Life-Life-Balance
1. Juni | Spinnennetzoperation
Die Ukraine lässt in auf Lastwagen Holzcontainern versteckte Drohnen auf russische Kampfflugzeuge fliegen, zerstört 40+, die ukrainische Dichterin Lina Kostenko schreibt: Es brennt und ich lache. Das ist einer der Unterschiede: ukrainische Drohnen fliegen auf Luftwaffenstützpunkte, russische Drohnen im Double Tap auf Spielplätze. Morgen neue »Verhandlungen« über eine Waffenruhe.
2. Juni | Polen

In Polen gewinnt der rechtsnationalistische Kandidat knapp die Wahl zum Präsidenten, der Kandidat der Liberalen hatte sich direkt zu Beginn der Auszählungen zum Sieger erklärt, und irgendwie hatte ich gehofft, dass sich 2025 doch auf ein anderes Gleis legen würde, dass angesichts der Weltlage Europa doch mit einer Stimme sprechen würde können, leider nicht.
3. Juni | Vorwegnahme der Hauptsache
Ein Gericht erklärt das Vorgehen der deutschen Bundesregierung, Asylbewerber an der deutschen Grenze zurückzuweisen, für rechtswidrig. Mautminister Verkehrsminister Innenminister Alexander Dobrindt erklärt, sich nicht an dieses Urteil zu halten, es sei nur eine Einzelfallentscheidung, er wolle auf das Hauptsacheverfahren warten, die, was ich aus einigen Einschätzungen von Juristinnen herauslese, es wahrscheinlich nie oder erst mit sehr großer Verspätung geben wird, da die ausführliche Begründung des Urteils wenig Zweifel daran lässt, dass es auch im großen Verfahren zu einem ähnlichen Urteil kommen wird, eine sogenannte »Vorwegnahme der Hauptsache«.
Ich lese also: Die deutsche Regierung setzt sich absichtsvoll in einer sehr wichtigen Frage über die Justiz hinweg, was in dieser Sache nicht so weit entfernt ist von dem, was MAGA tut, ein Stein im Fundament, der bricht, eigentlich ja das Fundament.
4. Juni | Das Rattern des Triggers Gewaltmonopolkritik
Die Vorsitzende der Grünen Jugend postet ein Selfie, in dem sie fragt, was Deutschland Julia Klöckner mehr triggert: ihr Pullover, auf dem in Anlehnung an das adidas-Logo ACAB steht. Oder ihre Kappe mit der Raupe Nimmersatt und Eat The Rich. Und dann bricht die Hölle los.
Ich war nie ein großer Freund von ACAB. Es ist sehr notwendig, die Institution des Staats, die ganz konkret ihre Gewalt gegen uns, die Bürger, richten kann, einer besonders kritischen Prüfung zu unterziehen, besonders streng zu schauen, auf welche Weise diese Gewalt ausgeübt wird und sicher ist dieser Spruch auch so zu verstehen, als grundsätzlicher Hinweis darauf, dass diese Gewalt eben etwas Grundsätzliches beinhaltet und das grundsätzlich zu hinterfragen ist.
Und es ist so, dass mich diese Gewalt auch vor anderer Gewalt beschützt und ohne die Möglichkeit dieser Gewalt vieles von dem, was ich für eine lebenswerte Umgebung notwendig halte, nicht existieren würde, eine Bekannte kommt aus Dortmund und engagiert sich dort gegen strukturelle polizeiliche Gewalt (#Mouhamed_Dramé) und ein alter Schulfreund arbeitet als Polizist nahe der polnischen Grenze und ist Teil der Struktur und ist alles, nur kein Bastard, sondern stabil und gewissenhaft und diese grundsätzlichen und anekdotischen Aufzählungen spulen sich gerade in meinem Kopf ab, während ich darüber nachdenke, ob sich das Grundsätzliche und das Individuelle nicht immer auch in einem nicht auflösbaren Gegensatz bewegen müssen.
Im Grunde geht es darum: Traue ich dem Staat, traue ich seinen Gewalten, vertraue ich darauf, dass er sein Gewaltmonopol verantwortungsvoll ausübt? Und selbst wenn dieses Vertrauen grundsätzlich da ist, muss ich das überprüfen und das ständig. Im Grunde geht es mir aber darum, dass ich ACAB als eine Art faden Reflex empfinde, ACAB reflexhaft auf Häuserwände zu sprayen, so wie man früher vielleicht mit Filzstift Sex auf Parkbänke kritzelte. Den eigentlich interessanten Vorgang, über den Widerspruch von Staat/Gewalt nachzudenken, machen diese drei Buchstaben nicht auf, ein Akronym, das eigentlich nichts mehr in sich trägt als die Funktion, etwas zu markieren.
Und diese Markierung klappt auch: Nicht mehr junge Grüne weisen die Grüne Jungend in Hinblick auf bevorstehende Landtagswahlen, in denen die »Mitte« abgeholt werden soll, scharf zurecht. Die entsprechenden Kolumnenschreiber arbeiten sich fast schon mitleidig an dieser Steilvorlage ab. Julia Klöckner, die wenig Probleme hat mit der Beschäftigung von Rechtsextremen im Bundestag, droht mit dem Entzug des Hausausweises. Die Junge Union fordert die Beobachtung der Grünen Jugend durch den Verfassungsschutz etc.
Es ist ein diskursives Elend. Weil Jette Nietzard mit ACAB ein Element in die Diskursmaschine einpflegt, das diese verlässlich zum Rattern bringt, indem es den Diskurs auf den bekannten Bahnen zielgerichtet an Themen vorbeilenkt, ohne etwas Neues hinzuzufügen. Es rattert: Links=Rechts, ungehörige Göre, pubertär, Angriff auf die gesamte Gesellschaft, Entgleisung, etc. und wie gern wir dieses Rattern hören, dieses Geräusch des Furors und der gerechten Empörung, ratterratterratter.
In der Schweiz zerstört die Gletscherschmelze ein Dorf und der Diskurs, den Jette Nietzard angeleihert hat, erregt sich über drei längst sinnentleerte Buchstaben. Wenn Jette Nietzard, die diskursiv so mehrmals kräftig danebengriff, wenigstens etwas Neues in den Diskurs getan. Wenn sie etwas nachgeschoben hätte. Wenn sie es den Kolumnisten und der JU wenigstens nicht gar so einfach gemacht hätte. Klar, sie weiß jetzt, wir wissen jetzt, was uns – Deutschland – die Mitte der Gesellschaft – triggert. Aber das wars dann auch schon. Wir sind getriggert.
Eat The Rich stand auf der Kappe. Wenn es uns wenigstens darum ginge!