In Gewitterzellen
1. Juli | in Gewitterzellen
Vor einem halben Jahr stand ich im nassen Rauch eines Lagerfeuers, ein Jahr, von dem ich annahm, es würde länger schon währende Entwicklungen in feste Formen bringen. Ich begann mit dem Schreiben, ein Schreiben, für das ich noch immer keinen passenden Namen habe. Chronik 2024? Chronik eines Übergangs? Chronik des Schlafwandelns? Chronik der unnötigen Panikmache?
Und jetzt, heute? Ich gleite ins Freibadwasser und versuche, gerade Bahnen zu ziehen. Was habe ich Anfang Januar angenommen, was hat mich damals bewogen zu schreiben, würde es mich heute noch beschäftigen? Die Bauernproteste als Sinnbild. Ein Thema für alle, das Anlass (Dieselgeld) für wenige, die schlechteste aller Lösungen dafür gefunden. Sich beeindrucken lassen von der Wuchtigkeit von Maschinen und nicht die Notwendigkeit gesehen, als Gesellschaft eine ernsthafte Diskussion darüber zu führen: Wie essen wir? Woher kommt unser Essen? Ist es gesund? Für uns? Für die Tiere? Für die Natur? Wer verdient dabei und wer nicht? Als Resultat werden die wirtschaftlichen Fuck-Ups nicht angetastet, was getan wurde, ging auf Kosten der Umwelt. Was etwas ist, das die Lage verschlechtern wird. Die Traktoren werden wieder rollen. Vereinnahmung weiterhin, aus der amerikanischen Landwirtschaft mit ähnlichen Rahmenbedingungen flüstert H5N1 leise.
Das andere Protestereignis des Jahres, immerhin die größten Demonstrationen seit 1989, hat welche Resonanz erfahren? Unterstützung, natürlich. Hat Stimmen gekostet. Dennoch das Gefühl, dass die Größe sich nicht in politischen Aktionen niedergeschlagen haben. Das Migrationsthema, immerhin Auslöser der Proteste, seitdem eher im Sinne der Potsdamer Konferenz beantwortet. Für was die Proteste sorgten, das war in Thüringen zu sehen: Sichtbarkeit in Kleinen. Vernetzungen. Knoten geschafft, die länger bestehen werden. Weil eben auch klar wurde in den letzten Monaten: Die Gegenwart ist kein Moment, sie ist ein Zustand, der andauern wird.
Dagegen die Kommunalwahlen. In Sachsen Kreistage und Städte, in denen AfD und Freie Sachsen zusammen auf 40 % kommen, keine Mehrheit, aber die Hoheit. Das ist das, das ist die nächsten Jahre da sein wird. In Amerika rutscht das Land potentiell in einen evangelikalen Autoritarismus. Frankreich entscheidet sich gerade, den Rechtsextremismus auszuprobieren, in Österreich wird die FPÖ stärkste Partei werden. Europa zerbricht, während wir die Europameisterschaft schauen. Ein Hineingleiten, nichts, was auf einen Schlag alles verändert, nasser Rauch, der sich in Gewitterzellen sammelt.
2. Juli | VAR
Der VAR am Freitag, die deutsche Fußballnationalmannschaft gewinnt deshalb. Der VAR ist umstritten, er löst Bauchgefühl und Augenmaß ab, der VAR vernichtet Grauzonen und Emotionen. Denn der VAR macht genau den Moment deutlich, wenn Regeln überschritten sind. Die Fußspitze einen Zentimeter im Abseits. Der Ball, der den Arm touchiert. Das ist pedantisch und kleinlich. Aber der eine Zentimeter war einer zu viel. So genau, wie es geht. Ein Messgerät für Gerechtigkeit, Gerechtigkeit, die mühsam ist, die nervt, die nicht sofort zu erkennen ist, auf deren Verkündung man sich gedulden muss.
Ich wünschte, es gäbe einen VAR auch für gesellschaftliche Verschiebungen. Der VAR bestimmt uns den exakten Moment, in dem eine Entwicklung unvermeidlich war. Der BREXIT damals? Die Wahl heute in Frankreich? Das Fernsehduell als Untergang der amerikanischen Demokratie oder als ihre Rettung, weil ein Kandidat ausgewechselt wurde? Der Tag, an dem Supreme Court dem Präsidenten fast unbegrenzte Immunität zusprach? Was war der eine Zentimeter?
3. Juli | Immunität
Was Joe Biden jetzt erlaubt ist: Als amerikanischer Präsident kann er das Navy Seal Team 6 anweisen, die sechs Richter des Supreme Courts, die geurteilt haben, dass Ex-Präsidenten »absolute Immunität« für Handlungen genießen, die sie eindeutig in Ausübung ihres Amts vollzogen haben, auszuschalten, weil die Richter mit der Zustimmung zu diesem Urteil die Rechtstaatlichkeit Amerikas gefährden. Beziehungsweise haben Republikaner erklärt, dass eine solche Immunität nicht für Joe Biden gelten würde. Sondern nur für den Präsidenten danach, vorausgesetzt, einer seiner Vornamen lautet Donald.
4. Juli | Dieses seltsame Wir
Ein Teil der Beschäftigung mit der Gegenwart besteht auch darin, herauszufinden, auf welche Weise wir uns durch diese Gegenwart bewegen. »Schlafwandeln« ist so ein Begriff, der öfter fällt. Der ist geprägt durch Christopher Clarks Buch über die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges, schlafwandeln dort als »Fehlwahrnehmungen, die kurzsichtigen Kalküle und blinden Flecken der Akteure jener Zeit.« Oder, wie er selbst sagt, dass Schlafwandler »fähig sind, Absichten zu fassen und Handlungen durchzuführen, bloß sie wissen um den äußeren Kontext der Handlungen nicht.« Mittlerweile hat sich der Begriff verselbstständigt, wird eher im Sinn gebraucht, dass man blind und unwissend in eine Katastrophe hineinstolpert.
