Narrativ: Dunkelflaute
1. Dezember | Narrative
Gerade wieder Zeit der Narrative. Ein Begriff wie ein Zaubertrank in jedem Strategie-Meeting, Füll-, Über-, Summwort. Dabei ist es gar nicht so unwichtig, dass Narrativ. Auch wenn ich beginne, Geschichten zu schreiben, ist eine der ersten, vielleicht die schwierigste Frage nicht die, was passiert, sondern: Wer erzählt denn mit welchem Blick darüber? Auch die Frage: Was weiß meine Erzählerin nicht von der Geschichte und soll die Leserin wissen, was sie nicht weiß? Das Narrativ als Entscheidung über die Perspektive, die ja maßgeblich die Wahrnehmung bestimmt, damit mein Fühlen, Denken, Reaktion, Aktion.
Auch in der Politik das Narrativ. Über das Scheitern der Ampel ließen sich verschiedene Narrative finden; Leitmotive, anhand derer sich alle Ereignisse der vergangenen drei Jahre erzählen (und erklären) ließen. Die Weltlage Zeitenwende hat so und so viel Druck ausgeübt, deshalb das Scheitern. Der Kanzler vom Typ her nicht für eine Führungsrolle geeignet. Um erneut an der Macht bleiben zu können, hat die SPD ihre sozialen Werte verraten. Die FDP war von Anfang an auf Disruption aus. Die Grünen sind eine Partei von inkompetenten / staatsgefährdenden / lachhaften Politiker*innen. Demokratie an sich ist zum Scheitern verurteilt etc. (Medien, weltweiter Rechtsruck, Schuldenbremse…) Lauter Perspektiven, die sich einnehmen lassen, die eingenommen wurden und mal mehr qualitativ, mal mehr quantitativ verbreitet und inhaliert wurden.
Eine, wenn nicht die Stärke beim Erzählen von Geschichten ist es, dadurch mit anderen Augen auf die Welt schauen zu können. Figuren erzählt zu bekommen, an deren Leben, Gedanken, Fühlen teilzunehmen, deshalb beginnen zu verstehen, weshalb Figuren wie denken, fühlen, reagieren, möglicherweise auch Verständnis entwickeln, Empathie.
Wie wäre das im politischen Bereich? Dem Leben Christian Lindners in einem Kurzgeschichtenzyklus beizuwohnen und deshalb verstehen, weshalb er als Politiker agiert, wie er agiert? Olaf Scholzs JuSo-Jahre in tausend Seiten Autofiktion wie Karl Ove Knausgård und ihm darum als Kanzler nahe zu sein? Sich dabei fragen: Wo verlaufen die Trennlinien zwischen beruflich und privat? Wie soll das möglich sein? Auch noch in Echtzeit? Die Merkel-Biografie wirft sich erst drei Jahren nach ihrem Austritt aus der Gegenwart auf uns und versucht auf 700 Seiten eine Figur zu erzählen, so dass ich das Handeln der Figur verstehe. Aber verstehe ich? Komme ich näher?
Eine weitere Möglichkeit des Erzählens ist es, mehrere Figuren nebeneinanderzustellen. Verschiedene Perspektiven und damit Narrative zu montieren, sie zu verknüpfen, übereinanderlaufen zu lassen, auch gegensätzlich zu gruppieren, so Widersprüche zu zeigen, ohne diese lösen zu wollen. Einfach zeigen: Ein Handlungsstrang, mehrere Beteiligte, mehrere Positionen.
Wenn in einer PowerPoint steht, dass man ein Narrativ setzen möchte, dann bedeutet das letztlich nichts anderes als: Deutungshoheit über diesen Strang. Narrativ = Kontrolle.
2. Dezember | *Record Scratch* *Freeze Frame*
Gerade wieder die Zeit, in der ich politische Talkshows als dysfunktional und kontraproduktiv empfinde. Gedacht, was wohl wäre, wenn man die Gesprächsrunde um den Mittag herum aufzeichnet. Anschließend prüft die bestens vorbereitete Redaktion einige Stunden lang jede in der Diskussion getroffene Aussage und versieht vage oder falsche Aussagen mit Anmerkungen, welche in der abends ausgestrahlten Sendung eingefügt werden.
Wenn also ein Diskutant kopfschüttelnd und empört etwas sagt wie: »Bürgergeld? Die Leute arbeiten nicht!«, dann *Record Scratch* *Freeze Frame* und Einblendung von Zahlen von Aufstockern, Schülern, Geringverdienern etc. Oder ein Diskutant fordert, dass Deutschland »kleines bisschen mehr Milei und Musk wagen« müsse, dann Information über Wahlkampfspenden oder StarLink oder einige ausgesuchte Tweets einblenden, und dazu den Anstieg der Armenquote in Argentinien seit Mileis Amtsantritt.
Und diese Information stehen lassen, so dass die Zuschauenden Gelegenheit haben, sie meditativ auf sich wirken zu lassen und danach erst weiter in der Diskussion. Dazu vielleicht die Neuerung, dass jeder Gesprächspartner und jede Gesprächspartnerin pro Jahr nur zu vier politischen Talkshows eingeladen werden darf, so dass die Alleserklärer abwägen müssten, in welchen vier Momenten sie zu welchem Thema ihre Stimme erheben, mehr nicht.
3. Dezember | Mondlabyrinthe
Über was schreiben? Wie der südkoreanische Oppositionsführer sein Klettern über den Zaun zum Parlament livestreamt, weil der Präsident das Kriegsrecht ausgerufen hat und Soldaten den Zugang zum Gebäude blockieren? Wie Joe Biden mit präsidentialem Recht seinen Sohn begnadigt, was in der Reihe von Trumps Nepotismen nicht weiter auffallen würde, aber dennoch Nepotismus ist? Über die Frau in den USA, die für ein Jahr ins Gefängnis muss, weil sie eine Katze essen wollte, der Vorfall, auf den Donald Trump mit »They eat our cats, they our dogs« Bezug nahm? Über diesen kaum zu ertragenden Text, in dem Ärztinnen und Ärzte aus Gaza berichten, über die Kinder aus Gaza, ihre Infektionen, ihr Blut, die Kugeln, die Minen, die Amputationen, die Quadrokopter, die Herzen, die Maden? Dass im Bautzener Kreistag ein Kreisrat der Freien Sachsen eine Kampf der Nibelungen-Jacke trug, als Beispiel für eine kleine Verschiebung, eine der vielen Normalisierungen? Dito bei der Schlagzeile: »Fremdenfeindliche Senioren schlagen in Zwickau auf Taxifahrer ein: Ausländer dürfen in Deutschland kein Taxi fahren.« Doch nachträgliche Gedanken zum gestrigen Take dysfunktionale Polittalkshows mit Rant gegen Arenen und einem Plädoyer für das Einzelgespräch? Oder den neuen Gedichtband von André Schinkel zitieren, Mondlabyrinth, Fahrt durch den Nebel, Unter den Lichtscherben . Einmal blicken wir auf … in ein Ungebrochenes Licht.
4. Dezember | eine Prise Disruption
Geht gar nicht darum, jeden Tag einen Eintrag zu Freien Demokratischen Partei Christian Lindner Libertären aus dem Meinungsbergwerk hervorzuholen. Aber konfrontiert mit seiner Aussage, mehr Milei zu wagen, antwortet er mit: »eine Prise Disruption … könnten wir schon brauchen.«, ein weiterer Schritt hin zu einer Normalisierung, zur Verschiebung. Und ja, Disruption ist schon ein Begriff, der mich in seinen Bann schlägt. Popkulturell inszeniert durch Edward Norton als disruptives Elon-Musk-Double in Glass Onion, bildlich charakterisiert durch die Kettensäge von Javier Milei. Und ja, in Gesprächen, auch in den Wutgesprächen, immer wieder der Wunsch nach dem Angehen von Grundsätzlichen, wenn man so will utopische Disruptionen oder Disruptionen, die eine Utopie schaffen sollen, in vielen Bereichen: Bildungssystem, Gesundheitswesen, Pflegesystem, Immobilien/Miete, Politik, Soziale Medien, Deutsche Bahn, der Wunsch, da ganz grundlegend auch mal nachzufragen und neuanzufangen. Aber freylich, die Prise Disruption, die Lindner meint, die Kettensägen-Disruption, die Disruption der Marktradikalen (heute die Zahl, 1% besitzen soviel wie 95%, welch so offensichtlich wahnsinnige, möglicherweise nicht mehr zu korrigierende Deformation), diese Prise bedeutet ja etwas ganz anderes, fragmentierte Ordnung, alles wegbolzen, was irgendwie heilend sein könnte, zur Billion disrupieren und muskieren.
5. Dezember | Der Thüringer Blumenwurf
Im Frühsommer sind Yvonne und ich losgefahren. Wir wollten, dass Leute Blumen werfen. Gegen das, was sie wütend macht. Damit war das Symbol von 2020 gemeint, der Blumenwurf gegen den gerade gewählten FDP-Ministerpräsidenten. Damit war aber auch das Gefühl gemeint, dass Wut gerade so bestimmend scheint für das Sprechen und Denken, gerade hier, da, wo wir leben.
Also: Blumen werfen und dann darüber sprechen. An einem Tisch mit feiner Decke, Blumen in Vasen, Kaffee und Kuchen, auf den Sitzen bequeme Kissen, nicht selten stand der Tisch in einer Blumenwiese, der Himmel war blau, die Sonne schien hell. Über Wut reden oder, in unserem Fall meistens, zuhören, wie andere darüber sprechen; was Wut für sie ist, wie sie damit umgehen, private Wut, Wut auf Politik, Krieg, Ost-West-Wut, Frauen und Wut und auch besprechen, was nicht wütend macht.
Die vielen Gesprächen haben wir in den letzten Monaten in Ruhe nachgehört und durchgeschaut. Und zu den Bereichen, in denen die Wut besonders vorkam, Passagen geordnet, dreizehn Kategorien mit unterschiedlichen Aussagen, manchmal einander bestätigend, manchmal verneinend, auch erweiternd und fragend.
