühlt es sich an, jedenfalls so lange, bis die Gedanken vorwärtspreschen zu dem, was sehr erwartbar ab nächster Woche an diesen Orten sein wird. Es ist von zukünftiger Quarantäne und ähnlichen Krankenhaussituationen wie in Italien auszugehen, von den Protokollen, nach denen die Verteilung der Beatmungsgeräte stattfinden wird.

Im Podcast der erschreckende Satz: Die Infizierten von heute sind die Toten von morgen. Eine Naturkatastrophe in Zeitlupe. Damit gibt uns die Natur – im Gegensatz zu Italien – die Chance zu handeln. Sag alles ab. Aber kein Lockdown in Schulen, weil Kitas/Schulen im Gegensatz zu der »normalen« Grippe keine Hot-Spots sind, weil wir bei Corona alle Kinder sind d.h. nicht immun dagegen. Und, durchaus überraschend: Es wird wohl gerade ein bestehendes Medikament getestet, das anscheinend in bestimmten Maßen schon mal helfen könnte.

Im Spanische-Grippe-Buch lese ich von entsetzlichen Szenen, von Leichen, die aus Fenstern geworfen worden, von »hinabgesprungenen« Kindern, von Max Weber, der an der Grippe starb, von C.G. Jung und einem Lager für britische Offiziere in einem Schweizer Bergdorf, von Kafka, der Veränderung der Hautfarbe bei Sterbenden, vom Truppentransporter Leviathan und Decks glitschig von Blut.

11. März | Plot Twist Amerika

Vorwahl in Amerika. Der aktuelle Präsident reagiert auf erwartbare Weise auf die kommende Krise: Leugnen eines Sachverhalts, Lügen, Beschuldigung anderer zu lügen, maximale Überhöhung der eigenen Kompetenz. Das ist wie so vieles bei Trump sehr unterhaltsam und wie das meiste bei Trump ist es fatal.

Sehr wahrscheinlich ist, dass der Ausbruch die Vereinigten Staaten auch aufgrund des desolaten Krankenversicherungssystems, welches Erkrankte zum Weiterarbeiten zwingt, stark treffen wird. Gleichzeitig wird der Präsident, wenn er denn erst einmal Gefallen an der Rolle des Krisenmanagers gefunden hat, sehr radikale Maßnahmen verhängen, nicht unbedingt die besten, aber eben solche, die ihn als Akteur präsentieren.

Ein ambivalentes Gefühl: Einerseits die heimliche Hoffnung, dass der Präsident scheitern wird mit seinem Krisenmanagement und der Virus ihn damit bei dem entscheidenden Prozentsatz der Wähler als den inkompetenten, schrecklichen Menschen entlarvt, der er ist und damit seine Wiederwahl verhindert. Zugleich natürlich das Wissen um die Katastrophe, die ein solches Versagen um ein Vielfaches schrecklicher machen würde.

Und – auch noch so ein unschicklicher Gedanke – die drei Bewerber um das Amt des Präsidenten gehören zur Hochrisikogruppe, teils mit Vorerkrankungen, haben Kontakt mit vielen Menschen. Was, wenn es dahingehend noch einen weiteren Plot Twist geben sollte, zusätzlich zu dem gravierenden Einfluss, den das Virus auf den Wahlkampf ohnehin haben wird?

10. März | Drosten

Der Podcast mit dem Virologen Prof. Dr. Christian Drosten wird zu einem täglichen Ritual. Üblicherweise höre ich keine Podcasts, stillliegen kann ich nur, wenn ich schlafe oder die neue Platte von Soccer Mommy höre. Hier ist es anders: die halbe Stunde, in der der Virologe unterschiedliche Aspekte einer Pandemie erläutert, dient der Vermehrung des Wissens und das scheint – neben dem Händewaschen (und Quarantäne) – der effizienteste persönliche Schutz zu sein. Die Verbreitung eines Virus folgt einer eigenen Logik (siehe auch: Plague Inc.). Und diese zu verstehen, hilft zu verstehen, was geschehen ist und – wichtiger noch – geschehen wird. Es geht um das Lesen von Zahlen und Graphen, um behördliche Abläufe, um die Art, wie Mediziner arbeiten, wie Informationen von Experten eingeschätzt und gewichtet werden. Und eben geht es auch darum, welche Informationen wie verbreitet werden, um eine Verhaltensveränderung in der Bevölkerung hervorzurufen.