Lässt sich mit Schlafwandeln die Bewegung der letzten Jahre beschreiben? Ist es nicht eher so, dass es sehr viel Wissen gibt, sehr viele Vergleiche zu vergangenen Vorgängen gezogen werden, dass sehr viele Beispiele und Warnungen kursieren, dass nur blind ist, wer nicht sehen will? Ist es nicht, dass wir uns sehend und wissend auf einen Abgrund zubewegen und die Tragik darin liegt, trotz dieses Wissens die Bewegung nicht stoppen zu können?
Als Beispiel, denn daran musste ich denken, als ich Texte über den Beschluss des Supreme Courts las. Wir wissen, welche ungeheuren legalen Möglichkeiten dieses Urteil den amerikanischen Präsidenten aushändigt. Wir wissen, von welchem Charakter Donald Trump ist. Wir wissen, was die Republikanische Partei bereit ist, zuzulassen. Wir wissen, welche Zahlen die Umfragen sagen. Wir wissen, was Donald Trump von der Anerkennung von Wahlergebnissen hält. Wir wissen, dass er am ersten Tag Diktator sein möchte. Wir wissen das alles. Wir sind nicht blind, wir schlafwandeln nicht. Die zielgerichtete Bewegung hin auf einen Abgrund ist eine sehr wahrscheinliche Bewegung.
(Wie schnell bin ich, wenn ich davon schreibe, dass eine Gruppe etwas sieht und eine andere Gruppe nicht, in bizarren, konspirativ anmutenden Gefilden. Aber das muss ich aushalten, diese Verkehrung von Begrifflichkeiten, Schlaf, Sehen, Aufwachen, Erwachen, Blindsein.)
Nur, was soll dieses seltsame Wir? Weil: Für einen bedeutsamen Teil dieses Wirs ist es kein Abgrund, sondern das Gelobte Land. Für einen ebenfalls bedeutsamen Teil dieses Wirs ist es kein Abgrund, sondern ein schmaler Graben, in dem es möglicherweise holprig werden könnte. Und der Rest vom Wir, der einen Abgrund sieht, wie kann er sie diese wissende Bewegung daraufzu einstellen? Wie kann der Rest des Wirs Einfluss nehmen auf Supreme Court, Republikanische Partei, Demokratische Partei? Wie kann der Rest des Wirs Einfluss nehmen auf französische Wahl, russischen Krieg, israelischen Krieg? Oder, konkret regional: Wie kann der Rest des Wirs Einfluss nehmen auf die Landtagswahlen?
Das Schöne ist: Das Wir kann ja Einfluss nehmen. Weil es ein Wir gibt. Weil es sich addiert. Das hat dieses Jahr auch gezeigt. Heute las ich diesen Gedanken: »Warum wird Zeitreisenden in Filmen immer gesagt sie müssten vorsichtig sein um durch kleine Aktionen in der Vergangenheit nicht die Zukunft zu verändern, aber fast niemand glaubt man könne durch kleine Aktionen in der Gegenwart die Zukunft ändern?«
5. Juli | Wölfe, Mäuse, Gruß
Merih Demiral, der beim Spiel seiner Mannschaft gegen Österreich den Wolfsgruß zeigte, wird zwei Spiele gesperrt. Der Gruß ist das Zeichen der Grauen Wölfe, türkische Rechtsextreme. Die Verteidigung seines Grußes: Er hat mit seinem Gruß nur auf die Grüße anderer reagiert. Der Gruß hat keine Bedeutung. Er wusste nicht, dass der Gruß eine Bedeutung hat. Er wusste nicht, dass der Gruß diese Bedeutung hat. Er dachte, der Gruß habe eine andere Bedeutung. Die Bedeutung des Grußes ist anders, als die Kritiker das vorwerfen. Der Gruß hat mehrere Bedeutungen, wie sollen wir wissen, welche Bedeutung er meinte? Die Bedeutung ist gar nicht so schlimm. Andere machen auch Grüße. Andere haben auch Verbrechen begangen etc.
Die Verteidigung seines Grußes verläuft ähnlich wie bei Grüßen von Gruppen, die ähnliche Absichten verfolgen, Verteidigung von Zeichen, Symbolen, Worten, Melodien, Schlümpfen, Ok, L’Amour Toujours, etc. Zeichen, Symbole, Worte, Melodien, die mindestens doppelt belegt sind und deshalb alle Verteidigungen zumindest symbolisch erlauben. Die österreichischen Fans singen auf die Melodie von L’amour Toujours Deutschland den Deutschen, Ausländer raus, beim Sommerfest der AfD-Bundestagsfraktion wird von einer Zufallsliste Partymusik abgespielt, darunter L‘amour toujours, woraufhin der Fraktionsmanager das Lied spontan mit einem parodistischen Refrain versieht, Mausland den Mäusen, Maushändler Klaus, alles Symbole, Zeichen, Verweise, Referenzen, Signifikanten, Signifikat, signierte Botschaften, alles entschuldbar, alles zu erklären.
6. Juli | absurde Prioritäten
Ein Gespräch über Prioritäten. Anlass ist ein Video, das ich zugeschickt bekam, ein Insta-Reel der Bundeszentrale für Politische Bildung über das Sommermärchen 2006 und den »Party-Patriotismus«, zu dem die Moderatorin, wie sie sagt, zuspitzt die Frage: Sind Poldi, Klinsmann und Co schuld am Rechtsruck in Deutschland?
Wir sprechen darüber, auch, auf welchen Kanälen wie darüber gesprochen wird. Meine Gegenüber sagt, dass dieser Reel das Absurdeste ist, was ihr die letzten drei Wochen begegnet ist. Ich bin irritiert: Von allen Dingen überhaupt in den letzten drei Wochen? Jetzt ist sie irritiert. Ich überlege, was für mich das Absurdeste (was in diesem Fall nicht albern, ungereimt, bizarr meint, sondern etwas, das einen im gesellschaftlich-politischen Diskurs maßlos wider Vernunft erschien, was einen im besonderen Maße erzürnte und triggerte) und sage: Die Entscheidung des Supreme Court zur Immunität des amerikanischen Präsidenten. Und auch die Information, dass, wenn Deutschland eine Vermögenssteuer in den letzten 28 Jahren gehabt hätte, fast 500 Mrd. Euro eingenommen wären.