All die Texte, viele Fotos und unsere Eindrücke sind auf dieser Homepage:
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6. Dezember | Mammut
Vorgestern eine Lesung von Ines Geipel aus Fabelland. Sie liest Kapitel, in denen sie auch die Herkunft von Bildern und Symbolen, die für 34 Jahre Ostdeutschland stehen, hinterfragt, den Hungerstreik in Bischofferode beispielsweise. Wie so oft in ihren Texten zieht sie Linien weit in die Vergangenheit hinein, DDR, NS. Fragt, wie darüber gesprochen wird, was verarbeitet wird, schreibt von einer blockierten Auseinandersetzung in gleich zwei Diktaturgeschichten, schreibt, dass Generationen so trotz unterschiedlicher historischer Erfahrungen in der gleichen imaginierten Vergangenheit leben.
Das Erzählen also. Und, was sie auch beschreibt, wie u.a. dadurch Strukturen aufrechterhalten werden, auch ganz konkret am Beispiel Thüringens, wie Sprecherpositionen gestärkt oder verhindert werden, Linien, die sich unbeirrt durch die Jahrzehnte ziehen.
Und diese Linien sind es ja. Bei Bündnis Sahra Wagenknecht geht es deshalb nicht allein um den vermeintlich rationalen Austausch von Argumenten zu bestimmten Positionen (Welcher Frieden wäre der bessere: die Kapitulation vor Putin oder das Besiegen Putins?). Es geht darum, dass mit Wagenknecht die alten Kader wieder hervortreten, die alten Ideen und Ideologien Räume besetzen, sich die alten Strukturen revitalisieren.
Auch deshalb reagieren Menschen aus der Bürgerrechtsbewegung, Menschen, die damals flohen, so energisch auf das BSW: Weil mit Wagenknecht eine Umdeutung der Geschichte stattfindet, Unrechtes Gewicht bekommt, weil letztlich die Niederlage 35 Jahre später annulliert werden soll. Ähnliches bei der AfD, dort reichen die Linien noch weiter zurück, nicht zufällig die Korrelation, dass die AfD in Thüringen dort besonders stark ist, wo die NPD immer schon viel Zuspruch erhalten hat.
Im Vorgespräch berichtet Ines Geipel von der Lesereise, davon, wie sie in einer ostdeutschen Stadt mit Jüngeren sprach, benutzt das Wort »verwundet«, berichtet von einer Sprachlosigkeit zwischen ihnen und der Elterngeneration. Als ich sie später in der Moderation darauf anspreche, geht es auch um die Gegenwart (für sie beginnt die »gegenwärtige Gegenwart« 2015), auch da eine Unmöglichkeit, Unfähigkeit, miteinander zu reden, das zu thematisieren, was gerade geschieht, diese Brüche und Gräben, weil in diesen gegenwärtigen Jahren eben grundsätzliche Entscheidungen getroffen werden, auf die Spur welcher Linie man sich begibt.
Flashbacks zu Gesprächen aus den letzten Wochen, in denen Menschen, die verbeamtet sind oder die Aussicht haben, die Verbeamtung zu erhalten, darüber nachdenken, was es bedeuten würde, den Amtseid auf Björn Höcke schwören zu müssen. Ob ihnen das möglich wäre. Ob es den Kolleginnen und Kollegen leichtfallen würde, sich in diesen völkischen Apparat einzufügen, dafür zu sorgen, dass möglichst geräuschlos weiteradministriert werden kann. Weil das die Aufgabe wäre als Staatsdiener in einem solchen Staat: dafür zu sorgen, dass es reibungslos flutscht.
Und da zeichnen sich die Linien aus der Vergangenheit über die Gegenwart hinaus in die Zukunft; zukünftige Erfahrungen, welche die nächsten Blockierungen schon in sich tragen, die Entscheidungen, die jeder treffen muss, die kommende Schuld, die werdenden Täter, die zukünftigen Opfer. Die Linien in einem zeitenwuchernden Raum.
In »Fabelland« verwendet Ines Geipel das Bild des Mammuts. »Vielleicht ist das das Mammut, das Massiv. Die Angst, das Unwiderrufliche, das späte Trauma, die Abwehrformate. Der mit 1989 abgesenkte Nachhall. Das, was unter dem liegt, was wir Osteuropa nennen und nun 25 Jahre nach der Öffnung nach oben drängt. Das Unverstandene, das Derealisierte, das unermüdlich vor sich Hinarbeitende, als wäre keine Kraft mehr da für die Erstarrung […] Vielleicht erfasst das Mammut-Bild die Dimension nicht. Nicht das Unüberschaubare, Chaotische, Hochriskante, Destruktive, die vielen lose Fäden, die vielen losen Fäden, das Unverbundene im Danach, das Detonierte.« (Fabelland, S.256)
Was ich darin lese: Die Linien wachsen gerade jetzt weiter, jede Sekunde, die Schmelze längst begonnen.
7. Dezember | Doomscrolling KW 49
Wie russische Soldaten ihre Fähigkeiten trainierten, indem sie in der ukrainischen Stadt Cherson Zivilisten mit Drohnen jagen und töten. Wie China an Russland Kampfdrohnen, die über eine 2000 Kilometer-Distanz 50 Kilogramm Sprengstoff an die ukrainische Front fliegen können, liefert. Wie die ChatGPT-Firma Open AI KI-Systeme zur Drohnenabwehr entwickelt. Wie Elon Musk größter Einzelspender in der Geschichte der US-Politik ist. Wie islamistische Milizen auf Damaskus vorrücken, weil Putin Assad fallenlässt. Wie Wissenschaftlerinnen feststellen, dass die Vogelgrippe noch zwei Mutationen davon entfernt ist, auf den Menschen überzuspringen.
Was davon ist Doomscrolling, Brain Rot nach einer typischen 2024-Woche, ein Fiebertraum wie eine Verflechtung mehrerer dystopischer Handlungsstränge für das anbrechende zweite Vierteljahrhundert, dieses Konglomerat aus militärischer Black-Mirror-KI, brutaler globaler Neuordnung, libertären Kryptotechmilliardären, autoritär-nationalistischen Rechtsdrift und gelegentlicher Pandemien. Und wenn etwas davon so wäre, was würde dem ernsthaft entgegenstehen können, fragt das Dopamin.
8. Dezember | Ein Merz für Kinder
Friedrich Merz sitzt in der Spendengala Ein Herz für Kinder. Ein Herz für Kinder wird vom Springer-Verlag ausgerichtet und dieser hätte gern eine CDU-Regierung mit einem starken Christian Lindner an der Seite. Deshalb ist es kein Zufall, dass Moderator Ralf Schmitz während der Gala ans Sofa zu Friedrich Merz kommt und sagt: »Ich habe ein Angebot für Sie. Wenn Sie ein richtig gutes Angebot an mich machen, jetzt zu spenden für Ein Herz für Kinder, dann nennt sich die Sendung ab sofort Ein Merz für Kinder. Was sagen Sie?«
Davor und danach wird auch gespendet, Lars Klingbeil hat 500€ gegeben, Christian Lindner (»Sie kennen meine berufliche Situation«) 2000€, Toni Kroos 100000€. Friedrich Merz unterbreitet Schmitz ein Angebot: »Mein Angebot ist folgendes: 100€…«
Verblüfft und konsterniert unterbricht Schmitz mit wegbrechender Stimme: »Bitte?«
Die Spendenglocke läutet, weil Friedrich Merz 100€ an Ein Herz für Kinder gespendet hat. Schmitz winkt die Glocke weg, weil er ahnt, dass da noch etwas kommt. Von Friedrich Merz. Und Schmitz hat recht.
Denn gleich darauf fährt Friedrich Merz fort: »…100€ für jedes Prozentpunkt, das wir in der besten Umfrage für die CDU über den Jahreswechsel stehen.«
Zufrieden schaut Friedrich Merz zu Ralf Schmitz auf.
Schmitz presst ein eher ernüchtertes »Naja« hervor.
Friedrich Merz spürt Schmitz’ Enttäuschung, spürt auch die Enttäuschung im Publikum. Instinktiv holt er von ganz weit unten aus seinem Sauerlandkörper ein tiefes »Aja, hören Sie mal!« heraus.
Schmitz findet schnell in die Rolle zurück, die ihm als Moderator einer Springer-Spendengala zugewiesen ist.
»Großartig«, sagt Schmitz also.
Friedrich Merz setzt nach: »Rechnen Sie mal, rechnen Sie mal.«
Schmitz sucht nach Worten, die Entgegnung, Zustimmung und Pointe zugleich sein könnten, findet: »Das kann keiner so schnell ausrechnen.«
Mittlerweile hat Friedrich Merz selbstbewusst die Arme untergeschlagen. Er hilft Schmitz beim Rechnen: »Also wenn wir über 40% liegen, sind’s 4000€.«
Von Schmitz wieder das ernüchterte »Naja«.
Friedrich Merz hält dagegen: »Was heißt Naja?«
Schmitz: »Also Herr Merz!«
Friedrich Merz: »Also hören Sie mal!«
Schmitz: »Also Herr Merz!«
Friedrich Merz: »Das ist acht Mal so viel wie die SPD…«
Da mischt sich eine Moderatorin ein: »Ach komm Ralf, nimm einfach die 4000€.«
Nimm einfach die 4000€. Friedrich Merz, Ex-Aufsichtsratsvorsitzender von BlackRock, Privatflugzeugbesitzer, jemand, der sich nach eigenen Worten mit einem Jahreseinkommen von rund einer Million Euro brutto zur gehobenen Mittelschicht zählt, Ach komm, nimm einfach die 4000€ für die kranken Kinder.
Vielleicht braucht es ein eigenes Verb, vermerzen – etwas auf dem Silbertablett serviert zu bekommen und dann spektakulär vergeigen. Friedrich Merz als Ebenezer Scrooge, der seinen Tiny Tim noch nicht gefunden hat, nicht die erste Strophe in diesem Weihnachtsmärchen, Googlesuche »Friedrich Merz« + »Notebook Obdachloser«.
