Nach dem Shot Deutschland den Deutschen


1. Mai 2024 | Tag der Arbeit

Am Tag der Arbeit sprechen über die Arbeit. Ein Essay fragt: Sind die Deutschen einfach zu faul? Der Arbeitgeberpräsident fordert: Die Deutschen müssen mehr und länger arbeiten. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Deutschen im europäischen Vergleich (über 6 Stunden hinter Griechenland). Die hedonistische und angesichts des Fachkräftemangels vollkommen lebensferne Forderung der GenZ nach einer ausgeglichenen Work-Life-Balance. Steuerbefreiung für Überstunden, um die Arbeitnehmer zu mehr Überstunden anzuregen.

Aber auch: 700 Millionen unbezahlte Überstunden im vergangenen Jahr. 700 Millionen. Unbezahlt. Hohe Fehl- und Krankenzeiten, die sich auch auf hohe Arbeitsbelastung zurückführen lassen. Entwicklung des Lohns im Vergleich zu Entwicklung Vermögen.

Wir können sagen: Arbeitergeber / Arbeitnehmer. Wir können auch sagen: Arbeitskraftnehmer / Arbeitskraftgeber.

2. Mai 2024 | Anfang Mai

Ron DeSantis unterzeichnet ein Verbot von im Labor gezüchtetem Fleisch in Florida, weil Eliten es durchsetzen würden. Trump erläutert im TIMES-Interview seinen militärischen Plan, 15 bis 20 Millionen Menschen zu deportieren. An der Columbia Universität in New York teilen einige propalästinensische Demonstranten Juden in gute und schlechte Juden ein, später stürmen räumen befrieden bekriegen Polizisten den Campus.

3. Mai 2024 | Frat

Pro-Palästina-Demonstration an der Universität Mississippi. Den 30 mit »Stop the Genocide«-Schildern stellen sich mehrere hundert Southern frat boys entgegen, gehüllt in Amerikaflaggen, mit Trump-Schildern, MAGA-Caps, brüllen die anderen nieder, Lock them Up, Your Nose is huge, Hit The Showers, Blutlust in den Gesichtern, sie würden auch lynchen, wenn man sie ließe.

4. Mai 2024 | einer der Gründe

In Dresden wird der Spitzenkandidat der sächsischen Sozialdemokraten für die kommende Europawahl beim Plakataufhängen so zusammengeschlagen, dass er notoperiert werden muss. Die Tage davor die Übergriffe in Essen, Lunow-Stolzenhagen, Zwickau. Am Donnerstag bei einer Podiumsdiskussion: Gründe, weshalb sich 1920er Jahre nicht so ohne Weiteres auf die Gegenwart übertragen lassen können. Einer der Gründe: Die Gewalt, die damals auf die Straße getragen wurde.

5. Mai 2024 | Kicherkanzler, Dämonenkanzlerkandidat

Kicherkanzler als Beschreibung einiger für Olaf Scholz, weil er bei einem Bürgerdialog in einer Art Rollenspiel imitiert und sagt: »Natürlich traue ich meinen Freunden. Trotzdem würde ich nicht jedem alle Waffen geben«. Dann lacht er kurz los, wie damals, als er vom Umstieg von Elektro- auf Gasofen sprach.

Kanzlerkandidat mit Dämonen als Beschreibung in einer Titelgeschichte über Friedrich Merz. Darin werden mit großer Lust Szenen aufgeführt, die ihn jähzornig, wehleidig, unkontrolliert, aggressiv erscheinen lassen.

Aktueller Kanzler, baldiger Kanzler, ihre öffentliche Wahrnehmung.

7. Mai 2024 | normalität

Putin ordnet Übungen mit taktischen Atomwaffen nahe der ukrainischen Grenze an. Die mögliche republikanische Vizepräsidentinkandidatin Kristi Noem spricht sich für das Töten von Hunden aus.

8. Mai 2024 | Erfindungen

»Unsere #Klima-Politik ist das Gegenteil von dem, was die #Grünen wollen und tun. Wir wollen nicht dirigieren und bevormunden, sondern gute Rahmenbedingungen schaffen und Ziele formulieren, aber es dann Ingenieuren und Erfindern überlassen, wie wir diese Ziele erreichen.« tweetet Team Friedrich Merz.

Dann könnte hier etwas von Erfindungen stehen, die Ingenieure schon mal gemacht haben, z.B. Solarpanels, Windräder, Batteriespeicher, Elektroautos, Wärmepumpen. Und den Tweet als Hilfe lesen, um das Denken dahinter besser zu verstehen: Ein Warten auf die eine Erfindung, mit der man nichts ändern muss, damit alles so bleibt, wie man es gewohnt ist.