Ich schreibe das nicht auf, um mich oder meine Gegenüber darzustellen. Sondern, weil wir danach darüber sprechen, weshalb wir so unterschiedliche Prioritäten bei Themen setzen. Wie kommt das zustande? Wie gewichten wir? Wie erreichen uns überhaupt die Themen? Ist es die innere Einstellung? Die Wahl der Kanäle? Sind es Zufälle?
Wir sprechen weiter, über Migration und den Krieg in der Ukraine, nicht über Gaza und die Wahl in UK, über Betrugsvorwürfe gegen die deutsche Regierung im Zusammenhang mit vorgetäuschten Klimaschutzprojekten in China, über Reichensteuer und wieder Migration. Themen, die wir in unserem gemeinsamen Gespräch ansprechen, wieder Prioritäten, die wir setzen. Was ist das Absurdeste, was du in den letzten drei Wochen wahrgenommen hast? Was nicht?
7. Juli | Platz 3
Zwanzig Uhr abwarten, dann die Farben sehen, die Sitze, sehen, Unbeugsames Frankreich vor Wiedergeburt und beide vor der Nationalen Sammelbewegung; wie Jordan Bardella vor die eigenen Anhänger tritt, wie Marine Le Pen sagt: »Die Flut steigt. Sie ist dieses Mal nicht hoch genug gestiegen, aber sie steigt weiter und deshalb ist unser Sieg nur aufgeschoben.«, die Bilder vom Place de la République.
8. Juli | Eigentlich schreiben müssen
Eigentlich schreiben müssen. Eigentlich schreiben müssen über die Wahl in Frankreich, die Erleichterung. Eigentlich schreiben müssen über die Irritation, die manche Positionen des Unbeugsamen Frankreichs auslöst. Darüber schreiben, wie sich das Widersprüchliche in den Hintergrund drängt angesichts des Übergeordneten, die Fragen, die sich daraus ergeben.
Eigentlich schreiben müssen über die Wahl in UK. Wie seltsam, dass beide Länder so nah beieinander wählen und der Verlauf so viele Gemeinsamkeiten hat. Dass bei beiden Abstimmungen die Rechtsextremen deutlich dazu gewinnen, die Konservativen deutlich verlieren, ein Rechtsruck, der mit einer linken(?) Regierung endet. Eigentlich schreiben müssen, was das bedeuten könnte, schreiben, wie andere darüber schreiben.
Eigentlich schreiben müssen darüber, wie eine russische Rakete auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew fliegt. Wie eine russische Rakete ein Kinderkrankenhaus zerstört. Wie Wladimir Putin krebskranke Kinder angreifen lässt. Eigentlich schreiben müssen über die sogenannte Friedensmission des ungarischen Präsidenten. Schreiben, wer das lobt. Eigentlich schreiben müssen über Diplomatie und ein Kinderkrankenhaus, krebskranke Kinder vor den Trümmern des Krankenhauses. Eigentlich schreiben müssen über den Satz: »Wenn der Angriff auf ein Kinderkrankenhaus keine Haltung ändert, dann ändert nichts die Haltung.« Eigentlich schreiben müssen über die Frage, warum mich der Angriff auf das Kinderkrankenhaus so beschäftigt, mehr beschäftigt, als wenn israelische Raketen auf Kinder fliegen. Eigentlich schreiben müssen darüber, wann ich daran erinnert werde, dass palästinensische Hamassoldaten israelische Kinder entführt haben und noch immer gefangen halten, palästinensische Terroristen die Eltern dieser Kinder ermordet haben.
Eigentlich schreiben müssen, dass ich nicht schreiben muss, weil ich nichts davon beeinflussen kann; die Raketen, die Wahlen in anderen Ländern, die Raketen.
Deshalb eigentlich mehr schreiben müssen über etwas, das ich beeinflussen kann. Was ich wählen kann. Deshalb eigentlich mehr schreiben müssen über den deutschen Haushalt. Eigentlich schreiben müssen über die sechs Stunden tägliche Fahrtzeit zur Arbeitsstelle, die Bürgergeldempfänger zukünftig in Kauf nehmen müssen für eine zumutbare Arbeit. Eigentlich schreiben müssen über 5 Euro Kindergelderhöhung im Monat, während die Kosten für ein Mittagessen im Kindergarten im letzten Jahr um einen Euro pro Mahlzeit gestiegen sind. Eigentlich schreiben müssen über den langsamen Tod eines großen Tiers, das 49-Euro-Ticket. Den Autobahnen, die gebaut und zehnspurig erweitert werden. Eigentlich schreiben müssen von Vermögenssteuer und was sie erbrächte was sie spart was ihr Aussparen anderen spart woran gespart wird von was was ausgegeben wird was nicht erhoben wird was wird Eigentlich so viel schreiben müssen eigentlich schreien müssen deshalb schreiben müssen festhalten irgendwie.
9. Juli | Top Gun
Zwischen dem Halbfinale Nachrichtenbilder aus Alaska sehen, Arctic Defender, eine NATO-Übung. Geschmeidig gleiten Düsenjäger im Tiefflug über die Wälder des fernen Westens, der fast schon wieder Osten ist, nahe der Bering-Straße. Bilder, die den beliebtesten Politiker der Deutschen, den Verteidigungsminister, scherzend im Austausch mit Kampfpiloten zeigen. Ein Inspekteur der Deutschen Luftwaffe erklärt stolz, dass Deutschland vorangehe. Top Gun als Aufmacher der Nachrichten.
Die Außenhülle mancher Kampfjäger sind farblich markiert. Sie simulieren den Feind, sie sind Russland. Weil, erklärt ein Kampfpilot, man habe sich den Realitäten angepasst. Zehn dieser Maschinen würden ein Jahr das teuer gewordene 49-Euro-Ticket finanzieren, vielleicht auch acht.