Friedrich Merz meint das ja nicht mal böse. In seiner Welt ist Güte kein zielführender ökonomischer Indikator, entfaltet Selbstlosigkeit keinen Nutzen, ist Mitgefühl eine Abschreibung. Dabei haben Großzügigkeit und Barmherzigkeit an diesem Abend doch ein Preisschild, sind Mittel zu einem Zweck. Und das ist das eigentlich Erstaunliche an diesem Dialog: dass Friedrich Merz dies reichlich zwei Monate vor einer Wahl nicht sieht, dass ihm der Instinkt dafür fehlt, dass ihm nicht in den Sinn kommt, eine solche Gelegenheit für sich zu nutzen. Diese Spendengala als Vorgriff auf den Kanzlervibe, der dieses Land bald vorwärts bringen soll.
9. Dezember | Sag was über Syrien
Die Armee Hayat Tahrir al-Sham nimmt Damaskus ein, die Baath-Herrschaft beendet, der Palast gestürmt, die Folterkeller geöffnet, die Gefangenen befreitet, die Uniformen weggeworfen, Putin verliert den Zugang zum Mittelmeer, verliert Flugbasen, um von da aus in Afrika verheeren zu können. Ein Geschenk am Jahresende, Syrien befreit. Ein Glück.
Und überraschend. Weil gefühlt nur wenige Tage gedauert hat, was seit 2011 Jahre voller Horror gewesen waren; Aleppo, Palmyra, Homs, Giftgas, die zerbombten Krankenhäuser, Scharfschützen, Minen, Folter, all der Schrecken, zu dem man abstumpfte, weil das Grauen in Syrien ohne Aussicht auf Linderung nicht zu ertragen war. Und dann gewann doch das Grausame und herrschte weiter, als wäre nichts gewesen. Und jetzt, während des Schlags eines Augenlids, das unerwartete, unvorstellbare Ende.
Ist das der Grund? Weil Iran, vor allem Russland nicht mehr schützen? Und ist das der Grund für die Jahre ab 2011? Weil Iran und Russland schützten? Ein Krieg, der sich so tief in die Welt gefressen hatte, der spätestens 2015 sich nach Deutschland aufmachte und da tektonische Bewegungen hervorrief, die dazu beitrugen, dass heute ist, wie es ist.
Ein Geschenk. Und gleichzeitig auch Zurückhaltung. Wer ist diese Armee, wer ihr Anführer? In den letzten Tagen wurde uns, die wir Syrien abgeheftet hatten zu den Ereignissen der Vergangenheit, versucht zu erklären, für was die verschiedenen Gruppen stehen, die nach Damaskus ziehen. Alles Wissen darüber aus diesen Texten. Dazu das Wissen über den Ausgang des Arabischen Frühlings. Das Verhaltene, weil dieses Ende auch ein Anfang ist, und wie soll ich einschätzen können, was dieses »Ende dieser dunklen Ära und den Beginn eines neuen Kapitels für Syrien« bedeutet, was dieser Frieden bedeutet, für die Syrier, für die syrischen Frauen?
In Deutschland sind in reichlich zwei Monaten Wahlen. Etwa eine Million geflüchtete Syrerinnen und Syrier leben in Deutschland. Einige Parteien fordern schon heute, am Tag des Falls von Damaskus, an diesem Geschenk, die Rückkehr dieser Million nach Syrien, zwei Monate bis zur Wahl.
10. Dezember | Flucht ist ein Aufenthalt auf Zeit
Während die Welt noch al-Julani googelt, während in den Foltergefängnissen Menschen nach ihren Brüdern und Vätern, Söhnen, Töchtern, Schwestern und Müttern suchen, während die Türkei Rojava bebombt, ist die große Debatte hier: Wann gehen die Syrer endlich aus Deutschland weg? Jens Spahn möchte 1000€ Handgeld geben, der sächsische Innenminister sofort abschieben, »Flucht ist ein Aufenthalt auf Zeit« heißt es pflichtschuldig, von gecharterten Heimführungsflügen ist die Rede, »umgehend nach Syrien zurück«, so, als wäre jede Sekunde des Innehaltens ein unnötiger Akt der Gnade, als wären Eifer und Eile die höchsten Tugenden, um der Freude entgegenzuwirken, als würde man den Menschen, deren Land soeben erst befreit wurde und die zum Teil seit zehn Jahren hier ihre Leben führen, jede Gelegenheit im Keim nehmen wollen, in eigener Verantwortung Entscheidungen zu treffen, ihnen unbedingt verstehen geben wollen, dass sie hier nicht erwünscht sind, niemals waren, ich habe überlegt, ob ich dies zum Thema eines Tages machen sollte, aber das Festhalten dieser beflissenen Kälte, dieses strebsamen Gefühlsfrost, dieses umgehenden Genugtuung muss Teil von Einträgen sein, die dieses Jahr abbilden. Oder, wie Saša Stanišić, jemand, der selbst vor einem Krieg nach Deutschland floh, schreibt: »Das war damals nach dem Bosnienkrieg genau gleich: Man hat nicht eine Sekunde gezögert nach dem letzten Schuss, und auch egal wie die individuelle Lage vor Ort für die Menschen war, um uns abzuschieben. Das ist also nicht eine neue Menschenverachtung, beeinflusst von Rechts, Deutschland IST so.« Mir ist bewusst, dass die Ereignisse der vergangenen Tage Fragen aufwerfen, die Antworten brauchen, Pläne, Unterstützungen, Reaktionen. Bewusst, dass solche Worte eben nicht nur in Deutschland fallen, sondern auch in anderen Ländern die Abschiebung im Zentrum steht. Dass Deutschland so ist und es viele Beispiele gibt, dass es auch anders ist. Aber diese unverhohlene Lust an der Unverzüglichkeit ist nur schwer hinzunehmen.
11. Dezember | Brombeerstabilität
Heute Unterzeichnung des Koalitionsvertrags in Thüringen, Livestream mit Brombeerbier. Und Brombeere als Begriff für den Zusammenschluss dreier Parteien, etwas, das im September noch ungewohnt und deshalb frisch erschien, wirkt auf mich nun infantil, abgegriffen, auch krampfig. Ich verstehe das Bedürfnis, etwas so Abstraktes und Kompliziertes wie diese Koalition damit aufzupeppen. Aber so richtig abholen wird mich Brombeere nicht mehr, vielleicht auch, weil die Erfahrung zeigt, wie schnell sich Namen für solche Bündnis abnutzen und ins Gegenteil verkehren; Ampel als Unwort für verlorene Jahre, die GroKo als Drohung einer zahnlosen Lähmung.
Überhaupt dieses Thüringer Bündnis. Wie widersprüchlich. Die vielen Biegungen, die die drei Parteien genommen haben, nehmen mussten. Das Geschmeidige ließe sich als Aufgeben von Grundsätzen bezeichnen. Oder pragmatisch angesichts der Umstände nennen. Oder demokratisch, weil der Kompromiss letztlich das ist, was zusammenführt. Und Kompromiss ist diese Brombeere in jeder Zelle. Wieder ein Oder: Oder Beleg für den unbedingten Wille zur Macht, dafür alles einsetzen. Oder eben: Alles dafür einsetzen und verhandelbar machen, damit Der Osten machts keinen weiteren Raum gewinnt.
Und deshalb ist – bei allem Zweifel – der Wunsch, das diese weiten Wege sich auszahlen. Das gelingt, was sondiert wurde. Weil Instabilität und Zerrüttung und Scheitern und Zank das ist, was letztlich die Prozentpunkte über die Sperrminorität hinaus zur Majorität führen würde.
12. Dezember | Nichtereignis Ministerpräsidentenwahl
Heute Ministerpräsidentenwahl in Thüringen. Kurz vor acht treffen die Bläser vor dem Landtag ein, die Instrumente bei sich. Um hineinzukommen, braucht es den Personalausweis. Einer der Blechbläser hat seinen Perso nicht sofort parat. Er muss kurz danach suchen, bis er ihn findet. Dann darf er hinein.
Und das ist im Wesentlichen der größte Aufreger des heutigen Tages.
Das liegt auch daran, dass vor Beginn der 4. Plenarsitzung, die nur TOP1 beinhaltet – Wahl des Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringens und gegebenenfalls dessen Vereidigung – im Gang vor dem Plenarsaal, wo sich die Journalistinnen und Journalisten aufbauen, ein Wort die Runde macht: Die LINKEN stimmen mit.
Das ist ja der Knackpunkt, das gegebenenfalls im TOP1. Die »Brombeere« hält nur die Hälfte aller Stimmen. In den ersten beiden Wahlgängen braucht es aber für die absolute Mehrheit, um den dafür vorgesehenen Mario Voigt zum Ministerpräsidenten zu wählen, mindestens eine Stimme von LINKE oder AfD.
Diese Notwendigkeit schafft Raum für Szenarien, z.B.: Was, wenn Teile der AfD für die Brombeere stimmten, Mario Voigt wäre Ministerpräsident von Gnaden Höckes, wie würde er damit umgehen, würde er ablehnen, was dann, würde er zustimmen und damit auf ewig mit dem Makel der AfD-Stimmen leben müssen?
Auflösen würden sich diese Alternativen nur, wenn die LINKE so deutlich für Mario Voigt stimmte, dass die Stimmen der AfD irrelevant wären. Diese Deutlichkeit wäre aber schwierig für die CDU, die sich als unvereinbar mit der postkommunistischen LINKEN sehen möchte und auch nicht so einfach für die LINKE, die sich nicht so ohne weiteres als Erfüllungsmaschine für einen wertkonservativen MP sehen möchte und dies in den letzten Tagen auch deutlich zu verstehen gegeben hat. Oder, wie ein Journalist des Deutschlandfunks den Vorsitzenden der LINKEN später sagen wird: Da habt Ihr Euren Preis noch mal nach oben getrieben.
