Brombeer Surprise


1. Oktober | asche

So ein Tag an dem was soll ein Eintrag bringen Festhalten der Iran schießt Raketen auf Israel nachdem Israel neben bunkerbrechenden Bomben weitere Bomben über Beirut abwirft nachdem der Libanon Raketen auf Israel schießt nachdem die Hisbollah Raketen auf ein Fußballspiel israelischer Kinder schießt nachdem Israel Gaza angreift Tausende dadurch getötet werden nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober nach dem 7. Oktober dem 7. Oktober Jedes dieser Worte ist eine ungeheuerliche Auslassung eine unzulässige Vereinfachung Das nachdem suggiert eine Folge die mit Logik zu begründen wäre Kein ganzes Land feuert Raketen Regierungen beauftragen Soldaten führen aus Industrielle verdienen Religionsführer fundamentalisieren Kein ganzes Land Niemals jede/r eines Land feuert eine Rakete Jedes dieser Worte bedeutet einstürzende Dächer verschüttete Körper verbrannte Körper Asche Staub Schreie Blut genommene Leben wozu dieser Eintrag

2. Oktober | Vizepräsidentendebatte

Die amerikanischen Vizepräsidentenkandidaten debattieren im TV miteinander. Allgemein wird geurteilt: ein Austausch von Standpunkten, keine Eskalation. Allgemeine Überraschung darüber. Das ist, was überrascht in diesem Wahlkampf, »keinen erratischen Exkurs, keine vernuschelten Satzendungen, niemand wurde beschimpft, nirgends wurden Haustiere verspeist.«

Zweieinhalb Monate sind seit Juli vergangen, und irgendwie habe ich das seitdem abgespeichert, dass die größte Gefahr gebannt ist. Trügerisch, lese ich doch immer wieder von einem »Fotofinish«, penibel aufgelistet die Bundesstaaten, deren Stimmen entscheiden werden, die Betonung darauf, wie ungewiss der Ausgang des 5. Novembers ist, ein ritualisiertes Warten auf die October Surprise.

3. Oktober | Tag der Einheit

Vor zwei Jahren fand der offizielle Festakt zum Einheitstag in Erfurt statt. Auf dem Domplatz war eine Art Volksfest aufgebaut, damals entstand obenstehendes Foto, damals schrieb ich: »Überall die goldroten 2en, die sich einander zuwenden, die Präsentationen der Institutionen, die Infotafeln, die von 32 Jahren einigem Deutschland erzählen. Auf jeder zweiten Säule ein Sportler zu sehen, der einen Pokal in die Höhe stemmt. Dieser Kitsch, dieses Feiern, dem ich mich üblicherweise gern verschließen möchte.«

Ich schrieb auch: »Zugleich möchte ich feiern, weil ich weiß, dass Demokratie Symbole und Rituale braucht, ein Feiern benötigt, dass dieses Feiern dem anderen, dem Die-da-oben-alle etwas entgegensetzt, die Einheitsfeier gegen die Montagsspaziergänge, dass etwas prätentiös und volksfestartig zelebriert werden muss, selbst die zugewandten 2en mit Berechtigung.«

Knapp zwei Jahre findet an genau diesem Ort die Abschlusskundgebung der AfD statt, auf dem Display auf dem Domplatz vor hellblauem Hintergrund Der Osten machts, verfassungsfeindliche Tattoos nur flüchtig verborgen skandieren sie OST- OST- OSTDEUTSCHLAND.

Ein ganzes Regal mit Ostdeutschlanderklärbüchern, die Hälfte mit Spiegel-Beststeller-Sticker auf dem Cover – dabei sind noch nicht mal die Romane dazugestellt – Oschmann, der die Ostdeutschen komplett aus der Verantwortung entlässt, Kowalczuk, der niemanden der Ostdeutschen ungeschoren davonkommen lässt, Mau dazwischen mit den Zahlen, und so viele Erklärungen mehr und dennoch will es mir nicht in den Kopf, dennoch ist es nicht erklärt, Vollende die Wende.

4. Oktober | Maulheldenbataillon

Auf einer Demonstration in Berlin schlägt die Vorsitzende des Bündnis Sahra Wagenknecht die Gründung eines »Bataillons der Kriegstüchtigkeitsmaulhelden« vor, welches sich in der Ukraine »mal beweisen« könne.

In einem Gastbeitrag für die FAZ schreiben die designierten Ministerpräsidenten Sachsens, Thüringens und Brandenburgs, die jeweils mit dem Landesverband des BSW koalieren wollen: »Um Russland an den Verhandlungstisch zu bringen, braucht es eine starke und geschlossene Allianz. Deutschland und die EU haben diesen Weg noch zu unentschlossen verfolgt.«

5. Oktober | Größe

Auf dem Untermarkt in Mühlhausen steht die Divi-Blasii-Kirche, Bach war hier für ein Jahr Organist. An der Fassade der Ostseite hängt ein metergroßes Banner in Regenbogenfarben. So groß ist das Banner, dass es nicht zu übersehen ist. Und gehängt ist das Banner in einer Größe, dass es nicht zu beseitigen ist; abgerissen, mit Graffiti besprüht, überklebt werden kann es nicht. Das Banner ist wegen seiner Größe, wegen seiner Höhe unzerstörbar. Es hängt in aller Größe auf dem Markt, wer auf den Markt kommt, wird es sehen und auch wer gleich wieder wegschaut, die Gedanken sind für Sekunden darauf gelenkt, so groß hängt das Banner, so mächtig. Von außen ist das Banner nicht abzuschaffen. Nur von innen wäre es möglich.

6. Oktober | Einbahnstraßen

Bett
Bett und Seife
Seife
Seife und Brot
Bett
Bett und Brot
Bett und Seife und Brot und
zwei Bewunderer

7. Oktober | 1000€

1000€ soll es für Bürgergeldempfängerinnen geben, wenn sie einen Job ein Jahr lang behalten. Ich weiß zu wenig, um beurteilen zu können, ob das eine in der Sache hilfreiche Maßnahme ist. Was ich aber hoffe: Dass diejenigen, die das vorschlugen, dazu stehen werden. Und sich bewusst sind: Wenig triggert gerade das Ungerechtigkeitsempfinden »der Deutschen« mehr als Bürgergeld. Und 1000€ extra für ein Jahr lang gearbeitet zu haben, ist etwas, das die Triggermaschine rotieren lassen wird.

