I. Sachsenscham
Mitte der 1990er Jahre begriff ich, dass ich mich für meine Heimat schämen sollte. Es muss Harald Schmidt gewesen sein, er imitierte in seinem Stand-Up das, was er als sächsischen Dialekt vermutete und die Leute lachten, die Pointe hatte nichts mit Sachsen zu tun, es ging irgendwie um das, was Schmidt später als Unterschicht bezeichnen sollte, ein bisschen Assi, ein bisschen zurückgeblieben, auf ordinäre Weise unterbelichtet, das war die Pointe, deshalb lachten die Leute und um dieses Lachen zu erzeugen, brauchte es nur das Sprechen meiner Heimat.
Ich hatte mir zuvor nie wirklich Gedanken darüber gemacht. Familie im Erzgebirge, Familie im Vogtland, Freunde bei Leipzig und Dresden, ich lebte in Westsachsen – das eine Sächsisch gab es nicht, und ich stellte fest, dass es das doch gab, in der Vorstellung anderer gab es das und dieses Sächsisch hatte einen Ruf, übel war der, und damit war nicht das »übelst« gemeint, das meine Freunde immer dem voranstellten, was sie besonders gut fanden.
Als ich wegging aus meiner Heimat, dort, wo ich nun war, sprach ich Hochdeutsch, oder zumindest das, was dafür hingenommen wurde, auch wenn sich bei bestimmten Wörtern verräterische Laute einschlichen. Wer sich bemühte, konnte in meinem Sprechen noch immer meine Herkunft hören, aber Harald Schmidt hätte mein Sprechen nicht mehr so ohne Weiteres zum Zentrum seiner Punchlines machen können.
Mit dem Abstand zum Sprechen kam der Abstand zum Land oder auch umgedreht, und vielleicht hätte sich das mit der Scham irgendwann erledigt und wäre zur üblichen Melancholie, vielleicht Sehnsucht geworden, mit der man später die Heimat seiner Kindheit und Jugend betrachtet, hätten sich nicht ereignet: Zwickau, Freital, Heidenau, Bautzen, Zittau, Schneeberg, Chemnitz, Dresden, immer wieder Dresden, Pegida, NSU, Freie Sachsen, AfD 30%, SSS, usw. Sachsen wurde deutschlandweit akzeptiertes Synonym für Dunkeldeutschland, nicht in Worten nur, auch in Taten, gerade in Taten, pauschal zu erkennen, zu teilen, zu beurteilen.
So war es und anderswo fand es auch statt, bestimmte Anhänger von Borussia Dortmund unterschieden sich kein bisschen von denen von Dynamo und HoGeSa marschierten in Köln und am 17. August wird im fränkischen Wunsiedel marschiert und Schnellroda liegt in Sachsen-Anhalt und Nordkreuz in Meck-Pom und Thüringen ist sowieso vollgepflastert mit Goldenen Löwen.
Aber irgendwie war es so, dass eine Tat in Sachsen sinnbildhaft stand für ein ganzes Bundesland, Charakterbeweis war für vier Millionen, sächsisch als dunkeldumpfe Mentalität und vielleicht gab und gibt es dieses Systemische, natürlich muss das so sein, eine Vielzahl von Gründen und Historien und Strukturen in Politik, Polizei, damals König Kurt, das Einigeln in den Berglandschaften. Jedenfalls ist sächsisch auch symbolisch, egal, wie komplex und differenziert ich darüber nachdenken möchte.
Wie verhält man sich einem Symbol gegenüber? Wie verhält man sich, wenn man aus diesem Symbol stammt, dort Jahrzehnte verbracht hat, viele der Geschichten kennt, die das Symbol widerlegen und all jene, die es bestätigen?
Vielleicht ist es so: Wenn ich in Sachsen war, fragte ich nach letzteren. Ansonsten erzählte ich von den anderen Geschichten, berichtete von denen, die im Gegensatz zu mir geblieben waren, manche auch dagegenstellen. Und nun klaube ich für einen Text über Heimat, dieses vollgestopfte und damit entleerte Wort Heimat, über meine Heimat, die nun mal Sachsen ist, Texte und Gedankenfetzen aus fünfzehn Jahren zusammen, bereite eine Mische zu, die nichts beantworten kann, sondern Sammlung ist, nur Sammlung, unvollständig, subjektive Ausschnitte, die gerade so an der Oberfläche von Erinnerungen kratzen, um irgendwie anfangen zu können.
