Einmal werden sie Musicals
aus diesen Tagen machen


1. Februar 2024 | Drei sind eine Party

Laut Umfrage in Sachsen-Anhalt würden momentan im Landtag sitzen, etwa gleichauf: CDU, AfD, BSW.

2. Februar 2024 | Inflationen

Am Vormittag passiere ich die Streikkolonne, die am Atrium vorbeizieht, Verdi in signalgelben Jacken. Ein Wort im Umlauf; »Streikinflation«. Der Unmut trägt sich auf die Straße, öfter, mehr, stärker als zuvor. Von »Französischen Verhältnissen« wird geschrieben. Nach der Niewiederistjetzt-Demonstration in Bautzen kommt es zu einer Serie rechtsextremer Anschläge: Brandanschlag auf Jugendklub, Hakenkreuz an der Fassade des deutsch-sorbischen Volkstheaters, etc. Markus Söders Faschingskostüm für das Jahr 2024 ist Bismarck. Martin Sellners »Remigration: Ein Vorschlag« steht auf eins der Amazoncharts. Es erscheint erst in einem Monat.

3. Februar 2024 | Landesparteitag

Dreh in Jena, Landesparteitag der Grünen im Volkshaus. Wieder der Luxus der Beobachtung. Zum Catering gibt es veganes Mousse au Chocolat und vegane Reisbowle (Ist diese Information notwendig?). Gleich zu Beginn wird auf das Awarenessteam hingewiesen – wer sich diskriminiert fühlt, kann sich daran wenden. Der Saal in grünes Licht getaucht, auch die Aufsteller auf der Bühne in grün. Bei der Bildübertragung verändert sich die Farbe. So wandelt sich auf der großen Leinwand das Grün seltsamerweise in manchen Momenten ein bekanntes Blau, eine widersinnige Metapher.

Wer will, kann den Kandidatinnen und Kandidaten Fragen stellen. Der Einwurf erfolgt in eine von zwei Boxen: Frauen sowie Männer/offen. Fragen von Männern brauchen jeweils ein weibliches Gegenstück, ansonsten können sie nicht gestellt werden, was dazu führt, dass einige Fragen nicht vorgelesen werden. Omid Nouripour erhält einen rosafarbenen Schal der Frauenmannschaft des FC Carl Zeiss Jenas, den, wie er sagt, als Eintracht-Fan aus religiösen Gründen nicht umlegen könne. Demonstratives Umarmen, Umarmungen als Maßeinheit von Wichtigkeit. Viele Danksagungen. Reden als Vergewissern nach innen. Inhaltlich weniger Umwelt, dafür oft AfD. Die Spitzenkandidatin sagt in ihrer Rede: »Wir wissen, diesmal geht es nicht nur um die üblichen Themen, diesmal geht es um mehr.«

13.00 Uhr treffen sich die Delegierten auf der Demonstration in Jena, der zweiten in zwei Wochen. Im Land wieder Hunderttausende auf den Straßen. Wohin geht die Enttäuschung mancher Demonstrierender, wenn sie hören, dass die Regierenden, ihre Parteien von »Abschiebeoffensive« sprechen?

4. Februar 2024 | zwei Strategien

Demonstrationen, immer noch, in immer kleineren Orten; Sonneberg, Aue, auf einer Nordseeinsel jede/r Vierte. Die Rhetorik der Rechtsextremen dagegen hilflos. Zwei Konterstrategien: Recherche gelogen, die Demonstrierenden gekauft.

5. Februar 2024 | rote Karte

Über Politik schreiben fühlt sich so viel intimer an als die anderen Tagebücher. So viel mehr scheine ich preiszugeben. Warum? Weil im Gegensatz zu Gefühlen hinter jedem Wort eine Entscheidung steht? Weil ich zu dieser Entscheidung gekommen bin, obwohl ich so vieles nicht weiß, obwohl ich ausklammere, nicht benenne, werte? Weil ich mir trotz all der Leerstellen, auf die man mich jederzeit festnageln könnte, anmaße zu schreiben? Weil im Politischen noch mehr Widersprüche als im Privaten existieren?