8. Oktober | Schwarzer Schabbat

Ich schlage die erste Doppelseite der Süddeutschen Zeitung von Dienstag auf. Ein Jahr zuvor war ich unterwegs gewesen, las nur früh etwas von einem Überfall, im Laufe des Tages kein Blick mehr auf die Nachrichtenportale. Am Abend, bei einer Zusammenkunft, sprach jemand aus meiner Familie, ein Pfarrer, der vor einigen Jahren die heiligen Stätten seiner Religion bereist hatte, gleich zu Beginn einer Rede, die eigentlich etwas anderes zum Thema hatte, vom Schrecklichen, der Eskalation, dem Krieg. Es hatte sich ihm gleich erschlossen, was dieser Tag bedeutete. Mir nicht. Mir erst später.

Ich schlage die erste Doppelseite der Süddeutschen Zeitung von Dienstag auf. Auf Seite 2 das Schicksal der Geiseln, das Leid, das Gedenken an die Opfer des Massakers, verübt von der palästinensischen Hamas, die Proteste gegen die Regierung, die Wut auf den Premierminister, die privaten Zeremonien, die ohne Publikum abgehaltene offizielle Gedenkfeier, immer wieder die Trauer, die Wut. Auf Seite 3 eine Reportage über die Lage in Beirut, das Leid der Flüchtenden, ausgelöst durch die Angriffe der israelischen Armee, die überfüllten Orte, die Geschichte des Landes, Syrien, Iran, Hisbollah, immer wieder die Geflüchteten, das Leid. Eine Doppelseite, aufgeschlagen, nur ein Bruchteil Licht in das vergangene Jahr.

Was ich, neben vielen anderem, mehr nicht ertragen kann, ist Greta Thunberg auf den anderen Demos. Vor einigen Jahren erschien in der Reihe »Little People, Big Dreams« ein Band mit ihr als Protagonistin, auf dem Cover eine Illustration, die sie im ikonischen(?) gelben Regenmantel zeigt. »Little People, BIG DREAMS erzählt von den beeindruckenden Lebensgeschichten großer Menschen« heißt es über die Reihe, in der es ebenfalls Bände über Rosa Parks, Anne Frank, Marie Curie gibt. Greta Thunberg in einer Reihe mit ihnen. Und so ist das: Manchmal lässt sich eine Heldinnengeschichten erst nach dem Ende erzählen. Wenn es denn eine ist.

Ich sehe, wie Greta Thunberg über Krieg spricht, es ist die gleiche Art, wie sie fünf Jahre zuvor sprach. Damals über Klima und das CO2 und das Öl und die Industrie und die Politik und die Erwachsenen, die gleiche Entschiedenheit, das Absolute, etwas, das mich damals einnahm, das ich in dieser Konsequenz und Unerbittlichkeit für zwingend hielt, das Unversöhnliche eine Notwendigkeit, um irgendwie mal voranzukommen.

Heute stößt es mich ab. Doch wage ich nicht, das Absolute von damals zu hinterfragen, weil ich es weiterhin für unbedingt nötig halte in Sachen Klima. Nur könnte ich es gerade nicht ertragen, wenn Greta Thunberg vom Klima sprechen würde.

9. Oktober | Wir sind das Volk

Heute großer Festakt in Leipzig, 35 Jahre Demonstration auf dem Ring, ein Abend, eine Nacht, ohne die die Wiedervereinigung nicht denkbar gewesen wäre. Anke zeigt dort eine Installation. Sie hat alte Fotografien bearbeitet, Protestierende mit Schildern und Transparenten. Die Schilder hat sie freigestellt, weiße Flächen in den s/w-Fotos von damals, damit an diesem 9. Oktober die Leipzigerinnen darauf schreiben können, was sie heute fordern würden.

Als wir vor einigen Wochen über die Aktion sprachen, sprachen wir auch darüber, wie der Umgang mit allen möglichen Arten von Protestschriften sein könnte. Können Querdenkenparolen, kann AfD-Sprech Teil der Kunst sein, muss sogar, weil es Teil dessen ist, was gerade ist, wann ist ein Eingreifen notwendig. Die Wahrscheinlichkeit, so unsere Meinung, ist ja da, dass jemand einen Galgen malt o.ä.

Wie würde ich denken, wenn heute jemand »Wir sind das Volk« auf die Transparente von damals schreibt? Diese vier Worte haben seit dem 9. Oktober mehr Transformationsprozesse erfahren als Bitterfeld. Es ist ein anderes Wir, das gemeint ist, so anders als damals. Ich könnte es nicht schreiben.

10. Oktober | Milton

Meteorologen erklären, weshalb es schlecht ist, wenn der Druck in einem Wirbelsturm unter 900 hPa fällt. Klimaforscher erklären, weshalb Hurrikan Milton so viel Energie aufnehmen konnte und weshalb das zukünftig immer öfter passieren wird. Der amerikanische Präsident erklärt: »Es ist eine Frage von Leben und Tod.« Donald Trump erklärt, dass der amerikanische Präsident keine Hilfen für Hurrikanopfer bereitstellen will und dass die Vizepräsidentin Notfallmittel des Bundes gestohlen und für die Unterbringung illegaler Einwanderer ausgegeben hat. Eine republikanische Abgeordnete erklärt, dass die amerikanische Regierung das Wetter steuert. Andere Verschwörungstheoretikerinnen erklären, dass Wolken geimpft wurden, um so einen Sturm zu erzeugen, der Trumpwählerinnen vom Wählen abhalten soll. Floridas Gouverneur Ron DeSantis erklärt, dass der Kampf gegen den Klimawandel in Florida eine geringere Priorität hat und weitgehend aus den staatlichen Gesetzen verschwinden soll. Joseph Malinowski aus Tampa erklärt, dass er bei einem Hurrikan Stufe 5 hinaus aufs Meer segeln will und keine Schwimmweste anlegen wird.

11. Oktober | persönlich beleidigt

Fachtag Literatur in Erfurt. Der Minister für Kultur Thüringens hält die Eröffnung, er wird als »geschäftsführend« vorgestellt. Am Mikrofon sagt er: Schauen Sie mich nicht an, als wäre ich totkrank. Ich sterbe nicht. Das ist ein normaler demokratischer Prozess; man wird gewählt, man wird abgewählt.