9. Mai 2024 | Überschreiben

In Malmö protestiert Greta Thunberg zusammen mit anderen gegen die Teilnahme Israels am Eurovision Song Contest. Wie eine Person der Zeitgeschichte ihr Bild innerhalb weniger Monate umschreibt und neu definiert.

10. Mai 2024 | Wurm

Robert F. Kennedy Jr., parteiloser Kandidat für die amerikanische Präsidentenwahl, berichtet von einem Wurm, »der in mein Gehirn eingedrungen war, einen Teil davon gefressen hatte und dann starb.«

11. Mai 2024 | absurd

Nächste Islamistendemo in Hamburg. Nach mehreren Auflagen tragen die über 2000 Demonstrierenden auf den Schildern, auf denen davor »Kalifat ist die Lösung« stand, nun »Censored«. Demonstriert werden darf auch, weil Sympathiebekundungen für ein Kalifat in Deutschland als »absurd« eingestuft werden und das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, dass absurde Meinungen als Teil des geistigen Meinungskampfes ertragen werden müssen.

12. Mai 2024 | schwarze Regenschirme

Die Bilder des Aufmarschs der Neonazis in Paris, das Schwarz, die weißen Symbole auf schwarzen Flaggen, das Feuer, die Fackeln, die schwarzen Regenschirme, mit denen die Nazis den Marsch vor den Blicken von außen abschirmen wollen, wie sie die Spitzen in Objektive rammen wollen.

13. Mai 2024 | vier Jahre montags

Seit vier Jahren ist der Montag der Weimarer Theaterplatz stets für die Spaziergänger reserviert. An diesem 13. Mai nicht. Da wird neben dem Denkmal alerta alerta gerufen. Eigentlich ist es entspannt – auch am Abend noch 25° – und trotzdem ein unbehagliches Gefühl der Belagerung, außerhalb des Platzes, dieses geschützten Raums. Die Veranstalter weisen zwischen den Redebeiträgen auf die Situationen hin; wir werden gefilmt / fotografiert / beobachtet von außen, jemand sucht Stress, wird gerade von der Polizei festgesetzt, seid vorsichtig, wenn ihr von der Demo nach Hause geht, gebt acht, dort am Goethekaufhaus sind ein paar Faschokids auf Stunk aus.

Auf dem Rückweg die Spaziergänger kreuzen. Mit ihren Trommeln und Flaggen marschieren sie über den Pflasterstein Richtung Herderplatz, umkreisen einmal den Theaterplatz. Vor dem Schwarzbierhaus, von den Pizzerien sitzen entspannt die Touristen – auch am Abend noch 25° – und lassen die Demonstrationszüge beim Aperol vorbeiziehen: alles nebeneinander, alles im Zentrum, braun, gold, rollende Demo, Russlandfahre, Pridefahne, Urlaubsfeeling, Aufmarschfeeling, Montagsfeeling in Weimar.  

Außerdem: In Münster beschließt das Gericht, dass der Verfassungsschutz die AfD weiter beobachten darf. In Schnellroda wird das »Institut für Staatspolitik« aufgelöst, um möglichen Durchsuchungen und Verboten zuvorzukommen. In Halle werfen Unbekannte einen Brandsatz und Steine auf das Haus eines AfD-Stadtratsmitglieds.

14. Mai 2024 | Gewaltstatistiken

Weiterhin Diskussion über Statistiken. Ein Ringen darum: Die Politikerinnen welcher Partei wurden am öftesten tätlich angegriffen? Eine erste, oft zitierte Statistik, nach der Politikerinnen der Grünen fast drei Mal so viel Gewalt erfuhren wie die der zweitplatzierten AfD.

Nachdem BILD, Nius und andere üblicherweise um Differenzierung bemühte Kanäle um Differenzierung bitten, wird die Statistik aufgeschlüsselt in: Gewaltdelikte (AfD vorn), Äußerungsdelikte (Grüne vorn). Damit einher der Vorwurf, Mainstreammedien verfälschten, die vermeintlichen Täter (AfD) in Wahrheit die eigentlichen Opfer. Und umgekehrt. Seither wird mehrheitlich die zweite Statistik in Verbindung mit der aktuellen Diskussion um Gewalt gegen Politikerinnen gebracht.