Es ist ein Manöver, das Soldaten auf hypothetische Bedrohungsszenarien vorbereitet. Der 24.2.2022 war auch einmal hypothetisch gewesen, auch nur Bedrohung, auch nur Szenario. Und jetzt sagen Experten, wie viele Panzer Russland im Jahr baut und deshalb in fünf Jahren haben wird und wie viele Panzer »wir« haben und eine russische Rakete ist in ein Kinderkrankenhaus geflogen, nichts davon ist mehr hypothetisch und deshalb ist in den Nachrichten Top-Gun-Zeit, angepasst an die Realität.
Und im Sommerhort ist morgen Spielzeugtag, auf dem Wochenplan steht als Bemerkung: »Spielzeug mitbringen, aber kein Militärspielzeug.«
10. Juli | Das Leiden anderer
Wieder Das Leiden anderer betrachten in die Hand nehmen und nachlesen, welche Gedanken Virginia Woolf und Susan Sontag dazu hatten. Gleich auf den ersten Seiten Sätze finden wie
»…daß die Erschütterung, die von solchen Bildern ausgeht, unweigerlich zwischen Menschen guten Willens Einigkeit stiften muß. Aber tut sie das?«
»wo es um das Betrachten des Leidens anderer geht, sollte man kein ‚Wir’ als selbstverständlich voraussetzen«
»Fotos von einer Greueltat können gegensätzliche Reaktionen hervorrufen. Den Ruf nach Frieden. Den Schrei nach Rache. Oder einfach das dumpfe, ständig mit neuen fotografischen Informationen versorgte Bewusstsein, dass immer wieder Schreckliches geschieht.«
11. Juli | Modus unzufrieden
Jeder ist immer auch unzufrieden. Gerade mit denen die regieren. Keiner von hundert sehr zufrieden, vier von hundert gut, achtunddreißig von hundert mangelhaft oder ungenügend.
Jeder ist auch unzufrieden mit dem Haushalt. Mit dem Bürgergeld, dem fehlenden Geld fürs Militär, zu viel Geld fürs Militär, mit den zeitlich begrenzten Steuererleichterungen für Facharbeiterinnen aus dem aus Ausland, »Ausländer«. Grundsätzlich Unzufriedenheit.
Nicht jeder ist auch unzufrieden. Die prozentual höchsten Zuwächse erzielten im vergangenen Jahr die Superreichen Überreichen, zehn Prozent Zugewinne im Durchschnitt für jene, die mehr als 100 Millionen Vermögen besitzen. Am wenigsten die, die wenig haben.
Eine Vermögenssteuer komme allerdings leider nicht in Frage, schreibt der Justizminister, leider weil »In der Praxis frisst der komplexe Bewertungsaufwand (Was ist ein Gemälde wert? Und was die vererbte Vase?) die Erträge daraus auf.« Und diese Sichtweise macht die vierunddreißig von hundert zufrieden, die keine Vermögenssteuer möchten.
12. Juli | Versprechen
Biden nennt beim NaTo-Treffen Selenskyj Putin. Seine Vizepräsidentin Harris nennt er Trump. Augenblicklich wieder die Diskussionen, ob er geeignet ist fürs Präsidentenamt. Ob es einen Kandidatenwechsel braucht.
Was möglicherweise eine Chance wäre. Über das Schlechte wurde 2016 und 2020 fast ausschließlich gesprochen, über Trump. Das Schlechte ist 2024 nichts Neues mehr. Über einen anderen Kandidaten, eine Kandidatin zu sprechen, zu besprechen, was er oder sie besser machen könnte, auch im Vergleich zu den anderen Mitbewerbern, mal nicht über Trump sprechen, das wäre dann möglich. Vielleicht könnte dieser Versprecher der Beginn eines Umschwungs sein.
13. Juli | Detox
Versuchen, mich vorerst eine Woche rauszunehmen aus der Welt. Nach Möglichkeit wenig mitzubekommen von außen, detoxen von der viel zu präsenten Gegenwart.
14. Juli | Attentat
Ganz so richtig geklappt hat nichts davon. Rausnehmen. Und nicht weiter über das Schlechte sprechen. Die Informationen im jetzt schon historischen Liveticker, am Morgen nachzulesen. Schüsse auf Donald Trump auf einer Wahlkampfveranstaltung in Butler. Ein Toter, zwei Schwerverletzte. Trump am Ohr getroffen, Blut im Gesicht reckt er die Faust in die Kamera, Niemand kann mir etwas. Der Schütze ein registrierter Republikaner, der Anfang des Jahres für Biden gespendet hat. Die Demokraten stellen vorerst die Wahlkampfspots ein. Republikaner machen sofort Biden, Antifa, Trans-Aktivisten als die eigentlichen Täter aus.
Und, gleich in Echtzeit die Überlegungen: Ist es nun so, dass es dieser Attentatsversuch unmöglich macht, Trump bis November ernsthaft zu kritisieren, weil das der Nährboden ist für den Hass, der zu diesem Schuss führte? Ist es zynisch, nicht zuerst zu schreiben, dass ein Mensch glücklicherweise überlebt hat, sondern Welche Folgen ergeben sich daraus? Ist dieser Versuch das, was seit 2016 im Prinzip erwartbar war? Ist das die Vorentscheidung im Wahlkampf: Da der Präsident, der blutüberströmt seinen Feinden trotzt, dort der trottelige Greis, der keinen geraden Satz mehr herausbringt?
15. Juli | Schmaler Luzin
In der Seenlandschaft, Schmaler Luzin. Glasklares, weil mesotrophes Wasser, Wald zieht sich den Hullerbusch hoch, ab und ab Badestellen, Seile an Ästen, an denen man sich schwingen kann, Nachmittagssonne. An der Luzinfähre legen Padelboote an, auf dem Steg Bockwurst mit Kartoffelsalat, die e-Fähre setzt jede halbe Stunde über. Familien sitzen zusammen, entspannte Paare mit Sekt, Wandergruppen, die hier Rast einlegen. Idyllisch wäre noch untertrieben, die Endmoränenwucht hat hier ganze Arbeit geleistet, um das Schlechte der Welt ausklammern zu können.