Später spricht Jan Philipp Reemtsma. Sinngemäß sagt er, dass Literatur keinen Zweck verfolgen solle und keine Auswirkungen in die Belange der Gesellschaft habe. Während ich ihm zuhöre, denke ich an ein Gefühl. Ich spürte es in den Tagen nach dem 1. September. Ich schrieb darüber an dieser Stelle nicht, weil es auch entblößend war, auch blöd, dieses Gefühl.

Nach dem 1. September fühlte ich mich neben vielem anderen auch persönlich beleidigt. Beleidigt von den Thüringerinnen und Thüringern, ihrem Wahlverhalten. In den Jahren zuvor hatte ich an vielen Orten im Land gelesen, war an Projekten beteiligt gewesen, hatte mit Anderen geplant, Lesungen moderiert und veranstaltet, Podien, hatte mit Anderen Räume des Austauschs von Gedanken, Gelegenheiten zum Zuhören und Sprechen geschaffen. Niemals im Auftrag einer Partei, eine Überzeugungsabsicht war nicht Grund solcher Veranstaltungen gewesen. Doch schwang ab und an die Hoffnung mit, dass diese Gelegenheiten zeigen sollten, dass die Welt komplex ist und Widersprüche bestehen und Gewissheiten nicht existieren und es ein Spektrum an Perspektiven gibt und das gut ist und auszuhalten und notwendig. Und ja, in dieser Hinsicht sollten diese Veranstaltungen Stunden der Erinnerung daran sein. Und ich spürte eine tiefe Enttäuschung nach dem 1. September, weil das Wahlergebnis dies nicht widerspiegelte. Ich hatte so viel gehört in diesen Räumen und auch ein kleines bisschen zu diesen Räumen beigetragen und dann wurde doch anders gewählt! Ich fühlte mich persönlich angegriffen.

Wie gesagt, ein blödsinniger Gedanke, ein Gefühl geprägt von Hybris. Aber es war da, neben Vielem mehr. Dann höre ich Jan Philipp Reemtsma und erinnere mich an sechs Wochen zuvor und spüre auch Erleichterung, die dieser 1. September brachte: zukünftig befreit vom Zweck, befreitet von der Erwartung, ein kluger Satz in einem Text, eine rhetorisch überzeugende Gegenrede auf einem Podium, eine gelungene Metapher müsste in dem Moment, in dem ich sie schreibe / sage mehr sein als das, was sie ist: Sprache.

12. Oktober | Flagge

Nach mehreren Angriffen (u.a. mit Hakenkreuzflagge ersetzt) auf die am Bahnhof gehisste Regenbogenfahne hat die Stadtvertretung auf Antrag die rechtspopulistische Wählervereinigung »Stabile Bürger für Neubrandenburg« mit den Stimmen der AfD und des BSW entschieden, die Fahne zukünftig nicht mehr an den stadteigenen Masten zu hissen.

Ein Szenario, das seit einiger Zeit immer wieder imaginiert wird: Sollten Rechtsautoritäre in Deutschland an die Macht kommen, wie sähe das aus? Vorstellungskraft braucht man dafür auch nicht mehr.

13. Oktober | vielleicht ein paar tausend Stimmen

Immigrants commit horrendous crimes because: »it’s in their genes«, they are »animals«, »stone cold killers«, »worst people«, »enemy from within«, »they’re poisoning the blood of our country.« Sagt Donald Trump, das meiste davon im Endspurt des Wahlkamps. Auf seinen Rallys zeigt er Fotos von Nichtweißen, die Menge buht. Lupenreiner Faschismus, dieses they, diese Abwertung, die Genetik, diese Gewalt in der Sprache. Dazu die Gewalt, den Einsatz von Militär, die er ankündigt, sollte er am 5. November nicht gewinnen. Etwa die Hälfte der Wahlberechtigten will ihn wählen. In aktuellen Umfragen wird es knapp, er »zieht gleich«, die Entscheidung fällt in ein zwei drei Bundesstaaten, dort hängt es von zehntausend von 160 Millionen, vielleicht ein paar tausend Stimmen ab, ob dieser offenkundige Faschismus Staatsgewalt wird.

Ein Grund, diese Einträge über das Jahr 2024 zu schreiben, war die Wahl im November, quasi als Beleg der These für ein Jahr, das im Rückblick als ein Übergang gesehen werden könnte. Nach dem Pessimismus im Sommer dann ein leichtes Entspannen, das mittlerweile verflogen ist, auch, weil das Offenkundige immer offener formuliert wird und trotzdem gerade deswegen auf erhöhte Zustimmung stößt.

14. Oktober | its pointless its hilarious

Kürzlich ein Interview, Tucker Carlson sitzt mit Elon Musk, der aktuell trumpkritische Äußerungen von X löschen lässt und seine StarLink-Satelliten der russischen Armee zur Verfügung stellt, in einem matrixweißen Raum. Zu Beginn ein Warm-Up, angeblich wie nebenbei gefilmt, Carlson sagt Musk, dass dieser wohl geliefert sei, wenn Trump nicht gewinne, beide lachen, lachen mehrmals, als Musk über seine mögliche Gefängnisstrafe spricht, das Lachen schüttelt ihre Körper, die Gesichter laufen vor Feixen rot an, Hände krampfen kichernd um Schenkel, Halsschlagadern pulsieren in Freude. Gackernd sprechen sie darüber, warum eigentlich niemand Kamala Harris ermorde, immer wieder unterbrochen vom Feixen, »its pointless«, »its hilarious«. Ein Glucksen von Zweien, die sich sicher fühlen, so unangreifbar, wissen sie genau, über was sie reden, wo sie das tun, vor wem, sie reden genauso.

Ich muss (wieder) an den Sommer denken, an El Hotzo und sein X-Tweet nach den Schüssen am 13. Juli und was das für Debatten gab, wie ich daraufhin auch hier nach ethischen Grundsätzen fragte. Und wie unterschiedlich die Aufmerksamkeit über dieselbe Thematik im Fall eines Internetkomödianten verliefen. Und nun im Fall verlaufen eines sehr einflussreichen Moderators und einem der reichsten Männer der Welt, der mit seinen Mitteln massiv Einfluss auf Krieg und Kommunikation nimmt, wie da Verhältnisse von Macht sind und als ich zu einem Schluss kommen will, höre ich ein Lachen, ein Gackern über solche Gedanken, ein Feixen von Königen der Welt, »its pointless«, »its hilarious«.