Da nun das Wort die Runde macht, sind die Szenarien hinfällig. Trotzdem herrscht eine wohlige Anspannung. Jeder hat den 5. Februar 2020 im Kopf: 3. Wahlgang, Kemmerich, Blumenwurf. So knapp vor Corona die Augen der Welt auf Thüringen, die große Show der AfD, das Versagen Kemmerichs, mit der Situation irgendwie souverän umzugehen, das Versagen der CDU (und in Teilen der LINKEN) eine notwendige Neuwahl einzuleiten, alles demokratische Blamagen, die fett auf das Konto der (Thüringer) AfD einzahlten, die sich im September dafür mit der Sperrminorität belohnten.
Und genau aus diesen Erfahrungen heraus wird geraunt und gemutmaßt, welchen Pfeil Höcke, Braga und die AfD-Fraktion in diesem Jahr im Köcher haben werden.
Jean Baudrillard hat in seinen Überlegungen das Ereignis vom Nichtereignis getrennt, »Es ist das Ultravorhersehbare, das abschreckt, das das Ereignis im Ansatz tötet – im Gegensatz zum radikal Unvorhersehbaren…« Und weil die Kameras sich in Erwartung auf einen zweiten Blumenwurf aufgebaut haben und schon auf die Stelle zoomen, an denen das Ereignis passieren soll, kann es kein Ereignis sein. Es kann kein Ereignis sein, wenn man auf das Ereignis lauert, nichts Unerwartbares, wenn man das Nichterwartbare erwartet.
Es kann kein Ereignis sein. Die AfD lässt heute den Pfeil im Köcher. Thomas Kemmerich ist nicht mehr im Landtag. Im Pflichtenheft der Brombeere steht: Nur keine Aufreger. Anders gesagt: Es geht heute sehr schnell.
Eröffnung der Plenarsitzung durch den Landtagspräsidenten, Verlesen der Abgeordnetennamen, die vortreten, ihre Stimmzettel erhalten, ankreuzen, Stimmzettel in die Wahlurne einwerfen, (Mario Voigt verzögert den Einwurf, bis auch jeder Fotograf sein Bild hat), Auszählen, Verkünden des Ergebnisses – 51 Ja-Stimmen, Landtagspräsident fragt Abgeordneten Mario Voigt, ob er die Wahl annimmt, er nimmt an, Mario Voigt ist Ministerpräsident, die Abgeordneten gratulieren ihm, manche überreichen Geschenke, der Ministerpräsident hält eine Rede, die 4. Plenarsitzung wird beendet, Interviews der jeweiligen Parteispitzen im Gang vor dem Plenarsaal, Empfang beim Landtagspräsidenten, Übergabe der Staatskanzlei durch Ministerpräsident a.D. Bodo Ramelow an Ministerpräsident Mario Voigt.
Kein Ereignis. Ein normaler demokratischer Vorgang. Keine Störung. Kein Zwischenruf. Keine Aktion. Ein Ablauf. Die Antrittsrede ist im besten Sinne dröge, vorhersehbare Aneinanderreihungen von Wörtern. Und doch ist es auch beruhigend, x-mal »Zuversicht« zu hören, oder »Impulse« oder »Arbeitsplätze sichern« oder vom Bauern in Nordhausen und dass bei jeder Weltraummission etwas aus Thüringen dabei ist etc. lauter Sattbekanntes.
Doch das ist die Botschaft, die der Landtagspräsident in seinem Wortbeitrag angemahnt hat, die auch später in den Statements geteilt wird: Das Bild, das heute hier geschaffen wird, wird die nächsten Jahre prägen. Und dieses Bild soll diesmal bitte kein Aufreger sein. So ist einerseits ein bisschen schaulüsterne Enttäuschung, vor allem aber demokratische Erleichterung über das Nichtereignis.
In einer Kiste werden die Dinge gesammelt, die die Abgeordneten Mario Voigt schenkten; Blumen hauptsächlich, die BSW-Spitzen übergaben einen jungen Brombeerstrauch, der in fünf Jahren wachsen und gedeihen soll (»Mal sehen, ob du den grünen Daumen hast, Mario«), der Vorsitzende der LINKE übergab einen gerahmten Schwur von Buchenwald.
Später stehen wir im Gang zum Abgeordnetenhaus und essen einen Brombeermuffin, der ziemlich lecker ist; der Teig feucht, die Frucht frisch, das Süße nicht allzu zuckrig. Noch später stehen wir am Bahnhof Erfurt. Und seltsam: Die Menschen tanzen nicht. Sie singen nicht und sie jubeln nicht. Sie eilen zu den Gleisen, sie kaufen ein belegtes Brötchen, sie rauchen eine Zigarette. Gerade so, als hätte nicht soeben nach einem langen, sehr komplizierten Prozess der Ministerpräsident ihres Bundeslandes sein Amt angetreten, der erste Mann im Freistaat, sein Vibe und Anführer.
Noch später, als ich am Nachmittag schon wieder vollends in den Alltag gerutscht bin, erzähle ich vom Vormittag im Landtag, erwarte auch ein wenig Schulterklopfen so im Sinn von »Krass, dass du dabei warst, erzähl mal, das ist ja megainteressant.« Stattdessen: »Ach ja, heute wurde ja gewählt«. Oder: »Îst er jetzt gewählt worden?«. Jemand fragt: »Wie hieß der noch mal?«. Nichts davon bösgemeint, ein Nichtereignis, die Dinge gehen weiter.
13. Dezember | Pflichtenheft
Nachtrag zu gestern. Weil ja nicht nur im Plenarsaal etwas geschieht. Sondern auch in der Kantine des Landtags. Dort bekommen wir z.B. das »Pflichtenheft« erklärt. Im Grunde geht es darum, dass die CDU nicht mit der DIE LINKE zusammenarbeiten darf, aber mit der DIE LINKE zusammenarbeiten muss, wenn sie regieren will. Deshalb darf es keine Vereinbarungen geben, keine gemeinsamen Unterschriften. Deshalb hat die Brombeer-Koalition ein Papier aufgesetzt, das »Pflichtenheft«, in dem sie sich zu parlamentarischen Gepflogenheiten im Zusammenspiel mit der DIE LINKE verpflichtet. CDU, BSW, SPD unterschreiben, DIE LINKE nicht. Also keine gemeinsamen Unterschriften, keine Vereinbarung. Aber ein Konstrukt aus Regeln, an die es sich zu halten lohnen könnte. »3 Plus 1« als ein weiterer Name, Wordings, die aus der Notwendigkeit entspringen, in den nächsten fünf Jahren Gesetze und Haushalte beschließen zu können.
In der Kantine ist es auch, wo uns ein Politiker der Regierungskoalition sinngemäß sagt, dass er nicht verstehe, weshalb man in der Öffentlichkeit so auf dicke Freunde machen müsse. Klar, man arbeite miteinander und versuche das trotz der schwierigen Umstände auch so gut wie möglich zu schaffen. Aber das bedeute nicht, dass man zusammen in den Urlaub fahren würde und man müsse auch nicht das Bild erzeugen, als wäre das so.
Ich denke an die Präsentation der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags; brombeerfarbene Lichtspiele, Back2TheFuture-Musik, ein emotionaler Zusammenschnitt der größten Emotionen des Wahlkampfs, Pathos, Kitsch und Pompös, alles sehr »amerikanisch«. Und ich verstehe, dass man nach dem langen Weg sich als Beteiligter der Koalition diese Show gönnt, sie auch braucht. Und frage mich, a, wer schaut sich den Livestream der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags an und b, wer denkt bei dieser Show: Wow, Demokratie, Wow, Brombeer-Koalition?
Und denke auch: Natürlich braucht es die Feier, es benötigt das Ritual, was ja sowieso eine Leerstelle von Demokratien ist: das mitreißende Ritual. Ein Koalitionsvertrag als Endpunkt eines demokratischen Prozesses, er wird das Leben aller hier in den nächsten Jahren beeinflussen. Warum sich nicht dafür interessieren, warum nicht Formen finden, das zu begehen? Aber welche ist die angemessene Form und warum ist es diese nicht?
Bezüglich des Bilds »gemeinsam in den Urlaub fahren« denke ich auch an den Parteitag des BSW in Ilmenau, auf dem der Landesverband seine Zustimmung zur Regierungsbeteiligung gab. Kein unwichtiger Termin, dem viel vorausgegangen war an internen »Konflikten«, die zum Teil so ihren Weg in die Öffentlichkeit fanden, dass wenig intern war, dass allen klar war: Da sind gleich mehrere Tischtücher zwischen Landesverband Thüringen und Bundeszentrale Berlin zerschnitten. Und dann gibt es diesen Cringe-Moment, in dem sich Sahra Wagenknecht und Katja Wolf ungelenk gegenüberstehen und nicht wissen, ob sie sich umarmen sollen und jeder merkt das, das sie sich nicht umarmen wollen, und sie umarmen sich doch und später in den Reden passt dann kein zerschnittenes Tischtuch mehr zwischen die beteiligten Personen, obwohl jeder weiß: So ist das ja überhaupt nicht.
Ich frage mich, warum das so ist. Frage mich: Wie lässt sich Dissens angemessen artikulieren in einer politischen Situation? Die Ampel. Vertreter dreier zum Teil sehr unterschiedlicher Denkrichtungen, die dennoch etwas gemeinsam erreichen wollen. Sie müssen Positionen diskutieren und diese Diskussionen müssen Grundsätzliches verhandeln und da muss es natürlich hart zur Sache gehen und in diesem Diskurs können wir als Gesellschaft unsere Argumente prüfen und gestärkt aus dem Streit gehen und am Ende zu einer Vereinbarung finden, in der sich die überzeugendsten Argumente durchgesetzt haben und die dennoch Kompromisse eingehen, weil sie Rücksicht nehmen auf die Vielfalt der Positionen und der Komplexität der Sachverhalte.