Weiter wird hingewiesen darauf, wie die Zahlen der Statistik zustande kommen. Jede Anzeige wird ohne Prüfung zur absoluten Zahl, z.B. jedes AfD-Kantholz, jeder Polizist, der auf einer AfD-Demonstration von Gegendemonstranten geschubst wird, ist ein Gewaltdelikt gegen die AfD.

Wer anzeigt, erhöht die Zahl. Und die Zahl wird zu Zahlen wird zur Statistik wird zum Beweis wird zum Beweis für die Voreingenommenheit wird am Ende alles eins, am Ende ist alles differenziert und jeder ist Täter und jeder ist Opfer, absolut und aufgeschlüsselt, Vorwurf, Gegenvorwurf, Gegengegenvorwurfwurf und irgendjemand zitiert Churchill falsch.

15. Mai 2024 | Handlová

In Handlová schießt ein Schriftsteller auf den slowenischen Premierminister und verletzt diesen schwer. Björn Höcke wird wegen der Verwendung einer Losung der SA zu 100 Tagessätzen a 130€ verurteilt und gilt, sollte das Urteil rechtskräftig werden, damit als vorbestraft.

16. Mai 2024 | Deutungshoheit

Kampf um die Deutungshoheit, ob der »Hobby-Dichter«, der den slowakischen Präsidenten angeschossen hat, links- oder rechtsmotiviert war.

17. Mai 2024 | Trivialisierung

Björn Höcke kündigt an, Cathy Hummels, die Ex-Frau von Fußballspieler Mats Hummels verklagen zu wollen, weil sie im Rahmen einer Werbepartnerschaft in einer Instagramstory unter das Bild eines Fußballs schrieb: Zitat »Das wird ein grandioses Erlebnis. Alles für Deutschland!« Zitatende eines Theaterstücks.

18. Mai 2024 | Weil der Bürger Frust hat

Juli Zeh sagt in einem Interview:

»Ja, daran, dass sich diese Form von Angriffen gegen so verschiedene Leute richtet, auch gegen Politiker verschiedener Parteien, sieht man schon, dass das Frustabbau ist. […] Was man schon zur Kenntnis nehmen muss, ist, dass den Leuten in den letzten zehn Jahren wirklich viel zugemutet worden ist. Und damit meine ich nicht nur Corona, sondern ich meine auch, dass wir im Land wahnsinnig viele Baustellen haben, die in die existentiellen Lebensbereiche rein regieren: Krankenhäuser, Schulen, öffentlicher Nahverkehr, Renten, Pflege […] Da ist so ein krasser Handlungsbedarf und da passiert so wenig, dass Menschen auch nicht ganz zu Unrecht das Gefühl haben, dass Politik zunehmend am Bürger vorbei gemacht wird […]«

Und der Bürger, von dem Juli Zeh spricht, dieser Bürger bin ich. Und als dieser Bürger sehe ich die Baustellen und ich sehe den Handlungsbedarf und ich sehe die existentiellen Lebensbereiche. Als dieser Bürger will ich einen guten Nahverkehr und du bist ein Bürger und du wohnst auf dem Land und du sagst »Warum soll ich als jemand, der keinen Nahverkehr benutzt, mit meinen Steuern das 49-Euro-Ticket finanzieren« und du bist ein Bürger, der nur Auto fährt und du sagst, »Anstatt eines Mitternachtsbus will ich lieber eine sechste Spur auf der Autobahn«. Und ich bin ein Bürger, der gute Schulen will, in denen gut Lesen und Schreiben gelehrt wird und ich will, dass dort die Fassade nicht bröckelt und die Toilettenräume benutzbar sind und Lehrer nicht während der Sommerferien entlassen werden müssen und das kostet Geld und ich bin ein Bürger, der die Schuldenbremse möchte und du bist eine Bürgerin, die sagt, das Geld dafür nehmen wir vom Bürgergeld und du bist ein Bürger, das Geld soll von einer höheren Erbschaftssteuer kommen und deshalb wählst du. Und ich bin ein Bürger, der ein gutes Gesundheitssystem möchte und du bist ein Bürger, der Privatpatient ist und du bist eine Bürgerin, deren Mutter Apothekerin ist und du bist eine Bürgerin, deren Mutter chronisch krank ist.