In den Hausflur hat jemand den Ausriss aus einer Zeitung gehängt, »Rote Karte für die AfD« steht darauf. Wie würde ich reagieren, wenn es hieße: Rote Karte für die Linken/CDU/Grüne/Gewerkschaften/Banken/ÖRR/Cineasten? Abreißen, die Nachbarn in Gespräche bringen, Gegenreden starten, den Nachbarschaftsfrieden riskieren? Zerstört das Politische, das in jeden Raum, in jede Kommunikation dringt, jede Kommunikation? Oder muss jede Kommunikation politisch sein in diesem Jahr 2024? Wäre es gerade bedenklich, wenn wir darüber nicht in Zeichen sprächen?

6. Februar 2024 | Maß, unterschiedlich

Lesung in meiner sächsischen Geburtsstadt. Beim Vorgespräch mit den Organisatoren auch die Frage, inwieweit man die Veranstaltungen schütze müsse oder ob der Zettel genüge: »Personen mit rechtsextremen Ansichten und Personen, die rechtsextreme Symbole tragen, ist der Zutritt verboten«. Im Anschluss mehrere Gespräche über die Demonstrationen. Jemand findet es ehrlos, dass Politiker auf den Demos mitgingen, weil die Demos doch unpolitisch seien. Jemand fragt, wogegen die Demos eigentlich seien, das sei sehr unklar. Überhaupt sei die Recherche sehr zweifelhaft. Außerdem werde bei Demos unterschiedlich Maß genommen: Bei den Coronademos werde jede Flagge benannt, bei den aktuellen Demos werden Palästinaflaggen und Mordaufrufe verschwiegen.

7. Februar 2024 | schon entschieden

Bei einer Vorwahl verliert Nikki Hailey gegen Donald Trump. Der steht nicht auf dem Wahlzettel. 2/3 stimmen für »Keinen der angetretenen Kandidaten«.

10. Februar 2024 | Mut aussprechen

Donald Trump »ermutigt« Putin, Nato-Staaten anzugreifen, die ihren finanziellen Verpflichtungen dem Militärbündnis gegenüber nicht nachkommen.

11. Februar 2024 | mehr als zuvor

Bei der Nachholwahl in Berlin erhält die AfD-Abgeordnete, die wegen eines Putschversuches im Gefängnis sitzt, mehr Stimmen als zwei Jahre zuvor. Christian Lindner beklagt in einem Interview, dass die Ampel unzuverlässig sei.

12. Februar 2024 | auf die Straße

Heute, kurz vor 20.00 Uhr wieder der Marsch der Montagsspaziergänger. Die „AUF DIE STRASSE“-Rufe scheinen lauter und aggressiver als sonst. Am Wochenende wieder viele auf den anderen Demonstrationen. Dennoch eine Art von Stille, Gewöhnung, ein Fast-schon-vorbei-sein, so, als hätte es mal eine Zeit gegeben, in der Millionen auf die Straße gingen und das ist lange her. 

14. Februar 2024 | Aschermittwoch mit Merz

Nahe des Topfmarktes Apolda findet er statt, der größte politische Aschermittwoch jenseits des Weißwurstäquators. Bzw. nördlich des Mains. Die Redner sind im Detail uneins, in der Sache aber sicher. Das heute hier ist von Bedeutung, deshalb sind die Worte, die hier gesagt werden, auch von Bedeutung.

Politischer Aschermittwoch ist ein politisches Ideal: Man ist ganz nah dran am Wähler (Bier), hat Narrenfreiheit im Reden, hat auch deshalb Aufmerksamkeit, weil gehofft wird, durch diese Narrenfreiheit Dinge gesagt zu bekommen, die sonst so nicht möglich wären, quasi eine Art Purge-Night der Rhetorik und kann, anders als in der Fastnacht, inhaltlich doch recht konkret werden und seine elementaren Programmpunkte unterzubringen.

Der 31. Politische Aschermittwoch der CDU Thüringen ist das mittlerweile schon. 1200 sind in der Vereinsbrauerei Apolda. Die Security kontrolliert gewissenhaft, aufgekratzte Jungen-Unionler schießen pausenlos Selfies, Senioren-Ehepaare suchen schnell einen Platz und die Mittelständler Bier. »Bier kann hier nie alle werden«, wird später einer der Redner sagen. Trotzdem besser sichergehen und frühzeitig anstellen.