Eine regionale Combo baut sich auf, Gitarre, Kontrabass, das Schlagzeug teilt sich das Duo. Nachdem der Soundcheck absolviert ist, öffnet sich der Sänger ein Bier und sagt »Nasdorowje«. Fügt hinzu: »Aber das darf man ja nicht mehr sagen«. Lacht. Anschließend Frotzeleien mit dem Kontrabassspieler (Lets get Rettich), dann: »Trump wurde ja heute angeschossen. Bei dem Kennedy haben DIE das noch richtig hinbekommen.« Ein paar Töne auf den unteren Saiten der Gitarre, dann: »Ich sollte nichts von Politik erzählen. Aber unsere Regierung ist so bescheuert, da kann ich nicht anders«. Ein Mann im Rammstein-T-Shirt (Liebe ist für alle da) nickt. Ein Nachmittag am Schmalen Luzin, die Politik auch hier, die Schüsse in Butler, das grundsätzliche Dagegensein am glasklaren Wasser.
16. Juli | Meta, Ikon, Attentatsfreude, El Hotzo, Vance, what if
Tage nach dem Attentat Meta-Diskurse. Wie ikonenhaft ist das Foto des blutenden, fäusteballenden Trumps vor der amerikanischen Fahne, was macht es ikonenhaft, entscheidet das Ikonenhafte die Wahl, dazu jeweils gestellt das ikonenhafte Foto, eine sich selbst erfüllende Bedeutung. Außerdem das Wort »Attentatsfreude«. Wie moralisch, wie demokratisch, wie charakterlich entblößend ist es, Bedauern zu empfinden angesichts des Überleben Trumps? Beispielhaft dafür El Hotzo, der auf X fragt, was sie gemeinsam haben: »der letzte Bus« & »Donald Trump«: »leider knapp verpasst«. Und schreibt: »Ich finde es absolut fantastisch, wenn Faschisten sterben«. Nachdem Elon Musk von einer rechtsextremen Aktivistin darauf hingewiesen wird, fragt Musk, warum die deutsche Regierung jemanden bezahlt, der dem amerikanischen Präsidentschaftskandidaten den Tod wünscht und verlinkt den X-Account von Olaf Scholz. Unabhängig davon wird El Hotzo vom RRB gefeuert. Ein eigenes Kreisen mit eigenem Sprechen und eigenen Unregeln, vielleicht, weil das eigentliche Ereignen so weit weg ist, man nicht das Geringste daran beeinflussen kann und deshalb Bedeutungen der dritten oder vierten Ordnung schafft, um dieser Ohnmacht entgegenzuwirken, längst losgelöst vom Ursprung.
In Amerika wird Trump währenddessen offiziell zum Präsidentschaftskandidaten bestimmt und erwählt den Autor von Hillbilly-Elegy zu seinem Vizepräsidentenkandidaten. Und irgendwie der Gedanke, dass das Attentat von Butler möglicherweise doch nicht so historisch war, doch nicht so außergewöhnlich, dass es sich blitzschnell eingereiht hat in einen Reigen von Begebenheiten, die einander rastlos jagen, dass keine Zeit bleibt, daraus irgendetwas abzuleiten, dass es auch nicht möglich ist, weil es immer auch schon weitergeht, dass dieser 13. Juli ein Moment war unter Momenten, vielleicht in Jahrzehnten oft bemühter Ausgangspunkt für what-if-Fiktionen, wie hätte das 21. Jahrhundert anders verlaufen können. Fiktionen, keine Attentatsfreuden.
17. Juli | Verbot
Das Bundesinnenministerium hat das gesichert rechtsextremistische Magazin Compact verboten.
18. Juli | Schnellspeichertaste
Joe Biden muss seine Comebacktour wegen einer Corona-Erkrankung verschieben. Das Gefühl, dass sich in diesen Tagen das historische Bild Bidens formt, so, wie man ihn zukünftig auf der Schnellspeichertaste im Gehirn ablegt: der gebrechliche Präsident. Die Vorstellung, wie er nun körperlich isoliert von allen Menschen in Quarantäne in seinem Haus in Delaware sitzt und darüber meditiert. Wie denkt man so etwas? Lässt man das eigene Leben Revue passieren, sagt sich: »Es war ein gutes, erfülltes Leben gewesen, das reicht jetzt auch«, denkt man in historischen Dimensionen, wie denkt man von sich als Teil der Geschichte?
19. Juli | Hotzo Compact
Eigentlich nicht darüber schreiben, weil es sich so absolut nichtrelevant anfühlt in einer Woche, in dem sich Israel von der Zwei-Staaten-Lösung verabschiedet, Jemen eine Drohne auf Tel Aviv explodieren lässt, in Wasserproben aus Gaza Polio gefunden wird, Ukraine die Kriegssteuer erhöht etc. Aber Vergleiche häufen sich zwischen El Hotzo und Compact, beides gegenübergestellt und aufeinander bezogen, als Belege für den Zustand deutscher Demokratie.
El Hotzo ist keine Cancel Culture, das sagt z.B. El Hotzo. El Hotzo ist aber schon rechtskonservativer Kulturkampf, der nach den Regeln gespielt wird, die sich rechtskonservative Kulturkämpfer ausgedacht haben. Dass also Stimmen, die ansonsten »Satire darf alles« im Mund führen und sich bei der kleinsten Widerrede sorgen, dass die Meinungsfreiheit beschnitten wird, plötzlich entdecken, dass Moral und Geschmack Kategorien sind, nach denen Tweets bewertet werden sollten. Dann geht es dabei nicht um Inhalt. Oder Fragen, die sich aus diesem Inhalt ergeben. Nun darum, dass das Internetphänomen El Hotzo klare linke Positionen vertritt und damit viele Leute erreicht. Darum, dass er eine Radiosendung im öffentlichen-rechtlichen Rundfunk moderiert. Und wenn in Parlamenten Abgeordnete El Hotzo als linksextremistischen Hetzer bezeichnen und härtere Konsequenzen fordern, dann geht es genau darum.