Der Bürger bist du, der Bürger bin ich und 83 Millionen sind es auch und der Bürger ist ein Ideal, der Bürger ist das gute Gegenstück zu Politikern, der Bürger ist rhetorisches Mittel, der Bürger ist Schlagwort, der Bürger ist Symbol, der Bürger nimmt eine Funktion ein im Sprechen von Juli Zeh, der Bürger ist eins, der Bürger ist alles, was die da oben nicht sind und weil der Bürger Frust hat, darf der Bürger auch seinen Frust abbauen, indem er schlägt, abreißt, rotzt.

19. Mai 2024 | Ursache / Wirkung / Problem ilustriert

In dieser Woche: entscheidet ein Gericht, dass das Klimaschutzprogramm der Regierung methodische Mängel habe und auf unrealistischen Annahmen basiere und deshalb dringend nachgeschärft werden muss.

Einen Tag später beschließt die Regierung das entschärfte Klimaschutzgebiet, nach dem der Ausstoß von Treibhausgasen insgesamt und nicht mehr wie bisher nach einzelnen Sektoren betrachtet werden soll.

Einen Tag später reist der Kanzler ins Saarland, was wegen Extremwetter überschwemmt ist und verspricht den Opfern Unterstützung.

20. Mai 2024 | Helikopter

Nebel in den Bergen Ost-Aserbaidschans. Ein Hubschrauber verliert die Kontrolle, prallt gegen ein Felsenmassiv, stürzt ab. Im Helikopter Irans Präsident Ebrahim Raisi. Im Radio höre ich diese Meldung. Dazu wird der Präsident kurz einordnet, der Begriff Hardliner fällt, Bezug genommen wird auf die Proteste von 2022. Jina Mahsa Aminis Name wird genannt und ich denke, so sollte es sein: Jedes Mal, wenn man Raisis Name nennt, sollte man auch Jina Mahsa Aminis Namen nennen, den Namen jeder Frau und jedes Kindes und jedes Mannes, deren Tode er zu verantworten hat.

21. Mai 2024 | aus Versehen Reich

Kann mal passieren: auf Donald Trumps Truth-Social-Account ein Video zu posten, in dem im Fall eines Wahlsieges ein »unified Reich« in Aussicht gestellt wird.

22. Mai 2024 | Ermüdung

Maximilian Krah sagt, »Ich werde nie sagen, dass jeder, der eine SS-Uniform trug, automatisch ein Verbrecher war.« Zu seiner Verteidigung wird gesagt, man müsse auch differenzieren, man müsse den Kontext kennen, die Antwort wäre eine auf eine Frage, die aus der Antwort einer anderen Frage resultiert. Und deshalb müsse nun differenziert werden bei der SS, darüber spricht man, die Differenzierung der SS, von allen Themen der Welt spricht der Spitzenkandidat für Europa differenziert über die SS.

Ich lese momentan »Deutschland der Extreme«, das die politische Geschichte Thüringens (und damit auch des wiedervereinigten Deutschlands) erzählt. 35 Jahre, im Zeitraffer rauschen die Themen vorbei; Wende, Arbeitslosigkeit, Transformation, Hartz IV, Finanzkrise etc. Was auffällt, dass ab 2014 die Form eines Themas in die Themen mit neuen Begrifflichkeiten drängt, deren Nennung allein schon genügt zum Verstehen, die Codierung ist offen; 180°Wende, Fliegenschiss, Wir werden sie jagen, Kopftuchmädchen etc. Das Rechtsextreme war in diesen 35 Jahren immer dabei; Solingen, Baseballschlägerjahre, Wehrmachtausstellung, NSU etc. Doch vor zehn Jahren fühlt es sich im Zeitraffer an, es verlöre sich das Schmuddelige, als bekäme es etwas Bürgerliches, wäre seitdem Teil des Diskurses, man spricht mit den Begriffsurheberinnen, über sie, vor allem ihre Themen, die sind Teil des Sprechens, sind legitime Argumente in einer Pro/Contra-Arena, Teil eines rhetorischen Spiels.

Es war einer der Gründe, diese Chronik zu beginnen, um eine solche Verschiebung festzuhalten, diese vielen kleinen Punkte, die man so schnell aus den Augen verliert, weil sie ständig auftauchen. So, wie der gestrige Eintrag über den Begriff »Reich«, der sich in den amerikanischen Wahlkampf schiebt, einfach so passiert, die Vorstellung, wie die USA aussehen sollte, ein Reich sein. Unerträglich und dennoch ermüdend vielzählig und kleinteilig, Perle in einer jahrelang gefertigten Perlenkette. Gestern hätte ich noch drei ähnliche Eintragungen auswählen können.