15. Oktober | SPD 95%

Die SPD geht in den Wahlkampf für das kommende Jahr mit Steuerreform, Vermögenssteuer u.a., so dass »am Ende etwa 95 Prozent der Steuerzahler durch eine Einkommenssteuersenkung mehr Geld in der Tasche haben … da geht es um die arbeitende Mitte, um die arbeitenden Familien in diesem Land.«

Wie ist das zu wissen: Da ist die Absicht. Und da die Wahrscheinlichkeit, mit der diese Absicht umgesetzt werden wird. Weil: In den vergangenen 26 Jahren war die SPD 22 Jahre an der Regierung beteiligt. Was wurde umgesetzt? Was konnte, wollte, geschah?

Und: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die SPD im kommenden Jahr allein regieren wird und damit allein entscheiden kann? Wie groß die Wahrscheinlichkeit, dass sie als halber Junior mit der CDU regieren wird, dessen Vorsitzender kürzlich erst mehr Respekt vor Besserverdienenden einforderte, ein Vorsitzender, für den ein Monatseinkommen von 15.000€ zum Mittelstand gehört etc.

Wie groß die Vorstellungskraft – Vermögenssteuer, Entlastung aller außer der Überreichen? Wie groß also die Illusion? Wie groß die Hoffnung? Wie groß die Hoffnung, damit ein Thema setzen zu können, das bis September 2025 alle Parteien dazu zwingt, sich dazu zu äußern? Wie groß die Bereitschaft, ein Jahr lang so davon zu reden, als könnte das geschehen, damit ein Teil davon geschehen könnte? Wie groß die Ableitung aus Erfahrungen der Vergangenheit? Wie groß das Wissen um Maximalforderungen, um überhaupt in Verhandlungen gehen zu können? Wie groß das Wissen um die Notwendigkeit von Kompromissen? Wie groß das Wissen: Das eine ist Wahlkampf, das andere die Zeit danach, wie trenne ich emotional beides notwendigerweise? Wie groß zu sehen: Sozialer als gerade wird es auf absehbare Zeit nicht werden.

16. Oktober | Corona aufarbeiten

Vor etwa zwei Jahren saß ich mit B und A in einer Kirche in Weimar, A spielte Musik, B las aus Gedichten, ich Auszüge aus meinem Coronatagebuch, das ich zwei Jahre entlang der Pandemie geführt hatte. Es waren nicht viele Besucherinnen anwesend, auch tags darauf in Jena nicht. Es waren Abende, die mich viel Kraft kosteten, nicht unbedingt des Lesens wegen, sondern, weil sich zwei Jahre in jeweils einer Stunde ballten; all das Verzichten und das Ungewisse, die Angst und die Wut, das Verstörende und das Erhellende, die Zweifel und die Entscheidungen, getroffene und vermiedene, die Gespräche, Brüche, Diskussionen, dieses gesamte Spektrum von absoluter Überhitzung und vollkommener Erstarrung.

Wir sprachen danach nicht viel. Was wir uns sagten, mir schien es, dass die Anwesenden ebenso fühlten. Und mir schien auch, dass wir – im September 2022 – noch nicht bereit dafür waren, uns darauf einzulassen, was eben noch die Welt so erschüttert hatte, unseren Alltag, unsere Berufe, unsere Leben. Und dass es eine Zeit geben würde, geben musste, in der wir das miteinander teilen würden.

Gerade wieder ist verstärkt die Rede von »Aufarbeitung der Coronazeit«, ein solcher »Corona-Untersuchungsausschuss« ist auch Teil von politischen Forderungen, die gestellt werden, damit Regierungen in den drei ostdeutschen Ländern gebildet werden können. Ohnehin wäre bei einem solchem »Ausschuss« der Grat schmal zwischen Tribunal, Spielball politischer Gegner und ernsthaftem Interesse an einer Beschäftigung. Vor Augen habe ich Plakate von den Spaziergängen, Protagonisten dieser Zeit in Häftlingskleidung, der Wunsch, Einzelne verantwortlich zu machen für einen Einschnitt, ein Dürsten nach Rache, Abrechnung.

Ich hoffe, dass sich Formen finden werden, die über politische und juristische Beurteilungen hinausreichen. Ich hoffe, dass es uns gelingt, Räume für den Austausch und das Erinnern zu schaffen und glaube, dass diese Räume nur bedingt von Richterinnen und Politikern geschaffen werden können. Und ich hoffe, dass sich ein anderes Wort findet als »Aufarbeitung«, weil wir die Coronazeit damit einreihen in Epochen menschengemachter Schrecken.

17. Oktober | Exil

V. zu Besuch. Sie kommt aus Belarus, lebt seit 2020 im Exil. In ihr Heimatland kann sie nicht zurückkehren. Sie sagt, dass neunzig Prozent ihrer Künstlerfreund*innen im Ausland leben – sie macht eine Pause – oder im Gefängnis sitzen – längere Pause – oder tot sind.

und immer öfter spreche ich mit motten und vögeln
sie fragen nicht nach irgendetwas
sie sind einfach da
und erlauben
mir
einfach da
zu sein

schreibt sie in einem Gedicht und ich denke, wie viel in diesen Einträgen hier nicht stehen wird.

18. Oktober | syrisches Display

Ich gehe zum besten Imbiss der Stadt, der Inhaber stammt aus Syrien. Was er anbietet, fliegt meilenweit über dem kulinarischen Rest. Der Inhaber ist freundlich, er scherzt gern, hat ein gutes Wort für jeden. Im Verzehrraum hängt ein Fernsehbildschirm. Musikvideos laufen, letztens eine Reportage, in der eine Frau über ein Feld spazierte und mit Feldarbeitern sprach.

Gestern zeigte das Display Nius an. Julian Reichelt saß dort mit seinen Vasallen, Waldemar Waldi Hartmann vielleicht der Typ mit der Schirmmütze ein Ex-Bildredakteur ein Ex-NZZ-Schreiber eine Frau. Der Migranten-Liveticker lief, der seit Anbeginn von Nius auf Nius läuft. Der Ticker zeigt jede Straftat an, die ein Arabischstämmiger begeht, jedes Messer listet der Ticker froh und penibel auf, arabische Asyldystopien im Sekundentakt, ein fortlaufender Kriminalitätsticker, exklusiv vorbehalten für Arabischstämmige und solche, die so aussehen könnten. Und auch, wenn es viele soziologische Erklärungen geben könnte, auch, wenn es falsch ist, das Syrische, das Arabische auf das Beispiel eines Imbiss und seinen Inhaber zu reduzieren, und auch, wenn es vielleicht naiv ist, die letzten beiden Halbsätze des Eintrags zu schreiben, war ich sehr irritiert, dass im syrischen Imbiss auf dem großen Display Nius gezeigt wurde.