Eigentlich eine gute Sache, Streit als produktives Instrument, das uns alle voranbringt. Und das hier fürchterlich gegen die Wand gefahren wurde. Gründe dafür gibt es viele. Einer ist vielleicht »Die Medien«, die beim Streit vielleicht gar nicht mal immer am Argument interessiert sind. Sondern politischen Streit als Sportwettkampf betrachten, in dem die Spieler Punkte für sich selbst machen und nicht für die Sache. Und so wird dann auch geschrieben. Marktwertjournalismus, Ranking-Gossip. Von innen lässt sich das durchaus verstehen. In den vergangenen Monaten waren wir dabei, als Worte auf Goldwaagen gelegt wurden und damit der aktuelle Stand eines Politikers bemessen wurde, ich maß mit, es ist auch schwer, dieser Dynamik zu entkommen.
Und vielleicht ist es auch so, dass wir als Bürger Transparenz einfordern und dabei keinen Streit wollen, also den Prozess von Idee zum fertigen Gesetz gar nicht im Detail wissen möchten, aber wir möchten, dass Politiker ehrlich zu uns sind, aber sie sollen auch ein Bild der Einheit abgeben, weil sie nur dann etwas erreichen können, gemeinsam. Wir verabscheuen Dissens und wenn wir belogen werden, weil wir uns das im Grunde wünschen, werden wir auch sauer.
Aber um diese Balance aus Argument und Wettkampf, Ehrlichkeit und Einigkeit geht es ja. Ich würde das gern mal sehen, wie es wäre, wenn Politikerinnen und Politiker einer gemeinsamen Regierung offen Differenzen formulieren und die Schwierigkeiten, die auch im Zusammenspiel miteinander bestehen, benennen und »die Medien« würden darüber schreiben, ohne gleich Punkte zu vergeben, und wir, die Bürgerinnen und Bürger, wir würden nicht gleich sagen, die da oben, alles Gezanke. Sondern irgendwie gemeinsam herausfinden, wie man ohne beste Freunde zu sein zusammenarbeitet und darüber angemessen spricht.
14. Dezember | Bedeutungsverlust
Ein zweiter Nachtrag zum 12.12., bevor ich über Dunkelflaute und das Verbot des Polioimpfstoffs schreibe. In der Kantine am 12.12. kam dann später auch Bodo Ramelow vorbei, wahrscheinlich hatte er soeben die Staatskanzlei an seinen Nachfolger übergeben. Y. fragte, wie er sich denn jetzt so fühle, er antwortete etwas wie erleichtert oder befreit und sprach von einem neuen Kapitel und fragte dann, ob er sich zu uns an den Tisch setzen könne, aber wir waren gerade am Gehen, deshalb klappte das nicht und ein wenig überrascht waren wir auch.
Und ich überlegte, wie es wohl ist, zehn Jahre im Zentrum gewesen zu sein und dann nicht mehr, wie es sich anfühlt, Erleichterung, klar, aber ob sich da nicht mehrere Gefühlsstränge ineinanderschieben.
Mit dem 12.12. sind die Dreharbeiten für den Film von Y & W so gut wie beendet, ein paar abschließende Szenen noch, aber das Wesentliche der Findung einer Regierung ist festgehalten. Ich hatte das Glück, in einigen Momenten dabei sein zu dürfen, damit auch Zugang zu Szenen erhalten, den ich unter anderen Umständen nicht gehabt hätte. Das ist nun erst einmal vorbei.
Wenn ich das nächste Mal in den Landtag komme, dann allein als Bürger. Und ich merke, dass sich da auch ein Hauch Melancholie breitmacht, ein Bedauern darüber, dies vorbei ist. Türen geschlossen, eine Zeitsträhne beendet, auch das Gefühl, in denen vergangenen Monaten mitgeschwommen zu sein in etwas, das eine gewisse Bedeutung hatte. Und dann wieder auszusteigen aus dem Wasser und ferner darauf zu schauen. Ich spüre ein Loch, so, als würde ich mich zurückbegeben müssen in eine unmaßgeblichere Realität, die nicht mehr bestimmt ist von sich überschlagenden Informationen, von der Teilhabe an Prozessen, dem Einblick in Bereiche, die etwas am Laufen halten, ein Räderwerk. Eine seltsame Leere ist da, die mir vermessen scheint. Denn ich habe nichts getan, nur beobachtet.
Wie es für die, die mehr tun, als zu beobachten. Man wird in Positionen gespült, vieles davon aus Glück und Zufall, bestimmt von günstigen Zeitpunkten, den passenden Terminen von Wahlen, ist gebunden an den Zeitgeist, an Trends und Verläufe, über man nicht den geringsten Einfluss hat und die doch maßgeblich für Prozentpunkte sind oder Kandidatenlisten und zu vergebene Ämter. Und dann steht man dort und füllt etwas aus und verhält sich und eine ganze Maschinerie ist darauf ausgerichtet, dass ich dieses Amt vertreten kann. Und ich werde unterstützt und ich greife auf Ressourcen zu und meinem Wort wird Gewicht beigemessen und wenn ich vor dem Plenarsaal entlanglaufe, richten sich die Kameras auf mich, ich bin es, der in gerichtete Mikrofone sprechen soll, weil ich etwas bestimme, ich etwas leite.
Und das geht eine Zeit lang so, vielleicht fünf Jahre, wenn ich Glück habe zehn Jahren, bei nicht wenigen deutlich weniger. Und dann ist das weg. Die Maschinerie zieht sich zurück, die Kameras richten sich nicht mehr, mein Wort bestimmt nicht nichts mehr, aber so viel weniger.
Wie das wohl ist? Wie man zurückblickt auf die Zeit, in der man für ein Amt stand, die Personen betrachtet, mit denen man stritt und kämpfte, schaut auf das, was man tat und nicht tat, nicht geschafft hat, die ausgelassenen Möglichkeiten.
15. Dezember | Dunkelflaute
Gerade herrscht Dunkelflaute. Und schon erstaunlich, dass das technokratische Deutsch immer wieder so klangsatte Wörter hervorbringt. Dunkelflaute. Dunkelflaute wie eine Bedrohung in einem Fantasyepos. Dunkelflaute wie ein eigentlich liebeswürdiger Antagonist aus einem Walter-Moers-Buch. Dunkelflaute als die Zeit, in der zu wenig Licht für die Panels und zu wenig Wind für die Rotoren vorhanden ist, weshalb die Kohle-Gas-Atom-Kraftwerke hochfahren und zuliefern müssen. Dunkelflaute als die Zeit im Jahr, in der die Energiepreise in die Höhe schießen und die Industrie teuer zukauft. Dunkelflaute als Hashtag in den Kanälen, Dunkelflaute als Beweis für das Scheitern der Energiewende. Dunkelflaute auch als Beschreibung eines Problems (im Dezember weniger Licht und Wind) und den Umgang damit (Energieversorger halten Kraftwerkskapazitäten zurück, um die daraus folgenden hohen Strompreisen mitnehmen zu können), Dunkelflaute Flautendunkel.
16. Dezember | Vertrauensfrage
Der Kanzler stellt die Vertrauensfrage, er verliert das Vertrauen, alle – einschließlich des Kanzlers – sind deshalb nicht nur zufrieden, sondern auch erleichtert, ein Tag der Erleichterung heute, weil das Vertrauen verloren ist.
Ein Gefühl von Irritation. Das Vertrauen verlieren als Ziel, als etwas, das gut ist, das alle wollen? Sollte die erhoffte Antwort auf die Frage, ob Vertrauen da ist, nicht ein Ja sein sollen. Vertrauen nicht als Instrument innerhalb eines Prozesses, Vertrauen als der Prozess selbst?
Aber auch egal, alle sind zufrieden und erleichtert und deshalb kommen die Reden. Die personifizierten Parteihaltungen nehmen Aufstellung, platzieren Themen auf dem Spielbrett und verdeutlichen die Positionen dazu. Darum geht es schließlich: Wer genießt ab Ende Februar das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler?
Einmal schwenkt die Kamera auf die Zuschauerbühne. Jugendliche sitzen dort, vermutlich eine Schulklasse. Sie schauen hinunter auf die Pulte. Denn dort wird sich mit lanzerprobter Verve in die Bresche geworfen für die nächste Generation, die diese Schulklasse ja beispielhaft verkörpert. Die nächste Generation ist rhetorisches Mittel und die echte Frage, die hier im Hohen Haus gestellt wird: Welche Schuld bürden wir dieser nächsten Generation auf? Die Schuld eines nichtausgeglichenen Haushaltes, die Schuld einer Null, die nicht schwarz ist? Oder die Schuld einer schwarzenullgesparten Infrastruktur? Weil: Eine Schuld wird es immer geben, welche die Nächsten begleichen werden müssen.
Viel Häme und Angriff ist in diesen Stunden im Spiel, auch das aseptische Klatschen Alexander Dobrindts. Und doch ist es irgendwie auch beruhigend, dass es im Grund darum geht: von wem nehmen, wem geben, Soli abschaffen oder Lebensmittelmehrwertsteuer senken? Die älteste politische Frage. Laut Umfragen ist sie längst beantwortet.
Am Abend noch im Kino gewesen. Während des Films läuft über die Glasscheibe vor dem Projektor ein Insekt, ein schwarzer, an den Rändern unscharf ausfransender Fleck, der sich unstet über das Bild treibt, Licht schluckt, Gesichter verdeckt, die Geschichte an sich reißt.
17. Dezember | Markus Söder kniet vor dem Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos und isst eine Wurst
Auch wenn es schon ein paar Tage her ist, verdient es Erwähnung, wie das Social-Media-Team von Markus Söder auf Markus-Söders-Instagramaccount mehrere Fotos postet, wie der bayrische Ministerpräsident in Anlehnung an den Kniefall von Willi Brandt vor dem Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos kniet, dazu steht: »Die Nazis haben hier schreckliche Verbrechen begangen, unterdrückten die polnische Bevölkerung und haben das jüdische Leben in der Stadt fast völlig ausgelöscht.«
Und als nächstes folgen im Stream Fotos, die offenbar im Anschluss entstanden sind, Markus Söder, wie er eine vor Senf strotzende Bratwurst in die Kamera hält, dazu steht: » #söderisst eine traditionelle Polnische Bratwurst. Schmeckt super! 😀«.