II. Stadt der Antiquitätenläden
Der Werdauer Bahnhof ist ein auf gute Weise verschwenderischer Bau, errichtet vor fast 180 Jahren, mit stuckverziertem Speisesaal, eigen, ornamentreich. Heute riecht es hier nach Urin, Scheiben sind eingeschlagen, an die Wände haben Jugendliche »Ich hasse Jennifer« oder »Sex« gekritzelt. Buchladen, Imbiss, Fahrkartenschalter – alles schloss irgendwann.
Vom Bahnhof führt eine Straße hinab ins Zentrum. Eine Zeit lang standen dort hauptsächlich Antiquitätenläden. Sie hießen An- und Verkauf, Trendartikel, SecondHandShop oder Ramschkiste. In ihren Schaufenstern lagen Kommoden, Lampenschirme, Babypuppen, Postkarten, Radkappen, Nägel oder Schallplatten von Boney M. Damals dachte ich, dass neben den 1-Euro-Läden die Antiquitätengeschäfte noch die einzigen Händler meiner Heimatstadt wären. Ich dachte: Vielleicht verkaufen sie sich ihre Antiquitäten gegenseitig. Auf den Heckfenstern der leeren Busse klebte ein Spruch des Gewerbeverbunds: »Fahr nicht fort / Kauf im Ort«.
Diese Stadt, meine Geburtsstadt, ist nicht klein. Aber sie war einmal größer. Fabriken gab es hier, Gaststätten, alle im Plural. Später waren Schaufenster mit Sperrholzplatten geschützt, Häuser eingezäunt, der Gehweg davor gesperrt, die Einsturzgefahr hoch. Würde man jedes leerstehende Haus der Hauptstraße abreißen, würde sie an die Zahnreihe eines müden, viel zu oft geschlagenen Boxers erinnern.
Ich sehe die Straßenkreuzung, auf der ein LKW in ein Auto raste und ein Mädchen auf dem Weg zur Schule tötete. Ich sehe den Hügel, wo die Brauerei stand, und wie viele kenne ich die Mutmaßungen darüber, wer sie in Brand gesteckt haben soll. Ich sehe den Mann mit dem Feuermal im Gesicht, dem die Kinder nachlachen. Vor vielen Jahren ist er auch schon durch die Straßen gehumpelt und damals haben wir mit den Fingern auf ihn gezeigt. Ich weiß, was wir über den Mann sagten, der in seiner hinteren Hosentasche immer einen Kamm trug. Ich habe mich niemals mit ihm unterhalten. Ich höre die alten Leute erzählen, dass dort, wo heute der Supermarkt steht, 1941 ein Fleischer war. Ich könnte den Erstbesten ansprechen und obwohl wir uns nicht kennen würden, könnten wir zwei Stunden über meinen Heimatort reden.
Es sind andere Augen, mit denen ich heute auf das Graffiti an den Wänden schaue, über das die Lokalzeitung so oft wütende Artikel geschrieben hatte. Auch das Graffiti schaut mich anders an. Es weiß nicht so genau, wo es mich einzuordnen hat. In diesen Ort? Bin ich nicht viel zu lange schon weg? Lebe ich nicht schon länger woanders, als ich je hier gelebt habe? Habe ich überhaupt noch das Recht, über diese Stadt zu schreiben? Ist sie wirklich noch Heimatstadt oder längst Erinnerung und alles, was ich heute sehe, beziehe ich auf ein Gestern? Ist dieser Blick nicht unfair gegenüber der Gegenwart, den Menschen heute? Gibt es wirklich noch Sperrholzplatten vor den Geschäften und wenn ja, warum schreibe ich am Anfang dieses Textteils ausgerechnet darüber? Was schreibe ich über dieses Werdau, das vor dreißig Jahren existierte und heute immer noch?