20. Oktober | noch in dieser Woche

Anstatt zu reden lässt Donald Trump auf einer Wahlkampfveranstaltung seine Lieblingslieder spielen: Ava Maria, YMCA, Nothing Compares 2 U, Hallelujah, Time to say goodbye oder It‘s a Man‘s World. Elon Musk vergibt jeden Tag eine Million Dollar für jene, die eine Onlinepetition zur freien Meinungsäußerung und das Recht auf das Tragen von Waffen unterzeichnen. Israelische Soldaten töten Hamas-Führer Sinwar. Polen kündigt an, das Asylrecht auszusetzen. Italien beginnt mit der Inhaftierung von Geflüchteten in Albanien. Das sogenannte Sicherheitspaket wird im Bundesrat abgelehnt. Um »die traditionelle Familie zu schützen« stellt die italienische Regierung die Nutzung einer Leihmutterschaft auch im Ausland unter Strafe. Russland verbietet »Propaganda von Kinderlosigkeit«, um »einen einheitlichen Rechtsrahmen zum Schutz von Kindern, Familien, traditionellen Werten« zu formen.

21. Oktober | Tatort-Autor rastet aus, weil er nicht gewinnt

Martina Hefter gewinnt den Deutschen Buchpreis, woraufhin der ebenfalls nominierte Clemens Meyer auf die Jury schimpft »Ihr verdammten Wichser«, was Buchmessegespräch wird, was ein Interview nach sich zieht, in dem Clemens Meyer über seine Schulden spricht und dass der Buchpreis viel Geld mit sich bringe und er das Geld gebrauche könne und nicht verstehe, weshalb sein Buch, das in der Tradition Döblins geschrieben sei, gewonnen habe, was jede Menge Reaktionen hervorruft und BILD darüber schreibt: »Tatort-Autor rastet aus, weil er nicht gewinnt.«

Und das hätte ich eigentlich am Sonnabend geschrieben haben wollen und geschrieben, dass es auch mal wieder schön ist, der Aufführung eines literarischen »Eklats« beiwohnen zu können, der nicht tellkampisiert ist und bei dem nicht Thema ist, was noch gesagt werden darf, der also nicht politisch aufgeladen ist, sondern wobei es um Eitelkeit geht, um Selbstüberschätzung, boulevardesk auch und damit unterhaltsam, vielleicht nachvollziehbar in der spontanen Wut und in der abgekühlten Wut wiederum nicht, einen Vorfall, anhand dessen man die Unzulänglichkeit von Sportwettkämpfen in der Kunst hätte diskutieren können – was, wenn »Hey guten Morgen, wie geht es dir?« einen ersten Platz verdient hätte und »Die Projektoren« auch und »Vierundsiebzig« ebenso und »Hasenprosa« sowieso und dreißig weitere Bücher, die auf ihre Weise die besten eines Jahres (Januar-Dezember) gewesen wären – oder diskutieren über die ökonomische Situation von Autor*innen (5,7 Prozent können vom Schreiben leben, 2/3 davon schreiben Drehbücher) oder über den Kanon sprechen und was ein »literarisches« Werk ausmacht oder so.

Jedenfalls keine Politik. Aber in den Entgegnungen auf »Ihr verdammten Wichser« wird vollkommen zurecht darauf verwiesen, dass deswegen nun hauptsächlich darüber gesprochen wird und wenig über die Gewinnerin, verwiesen auf fragile Männlichkeit und Anspruchsdenken, darauf, wie Sichtbarkeit eigentlich hergestellt wird, wer sie herstellt, wie sie früher hergestellt wurde, wie das die Wahrnehmung von Literatur, damit den Kanon, damit die Ökonomie beeinflusst hat und natürlich ist das dann etwas zutiefst Politisches, die wenig neue Erkenntnis, alles ist das.

22. Oktober | Donald McDonald

Donald Trump steht in McDonalds und … wieder in die Falle getappt. Wieder wider besseres Wissen über Trump schreiben, reinfallen auf die Ablenkung, das Spiel mit den Bildern, dem Trash, Opfer einer Aufmerksamkeitsökonomiestrategie, die seit neun Jahren wirkungsvoll arbeitet. Trump in McDonalds wahrnehmen und nicht darüber schreiben, wie Russland in Moldau die Wahl zur EU-Mitgliedschaft manipuliert, wie die italienische Regierung die Justiz aushebelt, nicht schreiben über den Grundsatzkampf zwischen Sahra Wagenknecht und ihrem Thüringer Landesverband, nicht schreiben, wie Höcke und ein weiterer Rechtsextremer in Gera Daumen-Hoch-Fotos machen. Weil Trump in einem McDonalds steht.

Trump steht in einem McDonalds und schaufelt Freedom Fries in eine rote Verpackung und reicht sie zu Trumpwählerinnen aus dem Drive-In-Schalter, weil Kamala Harris – so wie jede/r achte Amerikaner/in mal in einem McDonald gearbeitet hat – und Donald Trump sie der Lüge bezichtigt, das ist die unwesentliche Hintergrundgeschichte. Der Rest des Textes schreibt sich von selbst, weil der Widerspruch so offensichtlich ist: jemand wie Trump, der für seinen Lebensunterhalt Pommes Frites frittieren müsste, jemand im Anzug nahe von Frittenfett, die größtmögliche Distanz – Präsident, Fast-Food-Filiale, vom Frittenbrater zum Milliardärspräsidenten, der amerikanische Traum als Happy Meal.