Das Format ist ein gutes, dreißig Minuten Konzentration auf eine Sache, trotz mancher Wiederholung jedes Mal einen Aspekt gezeigt bekommen, der den Verlauf in ein neues Licht rückt. Interessant auch, dass der Podcast zu einer Standardquelle zu werden scheint, Dr. Drosten durch Ruhe und Nüchternheit eine Autorität zukommt, von der es scheint, dass niemand anders die gerade so ausfüllen könnte. Wem anders als einem Virologen sollte in der drohenden Pandemie besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden?

Es gibt Übersteigerungen, Drosten wird zu einer popkulturellen Figur (nicht dass Popkultur bei einer Pandemie eine besondere Relevanz hätte). Dax Werner twittert: Es gibt nur einen Gott: Wieler Drosten Spahn. Ein Video von einem Treffen mehrerer Menschen, die sich als Schlümpfe verkleidet haben, geht rund.

09. März | Flatten the Curve

Jetzt verstehe ich: Es geht nicht darum, die Ausbreitung zu verhindern – diese wird sehr wahrscheinlich geschehen und sehr viele werden sich anstecken – sondern die Ausbreitung zu verlangsamen, damit die Anzahl der Infizierten das Krankensystem nicht lahmlegt. Eigentlich eine sehr logische Überlegung und erstaunlich, dass sie bisher nicht präsent war. Flatten the curve, halte den Ausschlag der Kurve niedrig, ist das Schlagwort.

Im Spanische-Grippe-Buch lese ich von der Keimtheorie und dass diese für viele lange nicht überzeugend war, weil man annahm, Götter verursachen Krankheiten. Das Händewaschenmeme, eine Handlungsanweisung zum Waschen unterlegt mit einem individuell ausgewählten Liedtext, wird vielfach geteilt.

Eine Twitterin schreibt: »Wirklich erschütternd fand ich jetzt bei Corona auch die allgemeine Empörung darüber, dass alte Menschen sterben. Einer der natürlichsten und für die Population gesündestens Vorgänge der Welt, das Sterben alter Individuen, wird plötzlich zu einer Ungeheuerlichkeit.« und »Die Überbevölkerung der Welt ist übrigens die nächste Müllschwemme. Die Menschen in 100 Jahren werden sich fragen, wie wir es so weit haben kommen lassen. Wir wir nur alles daran gesetzt haben, dass immer alle überleben, obwohl heute schon die Kapazitätsgrenze absehbar war.«

Umgehend die Gegenrede, zurecht der Verweis auf Biologismus und zugleich die übliche Dynamik im öffentlichen Gespräch; maßlos überzogene Reaktionen, ab einem bestimmten Punkt eine klar gesteuerte, instrumentalisierte Diskursführung. Um bei der Metapher im Thema zu bleiben: Dabei gesund zu bleiben, bedeutet, in Quarantäne zu gehen.

08. März | Ausbreitungskarte

Immer noch weit weg von Panik. Aber der anfängliche Gedanke, das nicht der Virus die Dystopie ist, sondern überzogene Panik in Gesellschaft die eigentliche Gefahr ist, korrigiert sich durch die Geschehnisse. Der Virus hat Auswirkungen und wird sie haben und dass auf alle Bereiche des Lebens. Natürlich bedeutet das massive Veränderungen.

Seit einigen Tagen täglich ein Klick auf die Ausbreitungskarte. Und damit allmählich auch ein klareres, fundierteres Bild. Heute ist der aktuelle Stand: Vermutlich wird es keine Abschwächung im Sommer geben. Die »Durchseuchung« der Bevölkerung ist nicht wirklich aufzuhalten. Vorrangig gilt es jetzt die Risikogruppen vor Ansteckung zu schützen – Vorerkrankte und Ältere. Empfohlen wird Absage aller großen Veranstaltungen. Und – auch familiären Kontakt zu älteren Familienmitgliedern stark zu beschränken, Stichwort Kinderbetreuung. Bis September.

Dazu Italien im Lockdown. Es ist klar, dass ähnliches, plus minus tragischer-dramatischer, auch hier geschehen wird. Eine unwirkliche Vorstellung. Alles geht seinen Gang, in den Talkshows wird gesessen und im Markt gibt es tiefgekühlte Ravioli zu kaufen. Zu wissen, dass nächste Woche schon Quarantäne verordnet sein könnte, ist eine anderer Realität.

7. März | Spanische Grippe

Dem Gutes abgewinnen. Der Virus bringt mich dazu, endlich 1918. Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte von Laura Spinney zu lesen, ich schiebe die Lektüre seit zwei Jahren vor mir hier. Das Buch beschreibt Verlauf und Auswirkung der Influenza, die bis zu hundert Millionen Menschenleben kostete und in der öffentlichen Wahrnehmung eher Fußnote als Katastrophe ist. Natürlich lässt sich beides – Corona und Spanische Grippe – nicht einfach so nebeneinanderstellen, ebenso wenig wie man die Verhältnisse der Weimarer Republik auf heute übertragen kann. Aber sicher wird es Parallelen geben, ähnliche Dynamiken und Muster, die für beides gilt.