Ein Swipe also, und man ist vom Holocaust bei der Bratwurst. Dieses Nebeneinander erzeugt ein tiefes Unbehagen, weil es scheinbar gleichwertig nebeneinandersteht, die Banalität des einen auf das Andere übergreift, das Andere das maximalste Gegenteil von Banalität.
Dabei ist es ja nicht verwerflich; eine Geste der Demut und des Gedenkens. Und im Laufe der folgenden Stunden etwas essen. Auch Willy Brandt wird am 7. Dezember 1970 etwas gegessen haben. Aber davon gibt es kein Foto. Es gibt kein Foto, wie Willy Brandt selbstbewusst unter dem Hashtag #brandtisst eine Bratwurst in die Kamera reckt. Gibt kein Team, dass Kniefall und Bratwurst in unmittelbare Nachbarschaft stellten und weil ein Stream die Zeit dazwischen unsichtbar macht, damit eine Verbindung herstellt, Holocaust – Bratwurst.
Bei Markus Söder gibt es das. Bei Markus Söder gibt es den Hashtag #soederisst, der auf seiner Instagram-Seite als Highlight die besten Fotos, auf denen Markus Söder Fotos seiner Mahlzeiten sammelt (Schaschlik, Spinat, Schlachterplatte, Tafelspitz etc.), ein Highlight der Öffentlichkeitsarbeit, Markus Söder isst. Es geht die Geschichte, dass Markus Söder Essen als Tool in politischen Verhandlungen benutzt, indem er vor Verhandlungspartnern demonstrativ in fettige Burger beißt oder Leberkässemmeln, ja, man muss schreiben, frisst, um mit dem Freßvorgang das Gegenüber nachhaltig zu verunsichern.
Markus Söder isst nach dem Gedenken an den Holocaust eine Bratwurst, sie »schmeckt super«, nachdem er dem »jüdischen Leben ein persönliches Schutzversprechen« gegeben hat. Im Stream ist alles eins, in der Kommunikation auch, wahrscheinlich ist auch im Kopf von Markus Söder alles eins, ist alles gleich relevant, ist alles Like ist alles Politik ist alles Karneval ist alles Foto ist alles Hashtag, alles Food für den Feed, Hauptsache, der Stream verebbt niemals, das wäre das Schlimmste, ein Austrocknen des Stroms. In diesem Sinn folgt nicht nur die Bratwurst dem Holocaust, sie muss ihm folgen.
Letztens ein Text über Politikclowns: »Clownspolitik ist eine Form der politischen Kommunikation, die sich bewusst oder unbewusst, in jedem Fall aber sehr erfolgreich selbst der Lächerlichkeit preisgibt, und sich dabei auf die (bewusste oder unbewusste) Komplizenschaft der Medien verlassen kann … Es handelt sich um eine Politik der karnevalesken Transgression, eine Performance des Herumhampelns, die immer wieder den Eindruck vermittelt, man habe es mit zutiefst unernsten Menschen zu tun. Die Frage, die diese Inszenierung erzeugt, lautet: „Er hat was gemacht?“«
18. Dezember | Kanzlerduell
Streit darüber, wer mit Friedrich Merz streiten dürfen soll. Olaf Scholz als amtierender Kanzler? Der laut Umfragen als beliebtester Kanzlerkandidat mit Friedrich Merz gleichaufliegender Robert Habeck? Alice Weidel, deren Partei die zweitstärkste im Land ist? Wie von Sahra Wagenknecht vorgeschlagen eine Runde mit allen Kandidatinnen? Mehrere Duelle, um inhaltlich in die Tiefe gehen zu können? Ein Duell zwischen Alice Weidel und Christian Lindner, der keinen »Ideenwettbewerb« mit der AfD »scheuen« möchte? Ein Triell zwischen Alice Weidel, Christian Lindner, Sahra Wagenknecht?
Gestern für den Film das abschließende Interview mit Bodo Ramelow. Dabei erläutert er u.a. was es bedeutet, wenn weder Landeshaushalt noch Bundeshaushalt für das kommende Jahr beschlossen sind. Im Grunde genommen finde ich das interessanter als die Frage, welcher Gladiator in der Arena gegen »Fritze Merz«’ »Tünkram« (Zitat Olaf Scholz) verlieren wird und wie am Ende alle Duelle gegen den TikTok-Algorithmus den Kürzeren ziehen werden. Und das soll nicht kokett oder auf eine Pointe hin gebaut klingen, es erscheint mir auch albern und kontraproduktiv, sich in einem überkommen anmutenden und in dieser Umfragesituation auch bedeutungslosen Sportritual anhand von Personenzuschreibungen die Lage der Nation erklären zu wollen.
19. Dezember | Durchrechnen
War es eigentlich schon immer so, dass vor der Wahl die Wahlprogramme der Partei durch- und gegengerechnet wurden? Und falls ja: Wie wurde das früher geframt? Als »Diese Entlastungen planen die Parteien«? So, wie auf diesem Sharepic der Tagesschau? In diesem Wording entlastet die SPD nur mit 30Mrd, die Grünen mit 50Mrd, die CDU 90Mrd. Spitzenreiter wäre die FDP, die mit 140Mrd entlastet. Und wenn jede Ent- auch eine Belastung wäre, wer wird entlastet? Was bedeutet »nicht gegenfinanziert«? Und warum fühlt es sich so wenig literarisch an, diese Fragen zu stellen?
Und, Nachtrag zu gestern: Vielleicht wäre es ja zielführender, die Parteipersonen in einem Leadership-Duell gegeneinander anzutreten zu lassen, in dem es nicht um Inhalte geht, sondern anhand kleiner Spiele Führungsqualitäten und Teamfähigkeit unter Beweis gestellt werden müssen. Anschließend werden die Parteiprogramme recht emotionslos in einer großen Samstag-Abend-Show miteinander verglichen.
19. Dezember | Person des Jahres
Gisèle Pelicot. Alle 51 Angeklagten sind schuldig gesprochen. Die Scham muss die Seiten wechseln, hat Gisèle Pelicot gesagt.
»Lese gerade wieder vermehrt Texte, wie erschreckend es ist, welche “normalen” Männer, normal aussehend Frau Pelicot vergewaltigt haben. Und dann auch noch Männer, die gerade erst Vater geworden sind oder schon Töchter haben. Aber ich verstehe diese Texte nicht. Wer soll das denn sonst sein?«
»ich arbeite mit männern, spreche mit männern, schreibe mit männern, lache mit männern, trinke mit männern, schlafe mit männern, lebe mit männern. es gibt männer, die ich mit meinem leben verteidigen würde. es gibt männer, die mich mit ihrem leben verteidigen würden. aber versichern, wirklich aus ganzem herzen versichern, dass keiner von ihnen so etwas tun würde, sich in die wand hinter einem täter einreihen oder schlimmeres? bestimmt konnte ich das irgendwann mal. jetzt steht da ein fragezeichen und sonst nichts, sonst schweigen.«
20. Dezember | Dunkelflaute Windpalast Erregungsspitze
Wenige Tage nach dem Eintrag über die Dunkelflaute und den explodierten Strompreisen, Tage, nachdem im Bundestag das Scheitern der Energiewende erklärt wurde und Friedrich Merz suggerierte, dass jeder Einzelne privat 900€ für die Megawattstunde bezahlen müsste, fällt der Börsenstrompreis auf 0€ (plus Steuern und Abgaben). Beides stimmt, beides ist geschehen: 934€, 0€.
Vor zwei Jahren fotografierten Menschen sich vor Tankstellen und den Zahlen mit den hohen Spritpreisen. Sie hatten recht, die Spritpreise hatten diesen hohen Preis. Und seitdem sind sie auch gefallen, lagen zum Teil 50 Cent niedriger als auf den Fotos, davon gab es keine Fotos, niemand stellte sich zufrieden vor Tankstellen und fotografierte sich und sagte: Ich bin gerade nicht wütend.
Ausschläge geschehen, nach oben, nach unten, Spitzen ergeben sich und auch Dellen, nur manches löst Reaktionen aus, nur manches fotografiert sich und trägt sich in Kanäle, der Blick richtet sich nicht auf das Mittel, nicht auf den Vergleich, auf den Umgang, das Gefühl reagiert auf die Spitze, das Gefühl ist die Erregung, das Gefühl ist die Spitze, wir finden Wörter dafür, Dunkelflaute Windpalast Erregungsspitze.
20. Dezember | EM, CL
Elon Musk hat diese Woche republikanischen Abgeordneten für den Fall gedroht, dass sie für den Haushaltentwurf stimmen – erfolgreich, die Mehrheit stimmte dagegen. Er ist im Gespräch mit der britischen rechtsextremen Partei Reform UK, eine Summe von 100 Million Dollar steht im Raum. Musks Vermögen aktuell bei 441,6 Milliarden Dollar, 100 Millionen wären 1/4400 seines Vermögens, 100 Millionen, die maßgeblich Einfluss nehmen würden auf die britische Politiklandschaft.
Eine rechtsextreme Influencerin postet auf X. Elon Musk reagiert darauf mit »Only the AfD can save Germany«. Christian Lindner reagiert darauf mit: »Elon, I’ve initiated a policy debate inspired by ideas from you and Milei. While migration control is crucial for germany, the AfD stands against freedom, business – and it’s a far-right extremist party. Don’t rush to conclusions from afar. Let’s meet, and I’ll show you what the FDP stands for. CL« Ein Balgen um die Milliardärskrümel, ein Kotau vor den X-Algorithmen.
20. Dezember | Magdeburg
Tagsüber zwei Einträge zum 20.12. verfasst und als der Tag so gut wie Geschichte zu sein scheint, Magdeburg. Die Bilder, die Zahlen, die Beschreibungen des Furchtbaren. Die Einträge dieses Tages, der Tage davor, relativieren sich dadurch, setzen sich in Beziehungen dazu, schaffen sofort andere Wertigkeiten. Von gestern aus, heute, in die nächste Zeit gesehen, Magdeburg wird dafür stehen, auf den Tag wird in Jahren noch Bezug genommen werden, erinnert werden wird sich, getrauert, Wut.