Die popkulturellen Bezüge sticken sich perlengleich auf diesen Text, die Metaebenen geben sich die Hand, die Bilder stellen sich zu den Bildern – Präsident Trump, der zu einem Empfang ins Weiße Haus geladen hat und mit kafkaeskem Grinsen vor einem Tisch steht, der über und über beladen ist mit Fast-Food-Produkten, ein Bild wie aus einem David-Lynch-Film. Präsident Trump im weichen weißen Leder der Air Force One mit einem saftigen Big Mac. Und jetzt eben das Bild, wie Trump mit Schürze über Anzug und roter Krawatte aus dem Fenster des Drive-Ins winkt, ein Bild wie von Edward Hopper, wie ein Schablonengraffito von Banksy. Es stellen sich die nicht veröffentlichten Gesundheitsdaten von Trump dazu, das Wissen um seine Essgewohnheiten, all die Fun Facts, zum Beispiel, dass Ronald McDonald in Japan »Donald McDonald« heißt.

Donald McDonald. Peak Aufmerksamkeitsökonomie, unmöglich, das nicht zu wahrzunehmen und nichts abzugleichen und nichts dazu zu denken/schreiben, ein Faschist (13/10) in der Frittenbude, unterhaltsam, vielleicht am Ende das eine Bild, das ihn am 5.11. über die Ziellinie bugsiert.

23. Oktober | Bad Langensalza oder Pjöngjang

Währenddessen in Thüringen: Nachdem seine Partei bei der Landtagswahl 1,1% erhalten hat, wird Thomas Kemmerich als Vorsitzender des Thüringer Landesverbands der FDP wiedergewählt. Bodo Ramelow, geschäftsführender Ministerpräsident, schließt sich der »Aktion Silberlocke« an, will als einer von drei älteren Prominenten der Die Linke im nächsten Bundestagwahlkampf ein Direktmandat gewinnen und damit der Partei den Wiedereinzug ins Parlament sichern.

Und die Regierungsbildungsgespräche. Man hört, dass die drei Parteien miteinander wollen, zumindest zwei davon, und einer von zweien ist das BSW, zumindest der Landesverband, man liest, dass ein Sondierungspapier, das Vorstufe ist für die eigentlichen Koalitionsgespräche, geschrieben wurde. Man war miteinander übereingekommen, zumindest, bis das BSW kurz nach Präsentation neu darüber verhandeln wollte, nicht auf Wunsch des Landesverbandes, sondern auf Wunsch von außen, weil: Frieden.

Deshalb erscheinen gerade besonders viele Porträts über Sahra Wagenknecht und beschäftigen sich mit ihren 35 Jahren in der Politik. Dagegen wird die Vorsitzende des Thüringer Landesverbands gesetzt und zwei sehr unterschiedliche Arten, Politik anzugehen, kommen zum Vorschein: eine, die konkret Politik im Kommunalen gemacht, die sich mit anderen Meinungen auseinandergesetzt hat und Übereinkünfte hat finden müssen. Und eine, die das nicht musste, die, so die Porträts, das konkrete Gestalten scheut wie Weihwasser, sondern eine, die Politik über Diskurs gestaltet und beides, so die Porträts, prallt nun aufeinander und entzündet sich an der Frage von Russland/Ukraine.

Der große Widerspruch, die schon im Kern der Gründung des Thüringer Landesverband und im daraus resultierenden Wahlkampf angelegt ist, trifft auf Realpolitik: Natürlich lässt sich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine nicht von Thüringen aus steuern, noch so viele Präambeln können dazu geschrieben, noch so viele Scheingefechte für »Frieden« und gegen Raketenstationierungen ausgetragen werden.

So vermuten die Porträts, dass der nächste Widerspruch ist: die Landesverbände wollen Teil einer Regierung sein, die Bundesspitze will nicht, dass die Landesverbände regieren, weil damit die Politik des Diskurses beendet zumindest geschwächt wäre. Und gäbe es diesen Widerspruch – Regieren/Nichtregieren – wäre er nur aufzulösen in einer internen Auseinandersetzung, die eine Gewinnerin, eine Verliererin bedeuten würde, so die Porträts.

Diese regionalen Geflechte, getragen auch von Ahnungen und Andeutungen, Auseinandersetzungen vor der Haustür, deren Ergebnis die Zukunft dieser Haustür bestimmen wird, kollidieren für mich überfordernder Weise mit der Weltpolitik: Nordkorea schickt zehntausend Soldaten auf Seiten Russlands in den Krieg, die BRICS-Staaten hofieren Putin, der »Westen« genehmigt Milliardenkredite für Russland und nächste rote Linien werden definiert und dazwischen ein politischer Machtkampf in Erfurt, der im Fall, dass Sahra Wagenknecht ihn für sich entscheiden sollte, wie ein zehntausenderster nordkoreanischer Soldat wäre.

Dazu: Dieses Weltthema lärmt so laut, dass es das übertönt, was in den nächsten fünf Jahren vor der Haustür werden soll. Nicht die Raketen sollten interessieren, sondern: Welche Krankenhäuser werden geschlossen? Welche Feuerwachen modernisiert? Wird das Mittagessen im Kindergarten kostenlos? Wie ist das mit sinkenden Schülerinnenzahlen? Mit der Förderung von Demokratieprojekten? Der schnelleren Zusagen für Referendarinnen, die sich in Thüringen um eine Stelle bewerben?

Aber der Bogen spannt sich leichter nach Kiew – Moskau – Pjöngjang – Washington als nach Bad Langensalza, der Konflikt einer maroden Feuerwache lässt sich schwerer erzählen als Sahra Wagenknecht, die wiedermal eine Partei zerstört, diesmal die eigene.

24. Oktober | tägliches Ablegen

Ein Nachtrag zu gestern. Ich hätte mehr schreiben können über den Stand der Gespräche, mehr Eindrücke, Informationen, mehr Hörensagen. Es wären natürlich keine aufregenden Coups gewesen, aber vielleicht Sätze, die ein verbindlicheres Bild gezeichnet hätten. Das soll kein Raunen sein, kein Kokettieren mit irgendwelchen Hinter-den-Kulissen, sondern

Es bringt mich – nicht zum ersten Mal – zu der Frage: Was zum Teufel mache ich hier eigentlich? Über was schreibe ich? Und wie tue ich das? Das ist ja kein Journalismus, ich sichere nichts ab. Ich lese mir etwas an und in manchen Momenten erlebe ich etwas. Das findet hier Eingang: Beobachtungen von selbsterlebten Situationen, die irgendeinen Bezug zu Politik/Gesellschaft aufweisen. Manchmal Beobachtungen von politischen Prozessen, bei denen ich auszugsweise anwesend sein kann. Und meistens die Beobachtung von außen, die Wahrnehmung, wieAandere politische Geschehnisse wahrnehmen und was sich aus dieser Wahrnehmung ableiten lassen könnte.