Es ist keine Sinnsuche, der Weg vorbei an diesen Plätzen, die getränkt sind mit vergangenen Gerüchen und Ängsten und Sehnsüchten. Zuhause ist ein Ort mit verschiedenen Zeiten. Es ist immer gestern und auch deshalb kommt man zurück. Mit jedem Wiederkommen wächst der Ort, unsichtbar, nur für mich selbst, aber er wächst unaufhörlich.
III. Mit Fengari in der Mitropa zu Weihnachten
Es gab keine Plakate, keine Flyer, keinen Post auf Facebook. Nur Textnachrichten, Telefonate, von Mund zu Mund haben wir die Kunde von diesem Abend verbreitet; die Weggezogenen kommen über Weihnachten zurück in die alte Stadt, treffen sich in der lange schon geschlossenen Mitropa im Bahnhof. Fengari soll spielen, ihre Mixe fünfzehn Jahre alt.
Es ist nur halb erlaubt, hier zu sein und das macht auch den Reiz aus. Die Schlösser an den Ketten zu knacken, die schweren Türen so zu öffnen, dass sich die Leute vom Amt später wundern, dass sie sich überhaupt öffnen ließen. Ein bisschen wild sein, ein bisschen wie gestern sein, einen Ort für eine Nacht zu einem eigenen zu machen. Wir wollen nichts zerstören, nicht »Sex« an die Wände der Bahnhofshalle schreiben oder Scheiben einwerfen. Wir wollen der Stadt nichts Böses. Wir wollen feiern, dass die Stadt und wir unfreiwillig ein Bündnis eingegangen waren und wir alle das Beste daraus machen mussten.
Jetzt spielt es keine Rolle, wie die Stadt über uns denkt. Wie wir über sie dachten. Gerade gibt es die, die tanzen. Die Beats sind klar und schnell, viele Höhen, viele Drops, das, was man damals als Drop verstand. Mehr noch reden miteinander. So viel Leben ist passiert seit damals. Jeder von uns ist etwas geworden. Heute, hier und jetzt hat es den Anschein, als passt das meiste, was geschehen ist, zu dem, dem es geschehen ist.
In der Mitropa bei Fengari befindet sich eine Zeitmaschine in die Vergangenheit. Vor dem Bahnhof ist die Gegenwart. Vor dem Bahnhofsgebäude, bei den Bushaltestellen steht eine Gruppe von Teenagern. Sie sehen, wie wir in diese Zeitmaschine einsteigen. Die Teenager finden seltsam, was passiert, finden uns bizarr; diese Alten, diese Musik, diese Umarmungen, dieses Erinnern, dieses peinliche Drogennehmen, diese wenigeren Haare, diese selige Nostalgie. Die Teenager sind erstaunt, dass an diesem toten Ort etwas stattfindet und sind euphorisiert davon, alles besser als diese Stadt, selbst Fengari in der Mitropa, und sie geben sich alle Mühe, sich diese verwirrende Vielzahl an Gefühlen nicht anmerken zu lassen, sie schreien, sie stoßen sich, küssen, trinken und rennen irgendwann weg, die Straßen hinunter.
In fünfzig, in siebzig Jahren werden wir gestorben sein. Eine von uns wird die letzte sein. Niemand sonst wird dann mehr in diesen Stunden in dieser Nacht hier im Bahnhof gewesen sein. Niemand sonst wird davon berichten können. Niemand wird verstehen können, wie es war, mit Fengari in der Mitropa zu Weihnachten.