Kreisverbände gruppieren sich an Tischen, Hildburghausen, Saale-Orla-Kreis, Wartburgkreis. Der erste Redner wird sie später einzeln begrüßen. Jeder Verband versucht dann mit Klatschen und Gröhlen den zuvor genannten Verband an Lautstärke zu überbieten. Eine Olympiade.

Ein früherer CDU-Parteivorsitzender, der aus Apolda kommt und der den Aschermittwoch hinterher gebracht hat, darf heute nur noch beiwohnen, wie sein parteiinterner Konkurrent mit dem Parteivorsitzenden einläuft, die große Rede hält, winkt und beklatscht und vielleicht sogar Ministerpräsident werden wird. So ist Politik, könnte man sagen, aber es ist auch tragisch. An den Wänden hängen große Banner, Apoldaer Festbock und »Du bist beim Bier, so bleib dabei, die Frau schimpft um acht, genau wie um drei«. Auf der Bühne spielen die Anonymen Musikalholicer Blasmusikinterpretationen durchaus bekannter Kompositionen. So im Gesamtkontext ist das alles sehr stimmig.

Schnell wird klar, dass das Podest für die Kameras viel zu klein bemessen ist. Auch die Biertische für die Presse sind randvoll besetzt, wir sind Pressevertreter 48,49 & 50, die sich in eine Liste einschreiben. Das Interesse ist also groß, weniger wegen Apolda, weniger wegen Thüringen. Die angereisten Medienvertreterinnen hoffen, der CDU-Vorsitzende und laut aktueller Umfrage nächster Bundeskanzler Friedrich Merz könnte heute etwas verlauten zu einem der vielen heißen Eisen, die er lustvoll ins Feuer hält; Zahnersatzleistungen, Wahlbezirkszuschneidung, Grüne.

Erst mal 18.30 Uhr, erst mal Einmarsch von Merz, Voigt, verschiedene CDU-Funktionäre. Es ist auch irre. Alle stehen auf, alle klatschen, wir laufen mit Kamera und Mikro vor dem Pulk und versuchen, das eine Bild zu erhaschen, bevor wir von  Bodyguards an die Seite gedrückt werden. Nachdem die 1200 sich gesetzt haben und während die Landesverbände einzeln begrüßt werden, holt man sich Kartoffeln, geliefert von einem regionalen Landwirt. Kartoffeln mit Sahnehering. Der JU-Vorsitzende Thüringens eilt mehrmals von Essensausgabe zu Biertisch hin und her, Besteck in Jackettasche gesteckt, um seine JU-Mitglieder mit Essen zu versorgen, eine rührende Geste, auch eine Investition in die Zukunft.

Drei Reden folgen, die, wie ich finde, überraschend viel Inhalt bieten, nicht zwingend differenziert, aber das wäre sicher der falsche Ort dafür. Anfangs sind die 1200 noch mit den Kartoffeln & dem Sahnehering beschäftigt und neues Bier muss auch geholt werden und man ist insgesamt noch nicht wirklich warm gelaufen. Klar, wenn der Name Baerbock oder Lang fällt, dann wird schon reagiert. Aber eher routiniert. Die ganz große Emotion ist schon nicht mehr dabei. Grünenbashing ist Folklore, hat auch was Nostalgisches an sich. Vielleicht liegt das lahme Dissen auch am Hering. Ein bisschen Genderkritik, mehr noch bei Kindern sein (die nicht in Watte packen, die sollten auch verlieren lernen, siehe neue Trainingsphilosophie DFB etc). Der größte Applaus kommt bei einem Vorschlag, dass Anträge, die vom Amt nach sechs Wochen noch nicht bearbeitet wurden, als angenommen gelten. Dafür stehen die Aschermittwochsgäste zu Standing Ovations auf, ich auch.