Ich lerne, dass das Wort EPIDEMIE zuerst von Hippokrates im medizinischen Sinn verwendet wurde, »im ganzen Volk« bedeutet es. Davor galt der Begriff für Phänomene, die sich im gesamten Land ausbreiten; Nebel, Gerüchte, Bürgerkriege. Seit 412 v. Chr. eben auch Viren.

6. März | Wuhan Shake

Besuch einer Ausstellungseröffnung. Erstmals ein gemeinschaftlicher Konsens darüber, sich nicht die Hände zu schütteln. War das Verweigern des Handschlags davor mit Irritationen beim Gegenüber verbunden bzw. habe ich dann doch nach einigem Zögern die Hand gegeben, um sozial zu erscheinen, ist das jetzt anders: Wir halten Abstand. Begleitet von ironischen Kommentaren, man lacht darüber, verweist auf den Ellbow Bump oder den Wuhan Shake und tätschelt sich zärtlich mit Schuhspitzen oder kreuzt die Arme vor der Brust und deutet eine höfliche Verbeugung an. Damit überspielen wir das Unbehagen, einer sozialen Gepflogenheit nicht zu entsprechen, auch die Unsicherheit, ob es wirklich schon so weit ist, solch radikale Schritte gehen zu müssen. Ich erinnere mich an die Diskussion von 2015/2016 über den Handschlag als notwendige Kriterium, um als »Deutscher« gelten zu dürfen.

5. März | Horten

Ich lese einen Artikel über einen Jungunternehmer aus Sandhausen, der Anfang Januar für einen fünfstelligen Betrag Atemschutzmasken aufkaufte und heute für das zigfache des Preises an Krankenhäuser und Privatpersonen verkauft. Ökonomisch ist das vollkommen akzeptabel, moralisch eine Bankrotterklärung. Ich frage, ob er im Rückblick das Gesicht sein wird für den Widerspruch Kapitalismus –> Gesellschaft.

4. März | Buchmesse

Im Briefkasten liegt die Eintrittskarte für die Leipziger Buchmesse. »Wir freuen uns auf das Gespräch mit Ihnen« steht dort. Nächsten Sonntag habe ich auf der Leseinsel Religion eine Veranstaltung; Lesung, Gespräch, Dorffotos zeigen. Bzw. hätte. Eben wurde die Messe komplett abgesagt. Eine vollkommen korrekte Entscheidung natürlich, eine, die auch zu ahnen war.

Tage vorher schon die Überlegung, ob ich überhaupt hinfahren möchte. Nach jeder Messe bisher die Rückkehr mit Schnupfen, 300000 Menschen aus aller Welt drängen durch mäßig belüftete Hallen, what could possibly go wrong. Nach der KNV-Insolvenz im letzten Jahr der nächste gravierende Einschnitt für die Verlage, gerade für die kleineren. Einige Bekannte haben gerade Bücher veröffentlich, darunter Debüts. Die geringere Sichtbarkeit wird Folgen haben. Für das Perlenkettenbuch stehen ab Mitte März einige Lesungen an. Sie sind vorwiegend im ländlichen Raum, ich gehe davon aus, dass sie stattfinden. Eine Absage würde einen finanziellen Verlust bedeuten.

Gut auch, dass heute in Thüringen ein Ministerpräsident gewählt wurde. Damit wäre das Land im Krisenfall handlungsfähig.

02. März | DAX

Man muss natürlich lustig machen /entsetzt sein über die Leute, die bei einer Virusepidemie zuerst an den DAX denken. Wie hoch ist der Kursverlust vs. Wie viele Menschen werden sich infizieren/sterben. Natürlich kann es da nur eine Seite geben. Und natürlich wäre es naiv anzunehmen, die Auswirkungen eine Epidemie auf die Wirtschaft hätten keine Auswirkungen auf das Leben aller. Die Frage wird sein: Wo liegt die Priorisierung? Oder besser: Ab welchem Zeitpunkt wechselt diese?

01. März | Angst I

Habe ich Angst? Die Frage kann ich recht klar beantworten: Nein.

29. Februar | Indien in der Rhön

Gestern eine Lesung in einem kleinen Dorf in der Rhön, 65 Einwohner. Der Ort liegt am Ende eines Tals, nur eine Straße führt hinein. Schnee ist gefallen, die Welt ist still und sehr weit weg. Der Ort selbst scheint von Haus aus schon in Quarantäne zu liegen. Hier sind wir sicher. Aber natürlich: Wir sind hier.