IV. Versuch keiner Verletzung
Wie kann ich von dir erzählen, ohne mich und dich zu verletzen, so viele Momente bisher mit dir, bist die Hauptstraße, die benannt ist nach einem sozialdemokratischen Arbeiterführer, bist die Tattoostudios und Piercingbuden zu ihrer Rechten, bist das neugemachte Verkehrskreisel, bist die Steuermittel aus dem Solidaritätszuschlag, die in all die gepflasterten Gehwege geflossen sind, bist die ehemaligen ABM-Kräfte, bist die Arbeitslosen, die sich vor dem Penny treffen, bist die Pilze, Pillen, Bongs, bist die Amstaff-Trainingsanzüge, die Life-is-Pain-Cargohosen und die Kampfhunde, bist das Capri und all die Dates, bist der Atheismus, den wir mit der Muttermilch aufgesogen haben, bist das unverblümte Ablehnen, bist das Wehklagen, das Wegducken, das Immer-etwas-kleiner-machen-als-man-ist, bist das Nichthochdeutsche in jedem deiner Wörter, bist die wunderschönen Wörter, die dabei entstehen und dass woanders diese Schönheit verlacht wird, bist du Vogel, ich poch dir vorn Hals, bist das Einwandfrei als höchstes deiner Lobesworte, bist die Roulade mit Speck zu Weihnachten, bist das Grillen und dass du für jeden eine Roster bereithältst, eigentlich für jeden zwei und für die Nichte sogar in Alufolie gewickeltes Gemüse, bist die Orte, zu denen man als Linker nicht hingegangen ist, bist die Plattenbausiedlung, deren Fassaden mit bunten Farben angestrichen sind, bist die andere Plattenbausiedlung, deren Fassaden mit Bildern blumenkranztragender Frauen bemalt sind, bist die Subwoofer der Skodas abends an den Tankstellen, bist die Powerchords der Onkelz aus heruntergefahrenen Autofenstern, bist, dass niemand Berühmtes hier geboren wurde und niemand wirklich Berühmtes hier gewesen ist außer Dieter Bohlen vor vierzig Jahren im Stadtpark, bist, dass hier nur selten der Bürgermeister ein zweites Mal gewählt wird, bist das Zaudern, bist die Wachsschürzen der Großmütter, die Werkzeugkeller der Großväter, bist die abgerissene Freilichtbühne am Roten Berg, bist die lange Zeit verlassene Voliere, weil jemand die Vögel darin vergiftet hat, bist die bunten Wägelchen, in denen Kindergärtnerinnen die Einjährigen vormittags am exquisiten Fischladen vorbeiziehen, bist die Garagen, die sich die Jugendlichen gemietet haben, um darin für sich zu sein, bist die Abendgarderobe der Rathauskonzerte, bist der eingeübte Disco-Fox auf dem Abiball, bist die Rapsfelder, die dich im Mai umschließen, bist die Zeit der Villabesitzer, seit der über hundert Jahre vergangen ist, bist die Geschichte meiner Familie, meiner Freunde und guten Nachbarn, jeder Augenblick von Wichtigkeit, bist die Normalität, das, was du für normal hältst, bist, dass ich jedem von außerhalb erklären muss, woher ich stamme, oder ich sage: »bei Zwickau«, bist die Geschäfte, die Pakete annehmen, weil du keine Post mehr hast, bist die Umleitungen, die ein Jahr lang umleiten, bist die Sportplätze bei den Eisenbahnschienen, bist das Hallenbad, das auf dem Gelände des zugeschütteten Freibads steht, bist die grandiosen Rodelhügel, bist Friedhof meiner Vorfahren, bist Geschichte und ringst darum, weiter eine zu haben, bist eine Pop-Up-Kunstausstellung im ehemaligen Aerocitwerk, bist Bleiben und Weggang, bist Amtsblatt und Bierfassanstich, bist die WhatsApp-Gruppe, mit der Müllwegräumaktionen organisiert werden, bist die bunten Plastikostereier, die an den Brunnen am Markt gehangen werden und wenn Vandalen sie abreißen, hängst du sie trotzig ein zweites Mal auf, bist der Pilzpfannenverkäufer auf dem Straßenfest, bist das gut geführte Hotel, dessen Veranstaltungsräume an den Wochenenden mit Jubiläumsfeiern und Ehemaligentreffen voll belegt sind, bist, dass jeder Neubau mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Seniorenheim ist, bist der eine Sportverein, der für ein paar Jahre in einer zweiten Liga gewesen ist, bist, dass du mich kennst wie kein anderer Ort, du die Luft bist, die ich einatmete, den Geruch von gebratenen Nudeln an der Annoncenuhr, den Moder, der mir durch die eingeschlagenen Fenster der alten Fabriken entgegenschlug, bist die Eisenbahnbrücke, unter der zwei Kreuze stehen, immer noch stehen, bist der kleine Fluss und die Gefälle, die ich mit dem Fahrrad hinuntergesaust bin, bist die Aufkleber der Nazis an den Straßenlaternen, bist die kleine Halfpipe neben der Tankstelle, bist Hintergrund der Fotos, die mir etwas bedeuten, bist keine Postkarte, die ich aus dir schreibe, bist ab 18.00 Uhr geschlossen, wie könnte es anders sein, bist so gut wie jeder Moment, so schlecht wie jeder Moment, ich kann die Zeit nicht wählen, in der ich lebe, aber über den Ort entscheiden, an dem ich das tue, wie soll ich von dir erzählen, als wärst du eine Sache, erzählen, als hätte ich dich mich verstanden, wie soll ich von dir erzählen, ohne mich und dich zu verklären, vergessen, erinnern, verletzen, wie soll ich?