Dagegen das Compact-Verbot. Natürlich muss es kalt den Rücken herunterlaufen, wenn ein Staat eine Zeitung verbietet. Einerseits. Andererseits. Ist es bestenfalls naiv, zu schreiben sagen glauben, Compact mache unbequemen Journalismus, der nicht jeden schmecken müsse. Wer nicht komplett blind in den Diskurs gehen möchte, der kam gar nicht umhin, zumindest diese Woche zu erfahren, was hinter Compact steht.
Deutungshoheit erlangen, El Hotzo Compact.
20. Juli | Was ich wünsche
Was ich mir nicht wünsche: Dass eine Kugel Donald Trump getroffen hätte.
Was ich mir wünsche: Dass Donald Trump im Gefängnis säße, sein gesamtes Vermögen konfisziert, die hartherzige, selbstsüchtige Verwandtschaft hätte ihn verstoßen, er selbst ein internationaler Joke, ein Trottel, auf den niemand mehr hörte, er säße in seiner kleinen Zelle und schriee die Wand an, die Wand die Einzige, die seine Stimme noch hörte, und sie bliebe nur, weil sie nicht wegkönnte.
Ein nutzloser, überflüssiger Eintrag. Nie wird das Subjekt davon erfahren, vollkommen unwichtig ist Eintrag und Autor dafür, auch für mich sind diese Zeilen ohne Bedeutung, sind Symbol für ein Symbol, für einen nützlicher Idioten, der benutzt wird und benutzt, vollkommen arglos, sich darüber zu echauffieren.
Und trotzdem das Gefühl, ihm zu wünschen, dass er hundert Jahre alt werden würde in dieser Zelle vor dieser Wand, aus diesem Gefühl der Hilflosigkeit, wie alle schlechten Worte, die er gesagt hat, alle Handlungen, alle Imitationen, alle Gemeinheiten, alle Betrügereien, alles Entzweiende, alles moralisch so Erbärmliche, alles Kleingeistige, alles Herzlose, alles Bullyhafte, alles so folgenlos bleibt, es ihm im Gegenteil zum Vorteil gereicht, ihn vorwärtsträgt, so fassungslos beiwohnen zu müssen, wie das Schlechteste belohnt wird, er Gott an seiner Seite hat, wie er selbst sagt, fast so, als ob er nichts büßen müsste.
21. Juli | Blumenwurf im Schafgarbenmeer
Vorerst der letzte Blumenwurf. So bauen wir wieder an dem heißen Sonntag Objekt – Tisch – Technik auf einer Wiese auf, ein Schafgarbenmeer, weiße Korbblütler, zwischen die heute Kreidestaub fallen wird. Sonne weigert sich, hinter Wolken zu verschwinden, wir spannen Schirme auf und reiben die Haut mit Schutz ein und hören zu. Es ist wirklich erstaunlich, wie wenig sich auch nach achtzig Gesprächen wiederholt, wie viele neue Geschichte und Gedanken wir zur Wut erfahren. Auch Thomas Kemmerich spricht mit uns über den Blumenwurf, bringt eine Vase mit. El Hotzo macht er zum Thema. Die Gespräche fließen ineinander, damit die Themen, nehmen Bezug aufeinander, weshalb wir später wieder über Hotzo sprechen und deshalb über Trump und deshalb sich jemand wütend das Hemd vom Körper reißt und als Gorilla mit Kreide Ausrufezeichen hinter Faschismus in den Schiefer hämmert.
22. Juli | Verzicht
Am Wochenende wenn möglich zu jeder Zeit auf jeden verfügbaren Liveticker geschaut, in Erwartung der Ankündigung des Verzichts von Joe Bidens. Sonntagmittag / Abend dann die Meldungen, kurz darauf die ersten Verweise auf Kamala Harris als mögliche Kandidatin. Jetzt lernen, wie man ihren Vornamen ausspricht. Seit dem Attentat ist gerade mal eine Woche vergangen. Es fühlt sich an, wie zehn Staffeln des Doomsday Reboots von West Wing gleichzeitig zu bingen mit einem erwartbaren Twist, der dennoch Gamechanger der noch nicht produzierten neuen Folgen wird, der Karten, Glauben und Zuversicht neu mischt, zumindest in andere Reihenfolge bringt.
23. Juli | Detox II
Der Detoxvorsatz, sich rauszunehmen aus dem Fluss der Liveticker, ist nahezu komplett gescheitert. Was auch daran liegt, dass es interessant ist, was getickert wird. Gestern der Verweis auf West Wing war weder neu noch originell, weil die Wirklichkeit ja nichts ist, was Drehbüchern und den Anweisungen von Regisseurinnen folgen würde. Das tun nur die Erzählungen darüber.
Aber sich diese vor Augen zu halten, die letzten Wochen, die Erzählungen, die daraus hervorgegangen sind, getragen von einem maximal antagonistischen Grundkonflikt. Wie schon 2016, wie schon 2020 geht es um alles, eine Wahl, die entscheidet, wohin der Lauf der Welt gehen wird. Die Charaktere der Kandidaten abgesteckt, einer schwach, einer ein Bully, eine verunglückte Debattenshow, die daraus folgende Debatte, die damit verbundene Dynamik, aus der eine Seite täglich neue Kraft gewann, die andere täglich Kraft einbüßte, ein Attentat, mehrere visuelle Catchphrases (Ohrenpflaster), das Übertreten eines Mannes, der vielen als eine Art Hoffnungsträger für Versöhnung galt, auf die dunkle Seite, angespanntes Warten auf einen Verzicht, das Eintreten des Verzichtens, was plötzlich Raum schuf für eine andere Protagonistin, das Neue, was sich dadurch in die Debatten wob, seitdem wütende Republikaner, die Schadensersatz fordern, weil sie ihren Wahlkampf neu denken müssen, euphorische Demokraten, die das Momentum reiten wie der Muad’Dib einen Sandwurm, das Messen dieser Begeisterung in Wahlkampfspenden, beinahe stündlich das Vermelden neuer Zahlen, Beyonce gibt »Freedom« als Kampagnensong frei, die Kampagne ist mit Charli xcx »brat« memefiziert, vor wenigen Tagen noch das Ende der Welt, jetzt das Ende der bösen Welt, ein neuer Möglichkeitsraum im fernen Taumel dieser Tage, so schnell kann es gehen.