Wie jetzt, ein, zwei Stunden danach, damit umgehen? Weil es sich anfühlt, als müsste ich mich umgehend dazu verhalten, würde ich mich nicht umgehend dazu verhalten, würde ich relativieren, würde ich beschwichtigen in diesem Kontext, selbst, wenn ich so gut wie nichts über das Geschehene weiß, nichts beizutragen habe. Was also tun? In den umgehend eingerichteten Livetickern versinken?; das neuste Bild, die neuste Zahl, den neusten Videoschnipsel, das neuste Bisschen über den Täter, das neuste Bit über den Tathergang, zu vergleichen, wer sich mit welchen Bekundungen dazu verhält und wer nicht, was Elon Musk über Magdeburg schreibt, beizuwohnen, wie sich Magdeburg einspeist, eingespeist wird in den Strom, der für einen Moment unterbrochen sein müsste und doch sofort überquellt, ein Beobachten und Schreiben fühlt sich kalt und falsch an, wie verhalten, traurig sein, abwarten, erst einmal rausnehmen
22. Dezember | Zwei Tage Abstand, kein Abstand
Weiterhin weiß ich nicht so recht, was ich schreiben soll, ob es das braucht, dass ich mich über die Bestürzung hinaus verhalte, ob ich festhalte für später ein Teil der seit zwei Tagen fließenden Informationen, wenn ja, welche. Vielleicht so:
Ein Zweck von tagebuchähnlichen Einträgen ist es, etwas unmittelbar und abstandslos festzuhalten. Deshalb erscheint es mir richtig, dass ich Freitagabend noch etwas schrieb, auch wenn es mir zu diesem Zeitpunkt falsch anmutete. Hätte ich mich gestern oder erst heute an den Eintrag gesetzt, er wäre ein anderer geworden, gefilterter, getragen von mehr Informationen, mehr Reaktionen, die wiederum meine Reaktion beeinflusst hätte. Vielleicht wäre das besser, vielleicht nicht.
Seitdem in mehreren Gesprächen gewesen, in denen es bald zu dem Satz kam: »So schrecklich, was in Magdeburg passiert ist.« Danach auch meinerseits die Befürchtung, dass über die gemeinsame Versicherung des Schreckens hinaus das Gespräch schnell zum Täter kommt, zu Vereinfachungen und damit weg von der Bestürzung hin zu einer letztlich streithaften Auseinandersetzung. Aber nein, nicht, nie. Es ist die Betroffenheit, die wir teilen, ich erzähle in den Gesprächen von dem Foto, das eine Mutter teilte, ihr neunjähriger, am Freitag ermordeter Sohn darauf zu sehen. Erzähle, wie ich las, dass der Täter extra in den Märchenbereich des Weihnachtsmarkts gefahren sein soll, Schweigen dann, der Schrecken.
Das geschieht im persönlichen Gespräch. In den Kanälen ist es anders. Da bin auch ich anders. Natürlich betroffen und zugleich bemüht, Informationen, die zu viele Details, die zu viel Entsetzen auslösen könnten, zu meiden. Nicht alles wissen wollen, nicht alles heranlassen, sich ins Philosophische retten, über die Zufälligkeit nachdenken, die entscheidet, nicht über den Weg nachdenken, den das Auto nahm, wie.
Das. Und dazu das Schauen, welche Reaktionen welche Informationen auslösen. Weil noch am Freitag die – wie muss ich schreiben, ohne dass es zynisch klingen kann – neben dem Entsetzen und der Trauer die erwartbaren Reflexe nach einer solchen Tat, der einige gleiche und viele ähnliche vorausgegangen sind, einsetzen und abgespult werden; die Schuldzuweisungen, die Ableitungen, die Forderungen. Und weil ebenfalls noch am Freitag deutlich wird, dass der Täter nicht zur Tätererwartung passt.
Was dann passiert, man kann es live verfolgen, wie nun in Echtzeit neue Narrative ausprobiert werden, damit die Routine weiterverfolgt werden kann. Was verfängt wohl: ein antideutscher Anschlag, ein antichristlicher Anschlag, die X-Posts sind gefälscht etc. Sonntagabend, mit zwei Tagen Abstand, ist vieles bekannt und niemand kann in der Lage sein, den Fall abschließend zu bewerten.
Das Paradoxe: Die, die diese vorgefertigten Bewertungen tätigten und später das Narrativ ändern müssen, weil nicht aufging, was sie erhofften, sind jene, auf die sich der Täter bezog, sie zum Teil als Vorbild benannte, als Lösung von Problemen. Ein Zirkelschluss, ein Kreis, den niemand begonnen haben will. Denn klickt man sich durch die Kanäle, findet das Paradoxe keine Erwähnung, spielt die eigene Rolle innerhalb des Ganzen keine Rolle, sind die Bewertungen ungeachtet der Informationen abgeschlossen, darüber, wie sich die Tat einordnen, wo sich der Täter einreihen lässt. Letztlich ist es da egal, aus welchem Motiv etwas geschah. Am Ende wird immer punktgenau dort gelandet, wo gelandet werden soll: als Trauermärsche getarnte Hetzjagden.
Viel Information ist vorhanden, anders, als bei vielen anderen Taten, lebt der Täter noch, viel Beschäftigung wird es mit dem 20.12. geben, wie das Gegenlaufende darin Platz finden wird, was werden wir schneller vergessen, den Täter, seine Motive, die Opfer, das Entsetzen, das Paradoxe.
23. Dezember | Montag, 23.12.2024, XLVIV
Rainald Goetz führt seit einiger Zeit ein bemerkenswertes Tagebuch auf Instagram. Am 21.12. schreibt er zum Beispiel »dunkelster Tag des Jahres«. Heute, am »Montag, 23.12.2024, XLVIV« schreibt er: »Und meine Idee, die ich schon sehr lange habe, daß man als Schreiber von Literatur gerade zu den wichtigen, aktuellen Debatten möglichst viel LESEN, aber möglichst wenig selber schreiben sollte.«
Das wäre auch mein Ideal für diese Einträge: viel viel mehr lesen, viel weniger schreiben, viel weniger von dem, was an flüchtigen Fragmenten durch die Gedanken eilt, in Worte übertragen. Besser einen lyrischen Satz pro Tag, der mystisch, unnahbar und deshalb vielsagend den Tag in eine Metapher o.ä. packt, sich nicht gemein macht mit Positionen, Informationen, der gar nicht erst den versucht, etwas erklären zu wollen zu beschreien zu argumentieren, der nicht verstehen will, der kein Verständnis will, der vielleicht nicht mal verstanden werden will.
Aber das klappt leider nicht. Allein schon, weil die Einträge auch Erinnerungskammer sein sollen, wenn man später noch einmal reinliest in 2024: Ach, die Sache mit der Fähre, die hatte ich schon ganz vergessen, stimmt, die Kokosnuss von Kamala Harris gabs ja auch noch etc. Und das lässt sich schlecht als Gleichnis formulieren. Weil es ja passiert ist. Und lasse ich die Beschreibung des Tagesgeschehnisses weg, weil es gewisse ästhetisch-poetische Kriterien nicht erfüllt, dann läuft auch die Metapher ins Leere. Denn dann fehlt ihr der Bezugspunkt, weil ich erst nachschlagem müsste, was damals Geschehnis war, um das lyrische Bildnis in vollem Umfang verstehen zu können.
Und so bleibe ich beim Mischmasch, weil es auch bequem ist, weil tagebuchähnliche Einträge auch von der Pflicht befreien, umfassend, abgewogen und recherchiert notieren zu müssen. Ich kann mich immer auf den Wissensstand des jeweiligen Tages berufen, oder, besser noch, auf den emotionalen Stand des Tages. Eine Art Rüstung ist das.
Dennoch möchte ich gern noch einmal auf gestern kommen, den Satz »…ist vieles bekannt und niemand kann in der Lage sein, den Fall abschließend zu bewerten«. Heute ist noch mehr bekannt über den Täter von Magdeburg; zahlreiche Begebenheiten, durch die er sich bemerkbar machte, in ganz unterschiedlichen Kontexten, zu unterschiedlichen Zeiten, vor Gericht, in sozialen Medien, in Medien, im Berufsleben, durch Warnungen von außerhalb, viele Momente, die Gelegenheiten boten, den Blick auf ihn und seine Absichten zu lenken.
Und dennoch wird reflexhaft gefordert, wird reflexhaft als nun unumgängliche politische Maßnahme an die Wand gepinnt, dass es notwendig wäre, mit weitreichenden Maßnahmen noch mehr Informationen sammeln können. Dabei geht es doch darum, das Vorhandende zu sehen, zu bewerten, zu verknüpfen. Offensichtlich ist es – auch in Bezug auf Weihnachtsmärkte – den Institutionen in diesem Jahr schon mehrmals gelungen, mehrmals ein Eingreifen vor der Tat.
In diesem Fall nicht. Warum das nicht gelang, ob die Vielzahl der so unterschiedlichen Bereiche, aus denen die Auffälligkeiten stammten, das Gesamtbild erschwert hat, daran wird … Ist das ein lyrisches Bild, eine Metapher? Sicher nicht. Sind eher diese flüchtigen Beschäftigungen.
Es hätten auch Zeilen über den Angriff in Görlitz sein können, oder die Kneipenschlägerei in Köln, wie Donald Trump den Panamakanal »zurückfordert«, über Georgien, die Wahl in Rumänen, ttt, das Fairnessabkommen für den kommenden Wahlkampf. Alles Material für die Erinnerungskammer, nichts davon lyrisch, alles ein tagebuchähnliches Eintrag, wenig gefühlt, aber eine A4-Seite Wörter vor Weihnachten. Mehr möchte ich heute nicht von mir verlangen, so kurz vor Weihnachten. Vielleicht doch dieser Moment in der Kirche noch: Wie der Pfarrer beim Gebet die Kinder von Magdeburg nannte, neben den Kindern aus der Ukraine, aus Gaza, aus Israel, dem Sudan.