V. Spot on
In der Woche, in der die Queen stirbt, fahre ich zu einem Sommerfest der sächsischen Vertretung nach Prag. Das Fest ist eine jährlich stattfindende Veranstaltung, auf der die sächsische Regierung verschiedene Aspekte Sachsens in Tschechien vorstellen lässt, eine kleine Messe mit Empfang und Musik im Gebäude mit der größten Sammlung sorabistischer Literatur außerhalb der Lausitz, ein Vizeminister begrüßt, ein Staatssekretär spricht, die Räume mit grün-gelben Bändern dekoriert, die Ausstellenden werden Maker genannt, das Büfett mit Fingerfood und himbeerfarbenen Knödeln, der Empfang in der Altstadt, die Karlsbrücke zwei Minuten entfernt. In diesem Jahr lautet das Motto: »Spot On Creative Saxony«. Gleich in der ersten Rede wird selbstironisch darauf hingewiesen, dass es sächsisch ausgesprochen leicht zu Missverständnissen kommen und das Spot wie Spott klingen könne. Als über die zukünftige Kulturhauptstadt Chemnitz gesprochen wird, fällt der Satz: Von Marx zu Maker. Auch Werdau ist auf diesem Sommerfest vertreten, einer der Maker stellt Fotos aus, darauf Bilder aus dem vierten Textteil.
Diesen Textteil schreibe ich auf einem Notizblock, auf dem steht: »Gemeinsam gestalten wir ein kreatives Sachsen«. Der Bleistift ist ein Werbemittel für »Chemnitz Kulturhauptstadt 2025«. In den Werbemitteln, die in Tschechien für Sachsen werben sollen, finden sich Schlagworte wie: Mut machen. Impulse geben. Sichtbarkeit. Wertschätzung. Kreative Räume weiterentwickeln. Kooperation. Workshops. Innovativ. Potenzialräume. Lebendige Innovationen finden. Gemeinsam gestalten. »Navštivte Sachsen«, Besuchen Sie Sachsen, steht auf den Plakaten an den Wänden geschrieben, dazu sind Fotos von Bergen, Flüssen, Wäldern, Schlössern gestellt, alle sächsisch, alle idyllisch.
Werdau in Prag, zwei Tage Sachsen pur, alle sind überaus freundlich, interessiert zugewandt, Gespräche entstehen, Gemeinsamkeiten werden festgestellt, man vernetzt sich, auch ich tue dies, und obwohl ich niemanden kenne außer einem Maker, meinem engsten, längsten Freund, fällt es sehr leicht zu sprechen, weil ich mit allen sprechen kann über: Sachsen.
Ich versuche, das irgendwie zusammenzubringen; Sommerfest & Mitropa, Staatssekretär & Zahnlücke in Hauptstraße, mein Bild von Heimat, das Bild, das andere von meiner Heimat haben, Bilder, die andere von meiner Heimat erzeugen wollen mit Blöcken, Bleistiften, Agentursprech und Floskelwolken, mit Musik und Ständen und Reden und Broschüren und Kulturhauptstädten, höre die Geschichten, die gegen andere Geschichten gesetzt werden, das Fingerfood gegen die Roster meiner Jugend. Zwei Tage in Prag, die beharrlich gegen den ersten Textteil arbeiten, die versuchen, ein Sachsen zu erschaffen in anderen Bildern mit anderen Menschen und anderen Absichten und es ist nicht mal falsch, weil diese Bilder ja auch etwas Wirkliches zeigen und ich mit diesen Menschen ja tatsächlich spreche und ich sehe an ihren Ständen ja, was sie tun, sie reißen keine Bahnhöfe ab, sie entwickeln kreative Räume in meiner Heimat, sie tun es seit Jahren.