24. Juli | sudden turns
»This year is marked by sudden turns just when the story of „take over“ by the extreme right is too confident. What a ride.« schreibt Maja Göpel. Alles schon gesetzt, dann passiert etwas und plötzlich ist es ganz anders. Wenige Tage zwischen zwei gegensätzlichen Titelgeschichten. Ein Beispiel: Die USA. Eine Person ausgetauscht und plötzlich alles in anderem Licht. Was eben noch unabwendbar schien, wirkt nun entzaubert, alt, müde, verbittert.
Dabei hat sich ja wenig verändert, weder in Parteiprogrammen noch in Strukturen. Das gilt für Frankreich, für UK, das gilt für Deutschland. Ein Beispiel: Der einzige nichtkonservative sächsische Landrat, der aufgrund von Bedrohungen von Rechtsextremisten ankündigt, sein Amt niederlegen zu müssen. Die 30%+ sind ja dennoch da, die Hitlergrüße auf Volksfesten, die Überfälle auf Jugendklubs. Eine Person, ein Ereignis, eine Wahl ändert das nicht. Aber wenn es so ist, dass sudden turns auch ein Merkmal von 2024 sind, dann
25. Juli | Die Augen von Mario Voigt
Vor meinem Fenster hängt Mario Voigt. Präziser: Vor meinem Fenster hängt das Bildnis von Mario Voigt. Es ist ein Plakat, sein Plakat für den Landtagswahlkampf. Es hängt an einem Laternenpfahl nahe dem Haus, in dem ich wohne.
Hundert Fotos, vielleicht weniger, wahrscheinlich mehr, wird ein Fotograf von Mario Voigts Gesicht gemacht haben. Der Fotograf, Mario Voigt, sein Team, haben diese Fotos betrachtet und für dieses entschieden. Den Kopf leicht eingedreht, das neu designte Merztürkis umfließt ihn, vital blickt er. Er trägt eine ausladende Insektenaugenbrille, die Mundwinkel ansatzweise nach oben gezogen, kein Lachen, kein Nichtlachen, eine ministrable Mimik, zugleich stammtischnah und sich doch dem Ernst der vor ihm liegenden Aufgabe bewusst, die Krawatte schwarz wie der Anzug wie die einstmalige Farbe seiner Partei. Ein Thüringer für Thüringen, steht auf gelbem Grund geschrieben, die rechte untere Ecke gerundet vom schwarz-rot-goldenen CDU-Bogen.
Seit Tagen schon sieht mich Mario Voigt an, jeden Morgen, wenn ich die Vorhänge beiseite ziehe und aus dem Fenster schaue, ist da Mario Voigt. Sein Blick folgt mir in meinem Alltag. Er ist dabei, wenn ich esse, die Topfpflanzen gieße und staubsauge, er schaut zu mir, wenn ich im Kaninchenstall lese, wenn ich erfahre, dass Montag der heißeste Tag auf Erden seit Aufzeichnungsbeginn war, ist dabei, wenn ich mich von den neusten Social-Media-Coups von Kamala Harris mitreißen lasse, wenn ich erstaunt entdecke, dass Mario Voigts’ Bildnis auch auf Rügen hängt, dort mit dem Spruch: »Am Meer ist’s echt schön. Nur in Thüringen ist‘s schöner. Genießen Sie den Urlaub. Am 1. September ist Zeit für den Wechsel.« An den Pfählen um ihn hängen die Bildnisse seiner Kolleginnen. Sie werben mit Anstand, Haltung, Chance, Mut, Blumenstrauß, gegen imperialistische Aggression. Die AfD hängt hier nicht, denn in diesen Teilen der Stadt hängt sie sich normalerweise nicht auf.
Bis zum 1. September wird Mario Voigt bei mir sein. In der Nacht wird er mir pragmatisch christdemokratische Träume zaubern, tagsüber mein freistaatliches Gewissen prüfen, mit seinen unternehmenskommunikationsgestärkten Cadenabbiaaugen zuversichtlich über meinen rechtschaffenden Bürgerkörper streicheln und mir versprechen, dass, obwohl so vieles hier schiefläuft, so vieles besser werden wird, wenn man sich nur für den Wechsel zur starken Mitte entscheiden würde. Dann wird die JU kommen und Mario Voigt mit sich nehmen, den Blick, das Türkis, die in Plakat gegossene Vitalität, Zuversicht und Freiheit.
(den Text gab es schon einmal 2017, damals mit den Augen von Carsten Schneider)
26. Juli | Eröffnung
In Frankreich heute zur Eröffnung der Olympischen Spiele Brandanschläge auf die Infrastruktur der Bahn. In Deutschland seit vielen Jahren schon neoliberale Anschläge auf die Bahn durch Verkehrsministerium und Bahnvorstand. Und: Die Eröffnungsfeier der Spiele durch so und so viele zehntausende Polizisten Soldatinnen Sondereinsatzkräfte gesichert, Minentaucher in der Seine, Scharfschützen auf Dächern, Drohnenabfangeinheit, der Luftraum über Paris im Umkreis von so und so viele Kilometer gesperrt, all das, weil ein Fest, bei dem die Welt hinschaut, eine Bühne ist, die gewaltsam in Beschlag genommen werden könnte.
27. Juli | unterschiedlich / gleich
In irgendeinem Kanal Szenen der Eröffnungsfeier von 2024 gegen eine Szene der Eröffnungsfeier von 2008 in Peking geschnitten; in Paris Menschen, unterschiedlich gekleidet, die sehr Unterschiedliches tun gegen eine sehr große Gruppe von gleichgekleideten Menschen, die im gleichen Rhythmus auf Trommeln schlagen. Dazu Diskussionen über die queere Inszenierung des Letzten Abendmahls Des Fests der Götter; Begeisterung, Freude, Lob, Wut, Diffamierung des christlichen Glaubens, auferzwungene Diversity einer Wokeagenda etc. Die südkoreanische Delegation wird als nordkoreanische Delegation vorgestellt.