Wir sind eine Stunde gefahren, kommen aus einem anderen Landstrich, können den Erreger längst in uns tragen und genau an diesem Abend verbreiten. Einer der Anwesenden hat heute ein Auto aus Fürstenwald geholt, 130 km entfernt liegt das. Wie könnte man annehmen, ein Ort wäre geschützt? Nach der Lesung sitzen wir mit dem katholischen Pfarrer zusammen. Er stammt aus Indien, ist letztes Jahr nach Deutschland auf Mission gekommen. Wir sprechen über das Kastensystem, die aktuellen, politisch initiierten Morde an Muslimen, von Schlangen am Feldrand, Tamil, ein kleines Dorf am Ende eines Tals, mitten in der Welt.

26. Februar | Händewaschen

Das Bedürfnis ist da, sich über Händewaschen zu informieren. Eigentlich sollte es ja bekannt sein, wie man sich die Hände ordentlich reinigt. Offensichtlich ist das doch etwas komplizierter. Ich sehe das Video einer iranischen Ärztin, die ihre Hände mit Farbe einreibt und daran zeigt, welche Stellen man leicht übergeht (Handrücken, Fingerzwischenräume, Fingernägel). Faust(!)regel: dreißig Sekunden einseifen, reiben, abwaschen. Nehme mir vor, dies – anders als nach Zahnarztbesuchen, nach denen man sich aus schlechtem Gewissen vornimmt jetzt, aber wirklich jedes Mal gründlich zu putzen und dieser Vorsatz dann doch im Alltag verloren geht – umzusetzen.

25. Februar | Atemschutzmasken

Zumindest ein Informieren über Atemschutzmasken. Weder schützen sie mich oder andere. Erst ab einer bestimmten Preisklasse entsteht ein gewisser Schutz. Die Atemschutzmasken aus Papier verhindern höchstens, dass man sich ins Gesicht fasst und damit Krankheitserreger von der Hand an Mund oder Tränenkanal überträgt. Ich denke an die Fotos der letzten Wochen, mit denen der Coronaausbruch in Wuhan, wie überhaupt die meisten Texte über Viren, bebildert werden: Menschen mit Atemmasken. Was die Fotos damit sagen: So ist Schutz eine Illusion.

24. Februar | Scham

Ich stehe vor der Apothekerin und schäme mich. Eben habe ich nach Atemschutzmasken gefragt. Ihr Blick scheint zu sagen: »Wieder einer von denen.« Sie meint, sie habe zwei Marken im Angebot und beide würden nicht vor einer Infektion schützen. Wofür ich die denn brauche? Wegen der Grippe und dass man sich zuhause nicht ansteckt, Kleinkind, Sie verstehen, lüge ich, weil es selbstverständlich um Corona geht.

An diesem Morgen habe ich Hamsterkäufe beschlossen. Ich las von Wuhan, welches immer noch genauso weit weg ist wie seit einigen Wochen und ich las von Italien, was viel näher liegt und las Einschätzungen von Experten und musste zu dem Schluss kommen, dass die Veränderung der Situation hier sehr wahrscheinlich ist. Daraus die Folgerung, für eine mögliche Verknappung von Lebensmitteln gerüstet sein zu müssen, ergo Hamsterkäufe, auch in medizinischer Hinsicht.

Nun stehe ich der Apothekerin gegenüber und weiß, dass ich im Grunde nicht bereit dafür bin. Intellektuell und emotional. Ich weiß kaum etwas über die Funktionsweise von Atemschutzmasken und fühle mich wie ein Prepper, ein Panikmacher, einer, der Lust hat an der Katastrophe. Schließlich nehme ich einen 10er Pack der günstigen Marke, dazu eine kleine Packung Desinfektionstücher und verlasse die Apotheke.

Anschließend im Supermarkt erscheint mir das Vorhaben weiterhin absurd. Soll ich tatsächlich Toilettenpapier, Reissäcke und 25kg Mehl in den Wagen packen? Ich stehe vor den Dosensuppen und denke: Wenn ich falsch liege, dann werde ich das nächste halbe Jahr schlechte Gulaschsuppe essen müssen. Der Form halber kaufe ich zwei Packungen Spagetti und ansonsten leicht verderbliche Nahrungsmittel, die innerhalb zwei Wochen verzehrt werden müssen. Um die Inkonsequenz perfekt zu machen, gehe ich nachmittags erst zu einem Kinderfasching und anschließend auf ein Konzert ins Theater.

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