Einen seltsamen Fetisch entwickeln die Redner beim Bürgergeld. Immer wieder Bürgergeld: Arbeit muss sich lohnen, Leistung muss sich lohnen, es kann nicht sein, dass, faule Haut, Sicherheitsnetze, mehr als die, Cent in der Tasche, fleißige Mittelständler, abgeschlossene Berufsausbildung, wer arbeiten will, der wird auch etc. Da ist ein deutliches Ungerechtigkeitsempfinden zu spüren bei denen, die arbeiten (also alle 1200 hier im Saal), auf die, die sich der Arbeit verweigern bzw. keine »richtige« Arbeit machen. Auf dem Weg nach Apolda auch ein großes Transparent gesehen, das zugespitzt aufschlüsselte, wer »richtige« Arbeit macht (Landwirte) und wer nicht (Freitagsschwänzer, Klimakleber, Politiker, Studenten). So ist das Volksempfinden und hier wird es abgeholt.

Trotzdem steht Verdrossenheit in der Vereinsbrauerei nicht auf der Tagesordnung. Das liegt auch daran, dass viele der Anwesenden in Kreisverbänden aktiv sind und damit Politikerinnen und Politiker und Politikverdrossenheit bedeuten würde, auch von sich selbst verdrossen zu sein. Und verdrossen sieht hier niemand aus. Zudem ist die Prominenz von Friedrich Merz dann doch wichtiger als sein Beruf, eben Politiker.

Bei Merz schlagen auch die antrainierten Reflexe auf die Grünen wieder besser an. Er berichtet, dass der Grünen-Aschermittwoch in Biberach aus Sicherheitsbedenken abgesagt werden musste. Jubelschreie in der Brauerei. Merz fängt das gleich wieder ein, sagt, die politische Redefreiheit müsse schon gewährleistet sein. Kunstpause. Dann fügt er staatsmännisch hinzu, dass die Grünen sich das durchaus selbst zuzuschreiben hätten. Später wird er noch mögliche Koalitionspartner nennen, auch die Grünen darunter. Buhrufe. Aber Merz bleibt dabei. Und da klicken auf den Laptops an den Pressebiertischen die Tasten besonders laut, weil: Das ist irgendwie auch ein neuer Ton, wegen dem sich die Anreise an den Topfmarkt gelohnt haben könnte.

Bei der AfD (Merz: Abstieg für Deutschland) wird er deutlich, zumindest deutlicher als zuvor. Es scheint so, als ob hier versucht wird, einen Tanker, der eisern in grüne Richtung steuert, umzulenken, die Kreisverbände darauf einzuschwören, dass es weiterhin okay ist, lustige Baerbock-Sharepics zu teilen, aber man solle bitte mit den abtrünnigen CDUler ins Gespräch kommen und ihnen klarmachen, dass die AfD doch kein echter Protest sei, vielleicht auch, weil die 10-15 Prozentpunkte, die man hinter der AfD liegt, doch mehr wiegen als einen Wirtschaftsminister, der manchmal Kinderbücher schreibt. Eine Art mentale Brandmauer möglicherweise, ein paar Monate hat es ja noch Zeit. Was auch auffällt: Während mehrmals auf Landwirte und Traktoren verwiesen wird, finden die anderen Proteste keine Erwähnung.

Ebenso fallen die Sprachbilder auf: Merz sagt, die FDP sitze in einem brennenden Haus und könne drinnen bleiben und umkommen. Oder rausspringen, dann sei sie tot. Was meint er damit? Tot wäre die FDP in seinen Szenarien ja so oder so. Merz sagt auch, dass sich die AfD am 7. Oktober 2023 entzaubert habe. Besser klappt die Metapher von Mario Voigt: Vorwärts geht es weder nach rechts oder links. Vorwärts geht es nur durch die Mitte. Und die Mitte ist, klar, die CDU. Aber auch in der Mitte bleibt der Konservative tendenziell eher solange stehen, bis der Schritt vorwärts nicht mehr ganz so schmerzt.

Am Ende sagt Merz noch, dass ihm Thüringen, Brandenburg etc. am Herzen liegen, quasi der Osten, besonders und immer schon, auch, wenn die erst später »hinzugekommen« sind. Hinzugekommen also. Wäre Dirk Oschmann hier, er könnte direkt einen neuen Essay schreiben.

Danach Klatschen, danach gemeinsames Singen des Deutschlandliedes, erneuter Pulk, Auszug aus der Vereinsbrauerei und bald sind die ersten Fotos und Überschriften zu lesen. Merz sagt: AfD Schande für Deutschland, Merz sagt: Schicksalswahl Thüringen, Merz warnt vor AfD, Merz sagt: Höcke zerstört Wirtschaft, Merz: Plötzlich handzahm. Und das ist wohl eine der Funktionen dieses Abends: Bier verkaufen, Bier trinken, Botschaften an den Mann bringen, Tankerkurs revidieren, dazu Kartoffeln mit Sahnehering.