Das habe ich nicht gemacht, auch sonst nicht, um einer Ermüdung vorzubeugen. Die Ermüdung macht es schwer, auch in der Chronik fällt es schwer, immer wieder zurückzutreten und zu schauen, an welchen Punkten wir sind wir waren heute im Mai 2024, wo wie im Januar, 2019, 1990.

23. Mai 2024 | Grundgesetz

75 Jahre Grundgesetz, die Plakate zur Feier hängen bei der Unterführung, in dessen Gang das Gurren der Tauben im Echo des Tunnels wie das Knattern einer Soundschleife eines Serienkillerfilms klingt. Der sächsische Ministerpräsident sagt: »Im Grundgesetz stehen keine Brandmauern«, der thüringische Ministerpräsident schlägt vor, das Grundgesetz per Volksabstimmung in Verfassung umzubenennen. Weil 75 Jahre Grundgesetz heißt auch 34 Jahre Grundgesetz.

23. Mai 2024 | ausschluss nicht ausschluss

Die Rechts-außen-Fraktion im Europäischen Parlament, Identität und Demokratie (ID), schließt die AfD aus der Fraktion aus. Ursula von der Leyen schließt eine Kooperation mit der rechtskonservativen EKR-Fraktion nicht aus, um politische Kräfte für die Mehrheit in der Mitte gewinnen zu können.

25. Mai 2024 | riche Edgelords, die auf Sylt hitlern

2013 lebte ich ein bisschen auf Sylt, in einer Mineralwasseroase bei Rantum. Damals besaß ich 150€ und beschloss, damit in das Pony in Kampen zu gehen.

11 Jahre später taucht ein Video auf, dass prototypische Rich Kids (Pullover über Schulter etc.) beim Feiern in der Pony-Bar zeigt. Der DJ spielt Gigi D’Agostinos L’amour toujours, die Kids (bzw. weniger verniedlichend die Erwachsenen) singen auf die Melodie »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!«, einer zeigt den Hitlergruß, befingert die Nase zum Bart.

Das Video wird seither besprochen, selbst der Kanzler, selbst Friedrich Merz verurteilen. Wir, die deutsche Öffentlichkeit, lernen seit vorgestern zwei Dinge anhand des Videos: Man muss keine Glatzen haben, Bomberjacke tragen, aus dem Osten kommen, Baseballschläger mit sich führen, um Rechtsextremes zu skandieren. Das können auch die Reichen, die Schönen, die Privilegierten.

Und wir lernen, dass es so etwas wie rechtsextreme Memes gibt. Auf L’amour toujours wird schon länger »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!« gesungen, auf Dorffesten, in Vorpommern, auf TikTok ist das ein eigenes Genre. L’amour toujours, über das Gigi D’Agostinos sagt » In meinem Lied geht es um ein wunderbares, großes und intensives Gefühl, das die Menschen verbindet. Es ist die Liebe«, ist längst rechte Hymne.

Das wird uns in diesen Tagen bewusst und danach können wir nie mehr L’amour toujours hören, ohne Deutschland den Deutschen mitzuhören, Ausländer raus mitzudenken. Es braucht keine Worte mehr, der Beat allein reicht, damit wir verstehen, was damit gemeint ist oder sein könnte und weil es sein könnte, ist auch immer so zukünftig, so, wie wir in diesem Jahr auch den Schlumpf neu denken lernen mussten.

Und wir fragen uns, wie schlimm das ist, ob L’amour toujours nur Mutprobe ist, ein besoffener Spaß von Leuten, die krass sein wollen auf dem Dorffest oder in Bars, zu denen der Eintritt 150€ kostet, provokante Edgelords, die als Studentinnen gerade die Immobilien ihrer badischen Väter bewohnen und über Pfingsten eine gute Zeit haben wollen und deshalb über den Hindenburgdamm fahren und sie legen Pullover über ihre Schultern und singen nach dem Shot eben Deutschland den Deutschen, so wie ihre Eltern vor dreißig Jahren Hölle Hölle Hölle sangen, Ballermanngänsehautpur, hitlern auf Sylt, Zeitgeist ziehen, am Puls der Gegenwart, edgy, werden sie selbst zum Meme.