24. Dezember | Ausdruck verleihen
Da standen sie gestern, die Trauerdemonstranten am Domplatz in Magdeburg und um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen, rufen sie Alice Alice Alice
25. Dezember | der Stadt und dem Erdkreis
Einträge welcher Art zu Weihnachten verfassen? Wie gestern?, passt das zu Weihnachten, der Tag, an dem abgemacht ist, die Welt außen vor zu lassen. Alles eingefroren, die Hauptnachricht ist wie jedes Jahr an diesem Tag Urbi et orbi, die zweite Nachricht ist ein Bericht über die nach den Nachrichten folgende Weihnachtsansprache eines in sich erstarrten Bundespräsidenten, der aus ungünstiger Perspektive den Teleprompter liest, nie schaut er mich an, nur die Worte des Appells, der für ihn geschrieben wurden, versucht er nicht zu verlieren, die dritte Nachricht ist ein tragisches Unglück, über das man nach dem Rotkraut kurz mit den Verwandten spricht. Nichts eingefroren an diesen Tagen, alles geht auch immer weiter, nimmt Anlauf für das kommende Jahr, wir entschieden uns nur anders hinzuschauen, weniger hinzuschauen, was es auch braucht einmal im Jahr einmal im Jahr brauche ich das.
26. Dezember | Musk
Die Nachricht, dass Elon Musk eine Milliarde Geld geboten hat, um Wikipedia zu kaufen. Bei all den viel zu vielen Musk-Nachrichten ist es die, die mich gerade am meisten beschäftigt. Wikipedia, weit davon entfernt zu sein, perfekt zu sein, empfinde ich schon als ein Fundament des Internets, als eines der Elemente, das der einstigen Utopie des Internets – ein universeller Wissensspeicher, der allen zugänglich ist – am nächsten kommt.
Mit Musk als Eigentümer wäre Wikipedia bald eine Ruine. Alle Standards auf Null gesetzt, die Einträge ediert, das Lexikon ein Abbild rechtsextremer und libertärer Wunschvorstellung, die sich so als Realität in Szene setzen würde. Ein weiteres Puzzlestücke, um die Welt abseits ökonomischer und politischer Mechanismen zu seinen Gunsten gestalten zu können; Wahrnehmung, Wissen, Geschichte.
Was Musk macht: überall ein Preisschild drankleben und dann kaufen; Politik, Information, Informationsfluss, Diskurs, Wahrheit, Realität. Was nicht neu ist, was vor ihm schon viele taten, die Koch-Brüder, Rupert Murdoch etc. Was neu ist: die Transparenz, mit der Musk das Kaufen von Dingen tut, die eigentlich nicht käuflich sein sollten. Das Zelebrieren dieses Kaufens, das Feiern der Einmischung, die Inszenierung der Manipulation. Eine doppelte Disruption; der eigentliche Kauf und das Sprechen über den Kauf, ein Sprechen, von denen die Hälfte aller Wörter gekauft sind.
Das Bild, wie Musk damals mit dem Waschbecken in die Twitter-Zentrale einzog, vielleicht das prägnanteste Bild der 2020er Jahre.
27. Dezember | Hupen
Anders, als erst vermeldet, hat kein »Vogelschwarm« eine Passagiermaschine in Kasachstan zum Absturz gebracht, sondern russische Luftabwehrraketen. Auf einer Autobahnfahrt auf einer Autobahnbrücke mehrere Autos, davor Menschen, die Banner ans Brückengeländer gehängt haben; »Es stinkt nach 3. Weltkrieg« und »Hupe, wenn du für Frieden bist«.
28. Dezember | der eichste Mann der Weld
Die WELT AM SONNTAG veröffentlicht einen Meinungsbeitrag von Elon Musk, in dem er – offenbar auf Wunsch von Springer-Chef Mathias Döpfner – seinen Tweet von vor einigen Tagen näher erläutert, »Die Alternative für Deutschland (AfD) ist der letzte Funke Hoffnung für dieses Land«, weil: »Deutschland braucht eine Partei, die sich nicht scheut, den Status quo infrage zu stellen, die nicht in der Politik der Vergangenheit verhaftet ist.« Dazu stellt die WELT einen Contra-Beitrag. Nach Erscheinen kündigt die Leiterin des Meinungs-Ressorts der WELT.
Die Vorstellung, wie Elon Musk mit Federkiel und Tinte an einem Schreibpult sitzt und sich tiefsinnige Gedanken über die politische Zukunft Deutschlands macht und dabei bei Sätzen landet wie: »Die Darstellung der AfD als rechtsextrem ist eindeutig falsch, wenn man bedenkt, dass Alice Weidel, die Vorsitzende der Partei, eine gleichgeschlechtliche Partnerin aus Sri Lanka hat! Klingt das für Sie nach Hitler? Ich bitte Sie!«
Eher die Vorstellung, wie eine Assistentin die Aufgabe bekommt, Prompts wie »Warum die AfD gut für Deutschland ist« und »Warum die AfD nicht rechtsextrem ist« in die hauseigene Grok-KI zu hacken und den Text ungelesen an Mathias Döpfner schickt mit der Bitte um umgehende Veröffentlichung. Eher die Vorstellung, dass Elon Musk inhaltlich eigentlich alles egal ist und angenehm zufrieden zuschaut, wie sich die deutsche Öffentlichkeit zerfleischt über die Frage, ob Kritik an der Veröffentlichung eines Meinungspieces des reichsten Manns der Welt eine Beschneidung der Meinungsfreiheit sei. Das Genießen dieser doppelten Disruption: der Meinung an sich und dem Streiten über diese Meinung.
Später bewirbt Musk seinen WELT-Text auf X und schreibt: »My Opinion Piece in Weld«. Weld.
29. Dezember | Jimmy Carter
Jimmy Carter ist im Alter von 100 Jahren gestorben. In den USA werden die Fahnen für 30 Tage auf Halbmast gesetzt, auch am 20.1.2025 werden sie Trauer anzeigen.
Ich überlege, an welchen amerikanischen Präsidenten ich meine erste Erinnerung habe. Jimmy Carter ist es nicht. Wenn, dann Ronald Reagan. Wenn ich mich versuche zu erinneren, wie ich ihn als Kind wahrnahm, dann als uralten Mann, irgendwie verschrumpelt und ausgetrocknet, auch als eine Art Menschen, der mich an einen Totenkopf erinnerte, niemand, mit dem ich angenehme Bilder verbinde.
An was für politische Bilder aus den ersten Jahren erinnere ich mich, etwas, das ich damals inhaltlich überhaupt nicht einordnen konnte, das mich aber aus anderen Gründen beschäftigt hatte als Kind in den Mitte 1980ern. Tschernobyl schon mal nicht, daran habe ich keine Erinnerung. Gorbatschow, der Fleck auf der Stirn, die Contras in Nicaragua, die Brille Helmut Kohls, das Verbot von Sputnik und wie die Sputniks bei uns lagen. Verschwommen alles nur, Lichthöhlen, die dem Nebel etwas Textur verliehen.
Ich frage mich, wie es für die Kinder heute ist, die 5-10 Jährigen, die einige verwischte Eindrücke mitnehmen werden ins Später. Was wird ihnen im Gedächtnis bleiben von diesem Jahr, von diesen Jahren, welche Bilder werden sich einbrennen, wie werden sie die Personen wahrnehmen, nehmen sie sie heute wahr, werden sie durch die Jahrzehnte mitnehmen.
31. Dezember | Zauberberg-Jahr
Silvester, ein Jahr lang geschrieben. Kein Bedürfnis, mit einem Fazit zu enden. So, als müsste man nur diesen letzten Eintrag lesen um zu verstehen, wie einer von 8000000000 auf 2024 geblickt hat. Was wäre das für ein Jahr, das sich in einem Eintrag zusammenfassen ließe, was wäre das für ein Verständnis von der Welt, diese in zwei Sätzen erfassbar zu machen?
Ich merke nur, dass ich auch erschöpft bin. Nicht nur vom permanenten Aufnehmen von Dingen, die oft weit entfernt von mir stattfanden, die Vor- und Nachgeschichte hatten, Myzels an Begebenheiten, Informationen, Emotionen, Pro/Contras, die es gefettet statt fein in meine Wahrnehmung schafften. Das Aufschreiben selbst hat viel Zeit gekostet, wesentlich mehr Zeit als gedacht, als im Grunde vorhanden für dieses Internetschreiben, das ich zudem kaum nach außen getragen habe. Auch, wenn es ein öffentliches Schreiben war, fand es doch unter Ausschluss einer Öffentlichkeit statt. Was letztlich irgendwie auch beabsichtigt war, weil doch bei vielen Einträgen die Frage an mich war: Warum eigentlich? Warum aufschreiben, was ist meine Befähigung, was für einen Grund könnte es geben, das zu festzuhalten?
Ein Festhalten des Stroms wird es immer auch sein, bei jedem neuen Versuch, eine Art Chronik des eigenen Blickes zu erstellen. Der Titel selbst fluktuierte hin- und her, Übergang ja oder nein, oder besser: Chronik einer Normalisierung, was im Verlauf schon das Ende vorwegnimmt, auch nicht ideal.
Vielleicht denke ich an diesem Jahresende doch an ein Fazit, denke an den Jahresanfang und die großen Demonstrationen und wie am Jahresende der reichste Mann der Weld darüber schrieb. Vielleicht ist das so eine Bewegung, die für dieses Jahr stehen könnte, eine Verschiebung, die einiges von dem zusammenfasst, was hätte sein können und nicht wurde und was nun wird, Verhärtungen, Weichen, Narrative, Dunkelflauten.
Wie weiter? Es würde sich ja schon lohnen, weiter festzuhalten, vielleicht in geringerem Dosen, mit weniger Aufwand. Das, was ab dem 20. Januar im Tagesrhythmus an Grenzübertretungen geschehen wird, das Schlechte, das daraus erwachsen wird, die Wahl im Februar, das Thomas-Mann-Jahr, ein Zauberberg-Jahr, das acht Jahre dauern wird. Wo ich dann bin, wer? Schuhe anziehen, weiterlaufen.