15. Februar 2024 | Reduktion

Sie sagt, sie setze ihr Kreuz bei der Partei, die ihr das Heizungsgesetz vom Hals schafft. Ich beneide sie, weil sie den komplexen Vorgang einer Wahlentscheidung auf eine Entscheidung reduzieren kann. Ich fürchte sie, weil sie den komplexen Vorgang einer Wahlentscheidung auf eine Entscheidung reduzieren kann.

16. Februar 2024 | Putin

Nawalny ermordet.

17. Februar 2024 | Widerhall

Weiterhin Demonstrationen gegen die AfD, weiterhin das Gefühl, dass die Wucht dieser Meinungsbekundungen nicht entsprechend Widerhall findet im gesamtgesellschaftlichen Raum.

18. Februar 2024 | /rreal

Konferenz in München. Das Szenario – Trump wird Präsident, die USA verlässt NATO, Russland greift NATO-Staaten an – wird offensiv besprochen. Der Kanzler garantiert Geldmittel für militärischen Schutz, auch zu Lasten sozialen Schutzes. Nawalnys Leiche bleibt verschwunden. Irreal.

19. Februar 2024 | die gute alte Zeit

Hans-Georg Maaßen lässt die WerteUnion gründen. Auf einem Ausflugsschiff auf dem Rhein – bei Bonn, Bonn, ausgerechnet Bonn, dieser Zeitkapsel.

20. Februar 2024 | Menschenrechte als Belastung

Brandanschlag auf das Haus eines Thüringer SPD-Politikers. Brandanschlag auf Wahlbüro der Grünen in Petershagen. Fenster zweier SPD-Büros in Suhl zerstört. Die FDP warnt in Bezug auf das Lieferkettengesetz: »Die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutz dürften gerade in Zeiten einer wirtschaftlichen Krise nicht zur Belastung für die Unternehmen werden.«

22. Februar 2024 | Frühlingsklima

Erneut muss eine Veranstaltung der Grünen aus Sicherheitsbedenken abgebrochen werden, diesmal in Hirschaid bei Bamberg, 60 Traktoren, Feuerwerkskörper, Notrufe, Polizeischutz, neben Landwirten auch Protestierende aus dem Querdenker-Milieu. Proteste, die zu Übergriffen werden, die zu Abbrüchen führen, dieses Johlen, diese Form erster Gewalt, sind auch ein Klima dieses früh hereinbrechenden Frühlings.

Das Feuer in der ehemaligen Außenstelle des KZ Flossenbürg in Dresden-Großzschachwitz war vermutlich Brandstiftung. Ich zögere, diese Meldung der Chronik hinzuzufügen. Vermutlich ist der Grund dafür. Bis vermutlich aus diesem Satz verschwinden wird, wird Zeit vergehen, wird einmal eine Meldung sein, die mir vermutlich entgeht. Dann würde hier nie gestanden haben, dass jemand eine Gedenkstätte anzündete.

23. Februar 2024 | Gewichtung

Welche Aussagekraft haben diese Aufzeichnungen, wenn ich mehrere Angriffe auf Politikerinnen und Politiker demokratischer Parteien benenne und nicht schreibe, wie ein AfD-naher Kandidat aus dem Saale-Orla-Kreis den Rückzug seiner Kandidatur mit einer Gefahrenlage für seine Familie begründet?