26. Mai 2024 | Blumenwerfen zur Kommunalwahl

Zum zweiten Mal fahren wir raus, um Blumen werfen zu lassen und über Wut zu sprechen. In Pößneck erst, dann auf einem Schloss. Um Sauberkeit geht es, russlandfeindliche Propaganda, Rassismus, Mindestlohn, private Wut, mit einem Landrat sprechen wir, einem Obdachlosen. Die letzten beiden Jahre im Zeitraffer. Nach 19.00 Uhr rufen wir die Ergebnisse der Kommunalwahl auf. Der Tenor ist: Kein Durchmarsch der AfD. Die Zahlen bestätigen das. Nur ein gutes Viertel oder örtlich mehr dafür, großes Glück, die Demokratie, das kommunale Thüringen ist gerettet. Das ist Wahl, das ist das Normal, ein Viertel als Erfolg zu feiern.

27. Mai 2024 | Ohrwurm Sylt 2

Weiterhin L’amour toujours. Gefühlt mit jedem kann ich darüber sprechen, jeder hat das Video gesehen, davon gehört, eine Meinung. Bei Lanz, Verbot auf Oktoberfest, wegen der Verbote von Cancel Cultrue sprechen, in den iTunes-Charts nach vorne gehen etc. Ein Ereignis, das alles durchdringt.

Auch der Versuch der Umdeutung: Anstatt »Ausländer raus, Ausländer raus, Deutschland den Deutschen, Ausländer raus« kursiert ein Video aus Berlin, in dem junge, feiernde Erwachsene singen: »Nazis raus, Nazis raus, Deutschland ist multi, Nazis raus«. Damit versuchen sie dem Lied die Bedeutung streitig machen. Wenn die ersten Beats von L’amour toujours erklingen, nicht wissen, ob die Umstehenden Ausländer oder Nazi singen. Das politische Jahr 2024 erweitert sich in die Partyzone.

Und eine möglicherweise nicht notwendige Stilkritik: Ausländer raus geht leichter ins Ohr als Nazis raus, der Silben wegen, bleibt besser hängen, ist einfacher mitzusingen, ist der effektivere Ohrwurm. Was notwendige Metapher ist.

28. Mai 2024 | wäre das Film, würde jeder sagen: zu absurd, zu unrealistisch

Durchsucht wird die Wohnung von Petr Bystron, Listenplatz 2 der AfD für Europa, dem vorgeworfen wird, Geld genommen zu haben, um im Sinne Moskaus im Bundestag zu sprechen und zu handeln. Doch die Wohnung ist nur eine Scheinadresse, bewohnt wird sie von einem vorbestraften Geflüchteten.

29. Mai 2024 | Stein

Bei einem Angriff auf die Einrichtung der Lebenshilfe in Mönchengladbach, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung, wird ein Stein geworfen, darauf geschrieben: »Euthanasie ist die Lösung«.

30. Mai 2024 | Gebräu

Eine Bekannte will für eine Feier Getränke in einem nahegelegenen Getränkemarkt auf einem Dorf im Weimarer Land ordern. Das Vorgespräch ist nett, die Auswahl an Getränken groß, das Angebot gut, der Ablauf wäre komfortabel. Im hinteren Teil des Markts entdeckt sie Deutsches Reichsbräu, auf dem Etikett der leicht verfremdete Reichsadler. Sie fragt sich, wie sie reagieren soll. Reichsbräu wird von einem Südthüringer hergestellt, einem Neonazi, der zahlreiche Immobilien aufgekauft hat, der Zentrum ist eines rechtsextremen Netzwerks, der den Kasten Reichsbräu für 18,88€ verkauft und gerade bei der Kommunalwahl in eine Stichwahl gelangt ist. Wer Reichsbräu in seinem Getränkemarkt verkauft, muss das bei diesem Neonazi geordert haben. Aus Überzeugung? Aus kommerziellen Gründen, weil die Kunden das so verlangen? Wie reagieren? Den Auftrag annehmen und kein zweites Mal dort bestellen? Den Getränkemarktbesitzer danach fragen? Wortlos den Auftrag stornieren?

31. Mai 2024 | 34,  Mannheim

Donald Trump wird in allen 34 Anklagepunkten schuldig gesprochen und ist damit strafrechtlich verurteilt. In Mannheim sticht ein Islamist mehrere Menschen nieder und verletzt sie schwer. Wenn man das Video sieht, wie schnell das geht, das Messer gestochen in Menschen. Ein langer Anlauf davor, der Täter vor zehn Jahren aus Afghanistan nach Deutschland gekommen, eines der Opfer seit vielen Jahren islamophob unterwegs, in Mannheim entscheiden Sekunden, wie der Hals gedreht und wo das Messer trifft und wer sich auf wen wirft, welche Arterie getroffen wird, ein Alptraum in Sekunden und ein Polizist ringt mit dem Tod.


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