28. Juli | vage Aussagen
Trump sagt: »You have to get out and vote. You won’t have to do it anymore. Four years, it will be fixed, it will be fine. You won’t have to vote anymore. In four years, you won’t have to vote again.« Trump sagt das in einem Kontext und dieser Kontext wird diskutiert bzw. nicht. Sagt er: Wenn er Präsident wird, schafft er freie Wahlen ab? Sagt er, dass er nach seinem Sieg das Wahlsystem so verändern wird, dass republikanische Mehrheiten leichter zustande kommen würden und eine höhere Wahlbeteiligung konservativer Christen nicht mehr nötig sein wird?
Ich lese den Begriff vage Aussagen, eine Darstellung, bewusst mehrdeutig gehalten, wobei die Adressaten der Aussage die Eindeutigkeit genau verständen. Die Kampagne von Kamala Harris versteht eindeutig, teilt die Aussage als Beleg für die Demokratiefeindlichkeit Trumps. Was untypisch zu sein scheint, weil, so eine Analyse der ersten Woche der dynamischen Harris-Strategie, die Kampagne eher davon absieht, Trump und seinen Vize als Untergang der Demokratie zu attackieren, sondern beide versucht, »weird« darzustellen, als seltsame, bizarre Erscheinungen.
Im Fall von J.D. Vance läuft das von selbst; ein Witz auf einer Wahlveranstaltung, über den niemand lacht, seine Aussage über Harris als kinderlose Katzenfrau, vor allem die Fakenews, er hätte Sex mit einem Sofa gehabt, so oft von Faktenchecks widerlegt, dass das Widerlegen das Gegenteil bewirkt. So haben Harris und Vance schon ihre eigenen Emojis; Kokosnuss / Palme und Sofa. Und es fühlt sich so an, dass zum ersten Mal seit Jahren in der nicht unwichtigen Arena der Memes die Alt-Right die unterlegene Seite ist.
Zwei Wochen ist das Attentat her, eine Woche der Eintritt Harris in den Wahlkampf. Irgendwo las ich, später einmal wird ein Gespräch unter Historikern der neueren amerikanischen Geschichte so ablaufen: »Mein Spezialgebiet ist der Juni 2024«, »Meins die dritte Juliwoche 2024«.
29. Juli | Mundwinkel
Ein Beispiel ist das Schreiben dieser Chronik, ein Beispiel, wie problematisch ist, auf Politik zu schauen. Der Blick eher auf die großen Sachen gerichtet, Persönlichkeiten, Geschehnisse mit Ereignischarakter, Shows, durchsetzt von Affekten, die mich zum fühlen bringen sollen, unterhalten. In den letzten Tagen viel zu viel von USA, obwohl mich das nur am Rande betreffen kann.
Dafür wäre es wichtiger, den Blick auf das zu richten, was die Dinge am Laufen hält bzw. oder eben gerade nicht. Was bedeutet es, wenn die Steuerklasse 3 & 5 abgeschafft werden? Was bedeuten denn diese Abfolge heißester Tage? Was bedeutet es, wenn Brasilien auf G20 eine Abgabe für die Überreiche vorschlägt und die FDP Deutschland sich dagegen ausspricht? Was bedeutet es, wenn in Berlin so und so viele Wohnungen in nächster Zeit aus der Sozialbindung herausfallen werden? Was bedeutet es, wenn die DB 30.000 Stellen streichen will, verbunden mit dem Vorschlag, weniger Strecken zu fahren? Was bedeutet es, wenn die Bauministerin der SPD vorschlägt, eben aufs Land zu ziehen, wenn die Mieten in der Stadt zu teuer sind? Bedeutet, wenn erwartet wird, dass in diesem Jahr noch weniger als angenommen Wohnungen gebaut werden? Wenn der CDU-Generalsekretär vorschlägt, manchen Bürgergeldempfängerinnen das komplette Bürgergeld zu streichen? Und was ist mit dem Regionalen, dem Lokalen; Umgehungsstraßen, Waldnutzung, Regionalbahn Suhl–>Erfurt?
Und, was sollte denn diese Chronik sein? Eine sture Aufzählung von Dingen, die passieren / angekündigt werden / über die gesprochen wird, einfach jeden Tag Listen erstellen, damit ich in fünf Jahren erinnern kann, »Ach ja, JD Vance und das Sofa«? Oder gehört zu jeder Erwähnung noch ein origineller Gedanke, zumindest ein Gedanke,wenigstens eine Bewertung? Und was ist denn dann mein Blick? Fachwissen kann es ja nicht sein. Sind es Beobachtungen? Was, wenn ich keine mache? Beobachte ich das Sprechen über Dynamiken? Welche Kanäle bevorzuge ich dabei?
Und überhaupt: Was, wenn ich das Politische überhaupt nicht politisch versuche zu begreifen, sondern, sagen wir mal, literarisch? Einen anderen, ungewöhnlichen Blickwinkel auf die alltägliche Flut von Begebenheiten, die im weitesten Sinn gesellschaftlich-politisch relevant sein könnten, so kleine Bonmots zur Erklärung des allgemeinen Verdrusses wie: »Lachen fällt schwer, weil man beim Hochziehen der Mundwinkel gegen die Schwerkraft arbeiten muss. Sie hängen zu lassen, kostet hingegen keine Kraft.«
30. Juli | it’s a match
»Wir werden uns nur an einer Landesregierung beteiligen, die auch bundespolitisch klar Position für Diplomatie und gegen Kriegsvorbereitung bezieht«, sagt Sahra Wagenknecht, deren Partei in Umfragen in Thüringen momentan bei 20 Prozent liegt.
»Deutschland war immer eine diplomatische Macht und das, was ich von einer Bundesregierung erwarte, ist, dass sie mehr diplomatische Initiativen startet, damit wir auch zu Lösungen kommen«, sagt Mario Voigt, dessen Partei in Umfragen in Thüringen momentan bei 22 Prozent liegt, am Rande einer Pressekonferenz in Erfurt.