Wie handhabe ich das zukünftig? Wie überprüfe ich, welche Meldungen mich erreichen und welche nicht? Recherchiere ich nach? Lege ich Listen an? Setze ins Verhältnis: 2x die SPD erwähnen bedeutet 1x die AfD zu nennen? Werte ich, von welcher Gewalt ein Angriff war und balanciere damit aus? Nenne ich besser nichts von allem, weil es nicht fair gewichtet sein könnte? Muss ich denn fair sein? In meinen Aufzeichnungen? Fair gegenüber AfD-nahen Kandidaten? Wo bleibt meine Menschlichkeit, wenn ich Übergriffe nicht grundsätzlich empathisch betrachte? Sie verurteile? Muss ich unterscheiden zwischen Angriff auf Objekte, Angriff auf Menschen? Unterscheiden zwischen möglicher Wähler, Wähler, Protestwähler, überzeugter Wähler, parteinaher Kandidat, Parteikandidat, Parteifunktionär, Parteivorsitzender? Und, einen Schritt weiter: Lässt der Begriff Nazi Unterscheidungen zu? Wann verwende ich den Begriff? Wann Faschist, Faschismus? Warte ich auf Entscheidungen von Gerichten? Wie genau muss ich die Verwendung solcher Begriffe bei jeder Nennung belegen? Enthöhle ich den Begriff, verwendete ich ihn zu oft? Womit begründe ich die Verwendung dieser Begriffe – mit Worten, mit Taten, mit Organisationen, mit Zuschreibungen, die andere machen? Verwende ich den Begriff Faschist präventiv, weil hinterher wäre es ja zu spät? Ich nehme wahr, ich interpretiere diese Wahrnehmung, ordne, ich setze in Kontext und sortiere ein, sortiere aus. Ich schreibe.

So hätte ich diesen Eintrag vor ein paar Jahren noch verfasst. Heute gilt das alles und zugleich haben sich die Mechanismen, mit denen Wahrnehmung, Wiedergabe, Wahrheit miteinander in Verbindung treten, so erweitert, dass Fragen ein bequemer Weg sind, für keine Antworten einstehen zu müssen.

24. Februar 2024 | ein ernsthafter Moment mehr, was wäre anders

In Leipzig. Auf dem Markt Blumen niedergelegt vor Fotos von Nawalny. Am Nachmittag in der Innenstadt eine Pro-Russland-Demonstration, Russlandfahnen, Friedenstauben, das Wort Druschba auf Schildern. Unabhängig davon darüber nachdenken, wie es wäre, wenn damals Laschet im Ahrtal nicht gelacht hätte und Kanzler geworden wäre.

26. Februar 2024 | geschlagene Trommeln

Wutbauern in Brüssel; brennende Autoreifen, Pyro, Gülle auf den Straßen. Wieder liegt es nah, die Betrachtung verschiedener Demonstrationen durch verschiedene Akteure zu vergleichen. Wer gewichtet was wie, wer verwendet Begriffe wie Extrem oder Terrorist, wer berichtet wohlwollend, zustimmend, verständnisvoll, wer beschlagnahmt Klebstoff, wer Traktoren. Vor dem Fenster die Montagsspaziergänge, ihre geschlagenen Trommeln leuchten im Dunkel.

27. Februar 2024 | und später werden diese Tage Musicals

Heute weitere Bilder von einer Bauerndemonstration. Die Politikerin dort unter Polizeischutz, Absperrung, der Erfolg ist, wenn nichts geworfen wird. Wie schnell man diese Bilder als normal wahrnimmt. Oder war es nicht immer schon so? Den Eierwurf von Halle auf Helmut Kohl gibt es mittlerweile ja als Musical. Der Landrat, der kürzlich knapp gegen den AfD-Kandidaten gewann, kündigt an, zukünftig Asylsuchende zu Arbeitseinsätzen zu verpflichten, 80 Cent die Stunde, bei Weigerung Streichung von 180€ im Monat. Dieser Satz ließe sich unterschiedlich formulieren, jede Version wäre eine Position dazu.

29. Februar 2024 | worüber wir sprechen

Um diese Zeit zu verstehen, muss man verstehen, warum es so viel leichter ist, über Bürgergeld und Bezahlkarten zu sprechen als über Vermögens- und Erbschaftssteuer, warum das eine solche Wut hervorruft, das andere achselzuckend abgetan wird.

Linus Westheuser schreibt in Der Begriff der Arbeit wird gerade von rechts besetzt: »Der Verteilungskonflikt zwischen Oben und Unten, der die Politik lange Zeit prägte, ist heute gesellschaftlich demobilisiert. Es gibt zwar nach wie vor Interessengegensätze zwischen Besitzenden und Lohnabhängigen, Reichen & Armen. Aber politisch wird daraus offenbar keine Energie mehr gewonnen.«


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