Eigentlich dachte ich: In diesen Einträgen bin ich frei. Sie haben keine Relevanz, sie sind nur ein tägliches Ablegen von ganz subjektiven Eindrücken, für die ich nicht weiter recherchiere und die deshalb auch keinen Anspruch auf irgendetwas erheben. Das ist sehr befreiend, eine Entschuldigung für alles. Gestern war der Punkt erreicht, an dem dieses Konzept an Grenzen stieß.

Ich beginne zu verstehen, warum ich nicht immer das lese oder sehe, was gerade geschehen ist. Weil: Wenn ich es lese, muss ich auch sicher sein, dass derjenige, der es geschrieben hat, es auch abgesichert hat. Nicht immer lässt sich ein Hintergrundgespräch, eine Beobachtung, ein wie nebenbei eingeworfener Satz bestätigen. Manchmal braucht es das Warten, braucht es Zeit und drei weiterer solcher Sätze, bis geteilt werden kann.

25. Oktober | debilitating impacts

Gezögert, das zum Thema dieses Eintrags zu machen. Weil es sich so moralisch anfühlt. Weil jeder davon weiß. Was bringt es, das noch einmal aufzuführen? Warum nicht besser über die Washington Post schreiben und deren Weigerung, eine Wahlempfehlung auszusprechen, auf Wunsch von Besitzer Jeff Bezos? Oder Elon Musk und seine Kontakte zu Putin erwähnen? Wie Trump sich Generäle wie bei Hitler wünscht? Wie Tucker Carlson auf einer Trump-Wahlkampfveranstaltung davon spricht, dass Väter ihre Töchter schlagen sollen? Nochmal über die nordkoranische Armee im Krieg gegen die Ukraine? Wie die AfD-Fraktion in Sachsen-Anhalt das Bauhaus als »Irrweg der Moderne« sieht und im Landtag einen entsprechenden Antrag zur kritischen Neubewertung stellt? Wie ein CDU-Landtagsabgeordneter in Sachsen-Anhalt einem Politiker der Grünen ein Bild mit drei Pistolenkugeln widmet? Wie das BSW in Sachsen mit der AfD für einen »Corona-Ausschuss« stimmt und deshalb die Koalitionsgespräche ausgesetzt werden?

Das Wichtige ist: Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen schreibt im Emissions Gap Report 2024: »A failure to increase ambition in these new Nationally Determined Contributions and start delivering immediately would put the world on course for a temperature increase of 2.6-3.1°C over the course of this century. This would bring debilitating impacts to people, planet and economies.« 

26. Oktober | schließende Kreise

Israel bombardiert Iran – »präzise Angriffe auf Anlagen zur Raketenproduktion, Luftabwehrsysteme und andere militärische Einrichtungen«, heißt es, womit sich der Kreis schließt zum ersten Eintrag dieses Monats, Iran bombardiert Israel. Der Irrglaube, dass damit etwas abgeschlossen wäre, das eine wäre eine Reaktion auf das andere und damit wäre die Kausalkette beendet. Aber die Sache mit schließenden Kreisen: Nichts ist abgeschlossen, weiter, immer weiter.

27. Oktober | Bilderbuchtag im Herbst

Im Herbst im Park, zwischen gefallenen Blättern, auf einer sattgrünen Wiese, im Teich die Enten, Kinder klettern auf Bäume, Erwachsene führen Hunde aus oder nach Weimar angereiste Verwandtschaft etc. In diesem bilderbuchhaften Herbstnachmittag dringen Geräusche: aus der Ferne laute Stimmen, durch Flüstertüten hindurch verstärkte Slogans, ein gemeinsames Rufen – eine Demo, von der nach mehrmaligem Skandieren deutlich wird: gegen rechtsextrem.

Mein erster Gedanke: Heute nicht. Heute will ich im Park im Herbst sein zwischen gefallenen Blättern und auf einer sattgrünen Wiese, bilderbuchhaft. Aber keine Politik, heute nicht. Mal ein Tag ohne Nachbereitung des 1. Septembers oder Vorbereitung auf 5. November oder Neues aus einem der Kriege oder Vermeidung der Besprechung der sozialen Frage etc.

Ich denke daran, wie ich kürzlich darüber las, dass viele in den USA die Wahl kaum erwarten können, weil dann die Wahlwerbung vorbei sein wird, dieses ständige Vermitteln von Positionen, die ständige Notwendigkeit, sich positionieren zu müssen, dieses permanente Benennen von Extremen – Migrantinnen, die ein Land überrennen und uns auslöschen wollen, ein Faschist, der Freiheit, Demokratie und Menschenrechte abschaffen wird. Dieses permanente Trommeln mit Apokalypsen erzeugt Überdruss, schleift ab, weicht auf, es bedrückt, sorgt für ständige Angst und Erregung und Wut und Sorge, das soll aufhören, endlich.

Nur, und klar muss in den Einträgen eine Einschränkung kommen: Ginge das denn? Wenn ich überzeugt wäre, dass Trump die Freiheit abschaffen will und dass die Technolibertären ihm dafür die Algorithmen programmieren, überzeugt bin, die AfD zur Achse der autoritären Nationalradikalen gehört und Russland ganz sicher nicht vor der Ukraine stoppen wird, wie könnte ich da eine Auszeit nehmen, selbst an einem Bilderbuchherbsttag?

Ich werfe einen Stock in den Teich, er irritiert das Spiegelbild des Parks für angenehme lange Zeit, sinken tut er nicht.

28. Oktober | We need to slaughter these people

America is for Americans and Americans only.

It’s just this amorphous group of people … they are indeed the enemy from within.

We need to slaughter these people.

There’s a lot going on. I don’t know if you know this but there’s literally a floating island of garbage in the middle of the ocean right now. I think it’s called Puerto Rico.

And these Latinos, they love making babies too. Just know that. They do. They do. There’s no pulling out. They don’t do that. They come inside. Just like they did to our country.

We need to slaughter these people.

Sid, you want to speak at this MSG thing? ‘I go sure, out of character for me to speak at a Nazi rally, I was just in Israel,’ but I took the gig.

She is some sick bastard, that Hillary Clinton, huh? What a sick son of a b—h. The whole f—ing party, a bunch of degenerates, lowlives, Jew-haters and lowlifes.