VI. Abriss
Drei Monate vor Prag lese ich in Werdau. Das Bahnhofsgebäude wird in wenigen Monaten abgerissen werden, zukünftig soll ein funktionaler Haltepunkt das opulente Gebäude ersetzen. Ein letztes Mal wird gefeiert. Diesmal soll es – anders als bei Fengari in der Mitropa zu Weihnachten – nicht heimlich sein. Eine Gruppe von Freunden hat sich dafür zusammengetan, organisiert, alles privat, auch die Finanzierung, über Crowdfunding kamen fünftausend Euro zusammen. Davor standen zahlreiche Begehungen, Sicherheitskonzepte, jede Menge Formulare, Warten darauf, dass Leute in Ämtern notwendige Stempel setzen.
Dann sitze ich an einem Samstag in der alten Mitropa, die für diesen Anlass noch einmal hergerichtet ist. Da, wo die alte Bahnhofsuhr mal war, hängt jetzt eine Diskokugel. Zwölftklässler verkaufen Kuchen zur Finanzierung ihrer Abschlussfahrt. Die Tochter vietnamesischer Gastarbeiterinnen, die in der Sorge lebten, einem Plattenbau, zeigt einen Dokumentarfilm über das Ankommen ihrer Eltern in den 1980er Jahren in Werdau. Ich lese Teil 2, 3 & 4 dieser Heimatsuche vor. Vor mir sitzen langjährige Freunde, deren Kinder, sitzen ehemalige Deutschlehrerinnen, sitzt auch der Bürgermeister, hören zu, fragen später nach dem Text.
Auch später: stehen wir zusammen. Wir erzählen vom Vortag. Am Abend kamen Druffis, die mit den Pillen und dem Schnaps. Sie sammelten sich vor dem Gebäude, hockten da, brüteten Aggressivität aus, die eskalierte. Es hatte Mische gegeben, hieß es. Mische hat hier mehrere Bedeutungen. Mische steht für eine Kombination aus Softgetränken mit hartem Alkohol. Steht für Marihuana. Und steht für eine Schlägerei. Letztere geschah. Die Polizei kam mit mehreren Einsatzwagen, kontrollierte, sprach Platzverweise aus. Heute, an diesem Tag, patrouilliert die Polizei schon früher, präventives Abdrängen, Deeskalieren durch Anwesenheit, erklärt die Polizei.
Die Beschreibung des gestrigen Zustands klingt dramatisch. Jetzt sind da, wo gestern die Mische war, Familien, die ihre kleinen Mädchen bei einem Showtanz beklatschen. Sind Rentnerinnen, die sich die Fotoausstellung anschauen und sich erinnern, an damals, als die Leute in Werdau ankamen und nicht nur wegfuhren. Jetzt sind da die Bekannten, Schulfreunde, Typen, die man früher kannte und deshalb immer noch kennt. Einigen sage ich, was für ein widersprüchliches Gefühl es für mich ist, hier zu sein. Einer sagt: Sobald ich hier bin, kommen die Komplexe zurück, die ich mit vierzehn hatte. Einige überlegen, warum es nicht gelungen ist, den Bahnhof zu beleben, so, wie es in anderen sächsischen Städten gelang, in eigentlich fast allen Städten Sachsens. Eine spricht davon, wie viele weggegangen sind. Davon, dass man hier eher sagt, was nicht geht. Jemand spricht von der Mentalität dieses Ortes, unserer Heimat, in der wir fast alle nicht mehr leben.
Am Abend, es wird schon Nacht, sitze ich im Zug, der mich wegbringt von Bahnhof, Sprache, der Mische. Ich höre Musik, die ich vor über zwanzig Jahren gehört habe, fahre dahin zurück, wo man die Geschichten meiner Heimat nicht kennt, die Bilder nicht, dahin, wo meine Heimat Symbol ist.
erschienen in der Reihe Von Heimat zu Heimat