We need to slaughter these people.

Zitate von Rednern einer republikanischen Wahlkampfveranstaltung gestern im Madison Square Garden. Vergleiche zu einer Veranstaltung werden gezogen – zum Teil von den Rednern selbst – 1939 abgehalten vom Amerikadeutscher Bund, einer nationalsozialistischen Organisation in den USA, den amerikanischen Nazis.

Donald Trump spricht von einem »kleinen Geheimnis«, das er verraten wird, wenn »the race is over«. Bei einer Wahlniederlage gibt es mehrere Szenarien, die seine Partei anwenden könnte. Die Auszählung auf lokaler Ebene wird so lange behindert, dass wie 2000 das – mehrheitlich mit Republikanern besetzte – Verfassungsgericht angerufen wird. Die Bundesstaaten vergeben ihre Delegiertenstimmen eigenständig und sind nicht an das Wahlergebnis gebunden. Verantwortliche »beschaffen« Stimmen. Die Wahl wird an das Repräsentantenhaus überantwortet, wo die republikanische Partei die Mehrheit besitzt.

Was passiert dann? Wenn die Republikaner verlieren und sich mit einer dieser Strategien zum Sieger erklären? Wie darauf regieren? Von außen, von innen? Wie werden sich die verschiedenen Institutionen verhalten? Wie las ich gestern: »Wenn Trump gewinnt, wird es auch Gewalt geben – aber es wird staatliche Gewalt sein.«

We need to slaughter these people.

29. Oktober | Präambel-Koalition

»Als künftige Regierung des Freistaats Thüringen eint uns der Wille zum Frieden in Europa. Wir nehmen die Sorgen und Ängste unserer Bürgerinnen und Bürger ernst, dass Krieg in Europa ist und Deutschland mit hineingezogen werden könnte … Im Rahmen der europäischen und bundesstaatlichen Ordnung unterstützen wir alle diplomatischen Initiativen, den von Russland gegen die Ukraine entfesselten Angriffskrieg zu beenden« heißt es in der Präambel der sondierenden Thüringer Brombeerkoalition, eine Präambel, um deren Worte seit vielen Tagen gerungen wird zwischen Thüringer CDU, SPD & BSW sowie Sahra Wagenknecht. Vier verschiedene Fraktionen.

Der entscheidende Satz ist: eine Zustimmung ist »rein formal nicht vorgesehen.« Gesprochen von Katja Wolf in Richtung Sahra Wagenknecht. Und dort zieht sich der eigentliche Graben entlang, hier als klare Aussage formuliert: Der Thüringer Landesverband entscheidet über den Frieden der Präambel. Nicht Sarah Wagenknecht.

Fehlt ein ich in diesem Eintrag? Vielleicht so: Würde mich als Wähler*in des BSWs diese Präambel zufriedenstellen? Plakatiert wurden vom BSW drei Themen: Unzufriedenheit mit dem Parteiensystem. Kulturkampf. Ende der Waffenlieferung an die Ukraine (»Frieden«).

Würde ich diese Themen, von dem mich das Sujet des Kriegs – den ich vielleicht gar nicht mal so unbedingt als von Russland entfesselt sehen würde – in der Präambel auf überzeugende Weise wiederfinden? Habe ich als BSW-Wählende nicht das Recht, von einer Partei vertreten zu werden, die das Ende der Waffenlieferungen über alle anderen Fragen stellt, auch wenn das notwendigerweise bedeutet, nicht regieren zu können? Tut Sarah Wagenknecht mit ihren Einmischungen in die Thüringer Präambelfragen nicht das Notwendige, um den Kern ihrer Partei zu bewahren?

Und was, wenn sich diese Präambel durchsetzt? Was bedeutet es für diesen Kern, wenn der Thüringer Landesverband Realpolitik macht und konkret an Problemen seiner Region arbeitet, anstatt Russlands Frieden in den Mittelpunkt zu stellen? Was für Folgen ergeben sich daraus für das Bündnis Sarah Wagenknecht, für Sarah Wagenknecht, für Katja Wolf, für die Brombeer-Koalition?

Ich würde viel interessierter auf diesen ersten grundlegenden Richtungsstreit einer jungen Partei schauen, wenn dieser nicht dort geschehen würde, wo ich lebe.

30. Oktober | Kalter Tropfen

Überschwemmung in Spanien nach dem sogenannten Kalten Tropfen, Regen, die in einer Stunde ein Jahr Wasser zu Boden bringt, Extremwetterereignis. Die Bilder sind ineinander verkeilte Autos in zerstörten Straßenzügen, die Autos dabei als doppeltes Symbol.

31. Oktober | Trommelfeuer

Unablässiges Berliner Trommelfeuer aus Tweets, Interviews, Artikeln, Statements gegen den Landesverband des BSW Thüringen: So nicht. So keine Regierungsbeteiligung.

Wenn ich daran denke, denke ich auch an die Momente, in denen ich Sahra Wagenknecht beim Thüringer BSW erlebt habe: Beklatscht schwebt sie während Veranstaltungen in den Raum, hält eine rhetorisch wirkungsvolle Rede, macht danach die Fotoaktionen mit, bleibt ein wenig da, sucht dabei kaum Kontakt zu den Anwesenden, rauscht schnell wieder ab, im Vorbeiflug alles. Ich denke auch die Fraktionssitzung, als mehrere Abgeordnete des BSW unabgesprochen voneinander was vom Bäcker mitbringen, auf dem Tisch stapelte sich das Süße mit den besten Absichten. Ich denke an den Abend des 1. Septembers, wie einige vom BSW zusammenstanden, erschöpft von den Interviews, beflügelt von den Prozenten, gewillt in Verhandlung zu gehen, um etwas zu erreichen, und zugleich mit dem Blick vom Dustin Hoffman und Katharine Ross am Ende von »The Graduate«. Denke auch an die Momente mit den anderen beiden Brombeer-Parteien, die Skepsis, weil noch unklar ist, wie das Thüringer BSW für was steht und denke auch an deren Willen zum Verhandeln, weil die Brombeere bei allen unstabilen Varianten die stabilste scheint, während sich der Schatten der Sperrminoritätpartei über alles legt.

Vieles, was hier gleichzeitig geschieht, Ausgang offen heißt es in den Texten, die täglich darüber erscheinen.


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